Win-Win und Shluss: PINOCCHIO

Das ist mal wieder was für mein Underground-Herz! Und ließ mich wieder in Erinnerung an französische Undergroundcomics schwelgen. Da gibt es übrigens eine lange Tradition, die aber nie ausgestellt wird, sie scheren sich einfach nicht drum, weil die frankobelgischen Künstler seit Jahrzehnten die kreativsten Comicmenschen des Planeten sind. Auch im derben Humorbereich.

Ich hatte in jungen Jahren schon Berührung mit Marcel Gotlieb, dem Gründer des Magazins FLUIDE GLACIAL (1975), der erst jugendkonformen Slapstick produzierte, später auch pikantere Panels mit PETER PERVERS und BARBARALICE.

Dort wirkten auch die Radikalkomiker Christian Binet, Daniel Goossens und der jenseitige Édika (U-COMIX-Leser erinnern sich)!

Zuvor und zeitgleich hatten im karikaturistischen Bereich die Zeichner von HARA-KIRI die Sau rausgelassen. Daraus spaltete sich das bekannte CHARLIE HEBDO ab, wo Menschen wie Georges Wolinski, Philippe Vuillemin und Jean-Marc Reiser die Grenzen des guten Geschmacks strapazierten.

Es gibt einen französischen Underground – und in dessen Tradition steht natürlich Vincent Paronnaud alias Winshluss. Womöglich als ‚last man standing‘, ein Leuchtturm der Frechheit. Seine beiden hierzulande veröffentlichten Werke sind schon etwas älter: IN GOD WE TRUST stammt aus dem Jahr 2013, der gleich zu behandelnde PINOCCHIO ist schon von 2008.

Lob dem avant-Verlag, der diese respektlose Klassiker-Adaption in einer erweiterten Neuauflage präsentiert. Link und (Obacht: unzusammenhängende) Leseprobe finden Sie HIER.

Cover der Erstausgabe

Geh mir weg mit Pinocchio!

Ich konnte nie etwas anfangen mit diesem literarischen Stoff und habe mir auch keinerlei Verfilmung angeschaut. Ich kenne eine Comicadaption des Belgiers Philippe Foerster, der übrigens auch teilweise der europäischen Undergroundszene zugeordnet werden könnte. Dessen Version von 1982 habe ich hier sogar mal vorgestellt (dort runterscrollen bis zu den kolorierten Seiten).

Ich habe eine Abscheu vor Puppen im Allgemeinen und vor Marionetten im Besonderen. Was Autor Collodi seinerzeit an Handlung aufbot, scheint mir zusammengestoppelt und wirr. Umso schöner, dass Winshluss sich jede Freiheit erlaubt und sich im Grunde nur Motive der Ursprungsgeschichte herausgreift – und diese komplett eigen interpretiert.

Auch ist sein Pinocchio schon mal keine hölzerne Puppe, sondern (die Moderne lässt grüßen) ein Roboter! Sein Gepetto ist auch kein gütiger Schnitzer, sondern ein irrer Schrauber, der seine Konstruktion als Waffe ans Militär verkaufen möchte!
Während er einem zigarrepaffenden Klischee-General die Pläne zur Massenfertigung vorstellt, läuft sein Prototyp daheim Amok und ermordet Gepettos Gattin, die mit dem Eisenmännchen Sex haben wollte!

Mit dieser Exposition macht Winshluss schnell klar, dass sein PINOCCHIO eine undergroundige Pervertierung des liebgegewonnenen Jugendbuchs darstellt. Die Dekonstruktion eines Klassikers und seine Verpflanzung in moderne Umstände ist ein beliebtes Stilmittel der Satire.

Diese ersten Seiten sind so clever und cool komponiert, dass ich sie schon hier als Video zeigen und besprechen möchte.

Die Parallelmontage Herr Gepetto-Frau Gepetto ist ein Meisterstück der ineinandergreifenden Erzählung – und das auch noch ohne Worte und mit gehörigem Witz (Pinocchio lässt die Hose runter). Natürlich ist das auch „irgendwie krank“, aber so operiert subversiver Humor. Akzeptieren Sie meine Definition von Underground-Comic als ungebremst wildem Wahnsinn, der sich assoziativ Bahn bricht.
Da kommen dann überraschende Dinge zum Vorschein. Das ist meist nicht schön, Grüße vom Unterbewusstsein, aber es sprengt die Gedanken aus den Ketten der Konvention.

Interessant ist, dass der Winshluss-Pinocchio nur eine befehlsausführende Hülle ist. Wir verachten diese Figur dennoch nicht, sondern folgen ihr mit einer gewissen Sympathie, weil sie fremdgesteuert ist!
Collodis sprechende Grille, Disneys Jiminy Cricket, hier die asoziale Wanze Jiminy, nistet sich in Pinocchios elektronischem Gehirn ein und ist für dessen Aufbruch in die Welt verantwortlich. Dabei ist Jiminy Wanze nicht besonders aktiv. Dieser Charakter hängt bloß in Pinocchios Steuerzentrale ab, besäuft sich dort mit oder ohne Insektenkumpels, grillt sich was, geriert sich in Tagträumen als großer Schriftsteller, schaut Pornos und zieht am Ende wieder aus.

Die Nicht-Abenteuer von Jiminy Wanze sind ein Comic im Comic, schon formal abgesetzt in schwarz-weißen Bildern und mit Sprechblasen erzählt. Jiminy Wanze ist eine Slacker-Comedy, ist ihr eigenes Underground-Genre. Sie scheint zurückzuweisen auf US-Vorbilder wie MR. NATURAL, die FREAK BROTHERS oder ZIPPY, in gewisser Hinsicht auch auf frankobelgische Vorläufer wie GASTON oder LUCIEN/ROCKY oder die Surrealismen eines Nikita Mandryka.

Schauen wir nun auf den Inhalt, wie variiert Winshluss die Motive des Originals?

„Pinocchio kommt auf seinen Reisen zu einen Puppentheater und feiert dort mit den anderen Puppen“ – Im Comic gerät Pinocchio in eine Spielzeugfabrik, wo versklavte Kinder am Fließband Spielwaren herstellen müssen. Unser Protagonist ist dieser Aufgabe perfekt gewachsen, er ist schließlich ein Roboter, doch er stellt laut seiner „Werkseinstellung“ Killerspielzeug her, was die Firma in den Ruin treibt.

Die Kinder rebellieren, die Fabrik geht in Flammen auf, der Aufseher (ein schlangenartiges mechanisches Auge!) muss in die Kanalisation flüchten – und spielt im Fortgang noch eine Rolle.
Das führt schon weit weg vom Ursprungsmaterial, doch genau das ist Winshluss‘ Anspruch: viel überspitzt präsentierte Gesellschaftskritik in den Stoff hineinzuschmuggeln (hab ich schon erwähnt, dass es ein Underground-Comic ist, die machen das nämlich gerne).

„Pinocchio begegnet seinem Klassenkameraden ‚Kerzendocht‘, der von einem glücklichen Spieleland fabuliert; dort tun alle Jungen angeblich nur, wozu sie Lust haben; auf der Insel werden jedoch alle Ankömmlinge in Esel verwandelt“ – Winshluss macht daraus eine erschreckend bunte Faschismusparabel. Das künstlerische Kernstück dieser Graphic Novel.

Wozu die Jungs auf der „Zauberinsel“ Lust haben, ist, dem Elend des stillgelegten Spieleparks zu entkommen und sich von populistischen Rattenfängern in den Zirkus Mussolini locken zu lassen. Dort nämlich verwandelt ein horrormäßiger Weißclown die Anwesenden mit Hetzreden in wölfisches Gefolge. Wunderbar eingefangen auf einer starren Zwölf-Bild-Rasterseite:

Die Wölfe stürmen den Palast des blasierten Königs, massakrieren diesen und natürlich nimmt der neue Duce auf dem Thron Platz, um sich allen Angenehmlichkeiten des Royalismus hinzugeben.
Für Pinocchio, den Roboter, ist kein Platz in diesem System, den Außenseiter hängt man auf an einer überdimensionierten Zuckerstange. Da hängt er ein volles Jahr, völlig unbekümmert, bis der Strick reißt – während Jiminy Wanze in seinem Kopf sein Lotterleben führt (ebenfalls völlig unbekümmert).

„Zwei Gauner, ein Kater und ein Fuchs, überlisten Pinocchio und stehlen im sein Geld“ – Diese beiden Figuren sind im Comic ein verlotterter Gentleman (der „Baron“)  mit langer Nase und Zylinderhut sowie ein blinder Afroamerikaner namens „Wonder“ (offenbar eine missratene Anspielung auf den Musiker Stevie Wonder), der noch dazu als rassistische Karikatur auftritt.

Diesem „Wonder“ passieren laufend slapstickartige Unfälle, weil er eben nichts sehen kann! Das ist richtig billig und die grafische Darstellung der Figur ist für mich der einzige Makel an PINOCCHIO. Ich weiß nicht, was Winshluss da geritten hat.

Diese beiden Gauner jedenfalls verkaufen Pinocchio an die Spielzeugfabrik, ziehen sich vom Erlös Drogen rein, legen sich gegenseitig aufs Kreuz.
Eine Entschuldigung für Wonders plumpe Ungeschicke mag sein, dass der Künstler genau diese Billigkeit des Slapsticks betonen möchte. Seine Hommage an alte Comics und historische Stummfilme. Wie sich anhand folgender Seite argumentieren ließe:

Ein weiterer Winshluss-Exkurs ist die Fortschreibung der Figur Wonder: Der kann plötzlich wieder sehen, weil das mechanische Auge sich gewaltsam in ihn implantiert! Wonder ist so dumm, dass er nicht weiß, wie ihm geschieht. Er glaubt an ein göttliches Wunder, gründet eine Sekte und verbrennt seinen Kumpel Baron auf dem Scheiterhaufen, als der ihn nur auslacht.

Gepetto macht sich auf die Suche nach seiner Kreatur, als diese zum ersten Mal ausreißt; an einem Strand wird er von einer Welle ins Meer gerissen; im Bauch eines Riesenhais trifft er Pinocchio endlich wieder“ – Gepettos Suche verlagert Winshluss direkt aufs Meer: Der Lügen-„Baron“ hat ihn dorthin geschickt. In einem Fass dahintreibend, erlebt Gepetto allerhand nasse Abenteuer, kommt bis zum Nordpol, fragt dort die Pinguine nach Pinocchio und wird von einem Riesenfisch verschluckt.

Dort kämpft er gegen die ätzende Magensäure seines Wirts ums Überleben, wird Zeuge des Untergangs der „Titanic“ sowie dessen legendärem Orchester, das ihm, Gepetto, ein letztes, magensaures Ständchen darbietet.
Schwarzhumoriger Quatsch befindet sich also auch auf Winshluss‘ malerischer Palette.

Ich will hier nicht verraten, wie sich das Wiedersehen von Gepetto und Pinocchio gestaltet; auch nicht, was danach noch folgt. Kurz erwähnen möchte ich noch, dass Winshluss sich noch Erfindungen erlaubt, die mit dem Original nichts zu tun haben.

Da ist zum Einen das Auftauchen von Schneewittchen. Ja, das Märchen wird frech eingebaut, oder sagen wir besser: die Wally-Wood-Variante „Schneeflittchen“. Der amerikanische Comiczeichner illustrierte in seiner Spätphase Disneyana als Pornos.

Winshluss setzt darauf auf, schildert Schneewittchen jedoch als Gefangene der sieben Pornozwerge, die die Ärmste missbrauchen. Gottlob gibt es hier ein Happy End, denn die gemarterte Frau kann fliehen und findet in den Armen einer blonden Surferin ihr lesbisches Liebesglück.

Die sinistren Zwerge beleben das tote Schneewittchen mit einem Herzimplantat wieder. Das größere Panel oben links kann als Parodie auf Rembrandt „Anatomie des Dr. Tulp“ verstanden werden.


Dieser Subplot verschränkt sich noch mit einer völlig eigenartigen Detektivgeschichte. Ein Cop mit dem Aussehen einer Osterinsel-Statue (häh!?) nämlich kann die Zwergenbande hochnehmen. Ansonsten führt dieser Typ ein einsames Leben, betrinkt sich allein an Weihnachten und hat nur eine tote Katze, die er streicheln kann. Immerhin führt er produktive Selbstgespräche.

Fragen Sie mich nicht, wie Winshluss es zustande bringt, ein Dutzend dramaturgischer Bälle nicht nur zu jonglieren, sondern auch immer wieder elegant aufzufangen. Er kann es. Er schafft es. Es ist ein Wunder!

Ohne Worte, dennoch ein Name-Dropping

Pantomimische Comics gibt es einige, nur trifft man sie nicht allzu häufig an. In Deutschland kennen wir VATER UND SOHN, Original und Fortsetzung von Ulf K. (sowie weitere Werke aus seiner Feder), hinzu kommen Hendrik Dorgathen sowie die Piktogramm-Comics von Frank Flöthmann. Thomas Ott gilt als Schweizer.
Die Amerikaner stellen mit Jim Woodring und seinem FRANK-Universum, mit Chris Ware (der oft Affinität zu stummen Sequenzen beweist) und auch mit Peter Kuper und Paul Kirchner prominente Vertreter. Außerdem sollten alle MAD-Liebhaber Sergio Aragones auf dem Schirm haben.
Italien bietet Massimo Mattioli auf, nicht zu vergessen einiges von Benito Jacovitti. Der Australier Shaun Tan beeindruckte mit der Graphic Novel EIN NEUES LAND. Die Niederlande werden von Pieter de Poortere versorgt. Die Belgier konkurrieren mit dem verrückten Kamagurka und COWBOY HENK.

Drastische Seite, die den kleinen Pinocchio als gewaltigen Zerstörer präsentiert.

Winshluss glücklich

Ich bin kein Freund von stummen Bildgeschichten, von pantomimischen Comics im Allgemeinen. PINOCCHIO jedoch ist ein berauschender Reigen fesselnder grafischer Ideen. Ein wüster Nonsens, der zwingend erzählt wird und auf keiner Seite Langeweile aufkommen lässt. Winshluss hat einen Geniestreich des Underground-Genres abgeliefert.

Das übertrifft die Werke eines Robert Crumb, eines S. Clay Wilson, er stellt alle seine französischen Kollegen in den Schatten, weil er auf langer Strecke konsistent und kreativ unterhalten kann. Das ist ein Hammer!

Allein seine Einschuberzählung über das faschistische Spielzeugland ist so packend umgesetzt, dass ihm das weltweite Feuilleton dafür Preise verleihen müsste. Wahrscheinlich guckt aber wieder kein Schwein – und bloß ein Comicfreak wie ich schnallt, wie geil das gemacht ist. Und nun auch hoffentlich auch ganz viele von Ihnen, liebe Entdeckerinnen und Connaisseurs der Neunten Kunst!

Und ich stifte Ihnen hiermit noch das klägliche Ende des Terrorclowns, der als Mönch verkleidet von der Insel fliehen will, doch sich an Pinocchio die Zähne ausbeißt bzw. sein Pulver verschießt:

Darf’s ein bisschen mehr sein?

Noch lieferbar ist übrigens IN GOD WE TRUST, die grob gemeine Abrechnung mit dem Katholizismus. Hier kommt alles in den Unkorrektheits-Quirl: trunkene Märtyrer, grausame Götter, publicity-geile Päpste, Jesus als Surfbandit, Superheldenvergleiche und die unbefleckte Empfängnis als Romance Comic.

Eine Wundertüte an Formaten und Zeichenstilen, die (solange es eben inhaltlich trägt) jeweils einen Aspekt christlichen Glaubens in die Pfanne hauen. Ein monströser Spaß für alle, die Religion nicht allzu ernst nehmen. Wäre in den USA garantiert verboten, nur zu finden in erlesenen West- oder Ostküsten-Bibliotheken.