Nur lesen, wenn Sie Spaß an verbalen Schlagabtäuschen haben! Diese Serie ist äußerst dialoglastig und sehr aktionsarm. Im Grunde enfaltet sich hier das Psychogramm einer traumatisierten Frau, nichts weiter. In kurzen Cameos schauen beliebte Figuren aus dem Marvel-Universum vorbei (und fliegen auch mal durch die Luft), ansonsten gibt es nur Gequatsche.
JESSICA JONES, der Comic, heißt im Englischen überhaupt nicht JESSICA JONES, sondern ALIAS.
Unter diesem Titel lief die Serie 28 Hefte lang von 2001 bis 2003 und war die Premiere für das Marvel-Erwachsenen-Label MAX. Marvel sagte damit dem Comics Code auf Wiedersehen und eröffnete seine Serie mit dem programmatischen Ausruf „Fuck!“ – bis dahin unerhört im Marvel-Universum.
(Dennoch benutzen wir im Folgenden den inzwischen gebräuchlicheren Titel; eine Listung weiterer MAX-Reihen siehe HIER.)
Das ordinäre „Fuck“ kommt allerdings nicht aus Jessicas Mund, sondern dem eines ihrer Klienten, eines Ehemanns, der gerade realisiert, dass seine Frau ihn betrügt.
„These things rarely end well“, kommentiert Jessica lakonisch. Solche Angelegenheiten gehen selten gut aus – damit setzt Autor Brian Michael Bendis den Ton für die ganze Reihe.
Die beiden ersten Seiten des Comics zeigen nicht nur der verhassten Code-Authority den Stinkefinger, sondern etablieren Genre und Protagonistin: Die private Ermittlerin Jessica Jones schlägt sich mit routinehaften Kleinaufträgen durchs Leben.
Die Welt ist düster in JESSICA JONES und unsere Hauptfigur ist eine gebrochene Frau. Warum dem so ist, entfaltet sich jedoch nur langsam, was mich ein wenig irritiert hat. Denn im Auftakt der Serie wird nicht nur geflucht, es fliegen auch Fäuste, Jessica betrinkt sich und steigt im Suff mit Luke Cage ins Bett. Hossa!
Darauf aber verweilen wir nicht, sondern bekommen einen neuen Fall präsentiert: Eine Frau sucht nach ihrer vermissten Schwester, was sich jedoch als Falle für Jessica entpuppt. Bei der Überwachung der Schwester gelingt ihr eine Filmaufnahme von Captain America (und zwar mit und ohne Maske!). Der brisante Clip könnte sie reich machen, wenn sie ihn an die Medien verscherbelt oder die Avengers erpresst, der Clip kann lebensgefährlich sein, wenn er in die falschen Hände fällt und für eine Unterminierung der Regierung eingesetzt wird.
Ich will nicht mehr verraten, aber der erste Handlungsbogen gerät zum tödlichen Verschwörungsthriller, der neben Jessica auch die Figuren Steve Rogers, Carol Danvers, Scott Lang und Matt Murdock einführt.
Die Glanzleistung des Autoren Bendis ist in meinen Augen die fein geschilderte Paranoia, die von Jessica Besitz ergreift: Wem kann sie noch vertrauen, was kann sie überhaupt tun, ohne fatale Fehler zu begehen? Ausgequetscht und belästigt von schmierigen Cops und konfrontiert mit ihrer stressigen Avengers-Vergangenheit, stolpert Jessica durch ihr kompliziertes Leben und erhält am Schluss doch tröstliche Hilfe von Freunden.
Der nächste Fall kommt deutlich unterspannter daher: Jane ist ihr Verlobter Rick davongelaufen. Der aber ist leicht aufzutreiben, entpuppt sich jedoch als ehemaliger Sidekick von Captain America. Oder ist der Mann ein Hochstapler, ein Doppelgänger, der sein langweiliges Leben mit Superhelden-Glamour aufpeppen will?
Jessica gerät in einen Strudel aus Bewunderung und Verachtung für diesen Vogel – und reflektiert ihr eigenes Ex-Superdasein.
Das Happy End dieses Auftrags, Jane ist wieder vereint mit Rick, lässt die Interpretation zu, dass Superhelden womöglich bipolare Persönlichkeiten sind: Heute sitzen sie relaxt mit dem Partner auf der Bank, morgen ziehen sie in den Krieg gegen die Skrull.
Intermezzo: Interessantes Artwork
Zeichner Michael Gaydos verwendet einen fluiden, skizzenhaften, tuschebetonten Stil, der mich stark (fast zum Verwechseln) an den „Ed-Brubaker-Zeichner“ Sean Phillips erinnert. Beide arbeiten in einem abstrakten Realismus, so widersprüchlich das ist: wenige Striche für die Gesichter ihrer Figuren, noch weniger für ihre Outfits und die Hintergründe – dennoch verleihen sie ihren Charakteren physische Präsenz und dynamischen Auftritt.
Das wirkt oft flüchtig und wie von leichter Hand hingeworfen, transportiert die Geschichte aber hervorragend und lässt (bei mir) keine Wünsche nach mehr Ausarbeitung aufkommen.
Wiederkehrendes Stilmittel (fast ein Ritual) ist die „Vorstellungs-Doppelseite“. Unterhält sich Jessica zum ersten Mal mit einem neuen Klienten, gestaltet Gaydos die Szene als Kamerazoom (bei gleichzeitigem Verharren Jessicas). Schwer zu erklären, ich zeige es:
Ganz oben links erfassen wir den Raum: In einem Wohnzimmer haben sich Jessica und zwei Frauen zum Gespräch niedergesetzt. Mutter und Tochter berichten vom Verschwinden der minderjährigen Enkelin Rebecca.
Die obere Bildreihe mit den sechs kleinen Panels zeigt Jessica in unveränderter Pose. Das signalisiert Aufmerksamkeit und konzentriertes Zuhören, unterbrochen im fünften Bild durch eine knappe, sachliche Nachfrage („Lebt Ihr Mann noch bei Ihnen?“). Jessica verharrt als Informationen aufnehmender Ermittlungsprofi.
Die untere Bildreihe zoomt Panel für Panel auf die erzählende Person heran. Das stellt nicht nur ihre Erzählung in den Vordergrund, sondern intensiviert auch unser Mitgefühl für die Sorgen dieser Mutter. Im Zuhören kommen wir dieser Figur wortwörtlich nahe – und Jessica baut eine Bindung zu ihr (oder zumindest zu ihren Informationen) auf.
Dieses Stilmittel funktioniert so gut (und ist so simpel), dass ich mich verblüfft frage, weshalb Comics nicht öfter damit arbeiten. Sie sahen es zuerst bei … JESSICA JONES. 😉
Also ein Hoch auf Michael Gaydos (das hat er Sean Phillips voraus).
Weiter im Programm
Der angesprochene Fall um den vermissten Teenager Rebecca treibt Jessica Jones ins provinzielle Umland von New York. Die Provinz ist auch die Folie für den kleinkarierten Hass der Landbewohner auf alle „Supertypen“.
Rebecca hat in der Schule behauptet, Superfähigkeiten zu besitzen, woraufhin sie gemobbt wurde. Jessica stößt in ein Wespennest aus dumpfen Vorurteilen und stumpfer Ablehnung gegenüber allem Nicht-Normativen.
Dieser Plot kommt mir vor, als hätte er auch eine X-MEN-Storyline sein können (Hass auf Mutanten) und ich finde ihn ein wenig plump. Na gut, nennen wir es eine
„X-MEN-Variation“ ohne „freakige“ Ausprägungen.
Der Fall übrigens löst sich in Wohlgefallen auf, denn Rebecca ist tatsächlich keinem Verbrechen zum Opfer gefallen, sondern nur ausgerissen und der miefigen Provinz entflohen, auch hat sie eine lesbische Beziehung angefangen.
Folgende Abbildung: Jessica entdeckt Rebecca und ihre Freundin in einem Club und schleppt sie dort raus, um sie zu ihrer Mutter zu bringen.
Plakativer Handlungsbogen also, vor 20 Jahren war das Einflechten der Homosexualität wahrscheinlich ein „Aha-Moment“, heute wirkt diese Story doch leicht angestaubt und zum Glück überholt.
(Privat zofft sich Jessica derweil weiter mit Luke Cage und beginnt, Scott Lang zu daten.)
In den folgenden Heften trifft Jessica auf J. Jonah Jameson, der hier nicht Spider-Man, sondern Spider-Woman unter seine Fittiche genommen hat: Mattie Franklin ist entführt worden und in die Hände eines Drogenkartells gefallen. Finsterlinge beuten die betäubte Frau aus (sie zapfen ihr wirkmächtiges Genmaterial ab), Jessica begibt sich in Gefahr und nur mit Hilfe der vorigen Spider-Woman (Jessica Drew) gelingt es ihr, den Drogenring zu zerschlagen und Mattie zu retten.
Düstere Episode mit psychedelischen Anklängen und unangenehmer Atmosphäre. Jameson hat einen ungebührlich aggressiven Auftritt, die Dealer sind wirklich fies, das Ambiente der Handlungsorte ist bedrückend, klebrig und erbärmlich. Interessant und erfrischend ist allerdings das Zusammenspiel der beiden Jessicas, die sich als „crime fighting duo“ gut ergänzen und nette Dialoge führen:
Und was läuft im Fernsehen?
Bekannter als der Comic ist mittlerweile wahrscheinlich die Netflix-Serie JESSICA JONES, die sich Figuren und Motiven aus dem Comic bedient. Die hängt sich an den Handlungsbogen um den manipulativen Kilgrave, der im Comic übrigens „Killgrave“ geschrieben wird und erst in den letzen fünf der 28 Hefte auftaucht.
Ich hatte zu JESSICA JONES gegriffen, weil ich Gutes gehört hatte – sowohl zum Comic wie auch zur Serie. Es ist in der Tat ein guter Comic, auch wenn sich der Eindruck einschleicht, dass diese Serie vor 20 Jahren garantiert besser funktioniert hat.
Gut, die Brechung und Bespiegelung von Superhelden hat WATCHMEN schon 1986 eingeleitet, aber Bendis und Gaydos ziehen die Sache jetzt runter auf die Alltagsebene und widmen sich intensiv der allzumenschlichen Probleme – exemplifiziert auch noch an einer Frau!
Schwierigkeiten im Beruf, Belästigung wegen der Supervergangenheit, eine sperrige Persönlichkeit mit Affinität zu Drogen, Beziehungsunfähigkeit. Eine Menge Probleme werden auf Jessica Jones abgeladen, vielleicht ein bisschen viel und ein bisschen dicke. (Heißt es deswegen MAX, hoheha?)
Ich persönlich finde es unglaubhaft, dass ein Mensch sich wiederholt besinnungslos trinkt, dann Sex mit der nächstbesten Person hat und noch damit ringt, welche Person ihm eigentlich am liebsten ist.
(Ich bin aber auch Steinbock, alt, verheiratet und veröffentliche stur jede Woche eine extensive Comicanalyse.)
Darum gefällt mir JESSICA JONES auch in den Momenten am besten, wenn es um ihre Ermittlungsarbeit geht oder sie wieder mal wegen ihrer Heldinnenvorgeschichte traktiert wird!
Hier sind die Dialoge von Bendis spitz und schlagfertig, in seinen Beziehungsgesprächen kommen sie mir redundant und nichtssagend vor. Letzteres mag entweder an der amerikanischen Realität liegen (die Leute reden eben so) oder meinem Außenseiterstatus in Sachen Beziehungsfindung (Steinbock, alt, verheiratet usw.).
Ich kann es schwer ausdrücken, aber mitunter erscheint mir dieser Comic „über-reflektiert“.
Als Positivbeispiel präsentiere ich drei Seiten aus dem ersten Story Arc, auf denen ein selbstherrlicher Cop Jessica verbal in die Zange nimmt. Auf der dritten Seite fokussiert Zeichner Gaydos auf Jessicas Gesicht und lässt den Cop wie eine lästige Fliege um sie herum tanzen.
Damit komme ich jetzt zum letzten Story Arc, dem Wiedersehen Jessicas mit Kilgrave, dem Purple Man. Im Comic ist diese Konfrontation der vorläufige Schluss, denn Jessica überwindet das Trauma, welches sie ihr Heldenkostüm ablegen ließ.
Kilgrave (der im Comic tatsächlich lila Haut hat und mit Hilfe von Pheromonen Menschen dazu zwingen kann, ihm bedingungslos zu Willen zu sein) kann seinem Hochsicherheitsgefängnis entkommen und pirscht sich erneut an Jessica heran.
Diese fünf Hefte lassen JESSICA JONES auf gelungene und dramatische Weise kulminieren: Die verzweifelte Ex-Heldin hat aus ihrer Vergangenheit gelernt und kann sich gegenüber dem Bösen behaupten!
Das ist Comicpsychologie, wie sie schöner nicht sein kann, auch wenn sie sich dafür unfasslicher Prämissen bedient: magische Zauber-Pheromone?!? Mmmbblllgrrmmmblbblll.
Aber sind solche Superheldengeschichten nicht Allegorien auf menschliche Verhaltensweisen? Äh … ja. Jajaja.
Gibt’s auch was zu lachen?
Für meinen Geschmack zu wenig, der Humor kommt ein bisschen kurz in JESSICA JONES. So glaubhaft diese Welt ist, so grimmig ist sie auch. Die Kilgrave-Erzählung übrigens würde ich nicht als schwarzen Humor klassifizieren, dafür sind diese Begebenheiten zu ernst. Allerdings lässt sich leise Ironie in allen Begegnungen mit Superkolleg*innen entdecken.
Ich präsentiere die Doppelseite einer Rückblende, die zugleich den schönsten Gag im ganzen Lauf setzt. Wir erleben Jessica auf der Highschool. Sie ist verknallt in Peter Parker (!) und nimmt sich ein Herz, ihn endlich anzusprechen. Fast berührt sie ihn, da wird Peter von etwas Anderem berührt …
(Zeichner Gaydos benutzt in diesen Passagen einen retro-orientierten Comicheft-Stil.)
Da hätte ich gerne mehr von gesehen! Steht leider singulär.
Es taucht zwar noch früh eine Comic-Relief-Figur auf, das ist Malcolm, der aufdringliche Assistent, der bekommt aber leider nur wenige Auftritte. Malcolm sitzt einfach in Jessicas Büro und tut, als sei er ihr Mitarbeiter. Dabei ist er bloß ein Nerd, der einer ehemaligen Superheldin nahe sein will.
Hübsche Idee, aus der man mehr hätte machen können. Aber Jessica muss ja mit Drogen- und Sexproblemen befrachtet werden!
Manchmal ist mir JESSICA JONES zu sehr gegen den Strich gebürstet. Ich könnte auch nicht behaupten, dass mir Jessica Jones sympathisch wäre. Die Figur ist gehetzt, planlos, unhöflich und selbstbezogen – leider nicht in einer charmant arroganten Weise, sondern in der schroffen, sich abkapselnden Ausprägung.
Ich stoße mich an diesen charakterlichen Zuschreibungen, die mir zu negativ gesetzt vorkommen. Inzwischen aber ist das Feld der dysfunktionalen Familie und der außergewöhnlichen Frauenschicksale (ich werfe mein Analysenetz mal weiter aus) derart beackert worden, dass es uns nicht mehr verwundert.
(Woran könnte man denken? Harley Quinn, Gwenpool, auch SAGA, MONSTRESS oder selbst BLACK HAMMER.)
Zum Schluss noch zwei Seiten Artwork von der Begegnung Jessicas mit Kilgrave – der ist (noch) im Knast und darf nur über einen Bildschirm mit Jessica kommunizieren. Beachten Sie, dass Kilgraves Worte nicht nur seinem ehemaligen Opfer Jessica unter die Haut gehen, sondern auch uns Leser*innen:
Er beschreibt Jessicas Besuch als Szene in einem Comicheft (oder Film), also als vermeintlicher Regisseur.
Er hat diese gestalterische Macht nicht, denn er sitzt hinter Gittern; dennoch schwingt er sich sofort in diese Pose empor, um kommunikativ die Oberhand zu bekommen (und prophylaktische Drohungen auszusprechen): „Furchtbare Dinge werden dir zustoßen, Jessica.“
Ein überaus clevere Figuren-Charakterisierung, die Bendis und Gaydos hier gelingt.
Für deutsche Leserinnen und Leser: Panini hat vor fünf Jahren gleich drei JESSICA JONES-„Megabände“ aufgelegt. Das dürfte sich um den von mir besprochenen Lauf von 28 Heften handeln plus Folgeserien (das könnte der Spin-off THE PULSE sein, das könnte der JESSICA JONES-Lauf von 2016 sein, keine Ahnung, fragen Sie im Comicladen Ihres Vertrauens).
Ich liste Ihnen HIER noch den deutschen Wikipedia-Eintrag.
Und natürlich blättere ich noch kurz durch meine englischen Tradepaperbacks.