Von 1995 bis 2000 veröffentlichte DC Vertigo 75 Ausgaben dieser Erfolgsserie (von 2016 – 2019 auch in vier Staffeln für den Bildschirm adaptiert). Die Handlung ist ausschweifend und erlaubt sich immer wieder Exkurse, die nicht zum Kerngeschehen beitragen. Im Grunde geht es um die Suche eines Mannes nach Gott. Die allerdings wird ausgeschmückt mit saftigen Perversionen und frechen Unkorrektheiten aller Couleur.
Dafür sorgt Autor Garth Ennis, der zuvor mit HELLBLAZER einen Lauf und nun freie Hand hatte. Der gebürtige Nordire darf als Garant fürs Groteske gelten, lotet er doch die Grenzen des Sag- und Zeigbaren auch im späteren Verlauf seiner Karriere immer wieder neu aus. Erwähnt seien seine Schöpfungen THE BOYS, PUNISHER MAX, JIMMYS BASTARDE und CROSSED.
Der Engländer Steve Dillon (mit 54 einem Blinddarmdurchbruch erlegen) illustrierte die Serie mit einem einzigartigen und plakativen Artwork: divers große Panels in immer neuen, meist schick überlagerten, Arrangements – alle von Hand mit fettem schwarzen Tintenstrich umrandet. Seine organische geführte Kamera bedient perfekt den Erzählfluss und kontrastiert seitenlange Dialoge mit effektvollen Gewaltausbrüchen: Kugeln sprengen Köpfe, reißen Arme von Körpern und lassen das Blut nur so spritzen.
Diese Splatter-Szenen sind allesamt memorabel, machen aber nicht das Werk aus. Autor Garth Ennis verhandelt ausgiebig Fragen von Gerechtigkeit, Machtmissbrauch und Verantwortung.
Mahlzeit!
Dabei beginnt alles ganz unverfänglich: Drei Freunde sitzen in einem Diner in Texas und bestellen sich Abendessen. Der Reverend Jesse Custer, seine Freundin Tulip O’Hare und sein Kumpel Cassidy. Dennoch verbreitet die Szene geheimnisvolle Spannung: Custer ist verdächtig unrasiert, Tulip sieht mitgenommen aus und Cassidy trägt auch abends eine Sonnenbrille. Was ist da passiert?
Rückblenden erklären uns, wie das Trio zusammenfand. Custer war (nun glatt rasiert und adrett gekleidet) Vorsteher einer kleinen Gemeinde; Tulip war auf der Flucht (nachdem sie einen Auftragsmord vermasselt hatte) und Cassidy kam des Weges und ließ sie in seinen Wagen steigen.
Parallel erzählt uns Autor Garth Ennis, dass es Ärger im Paradies gegeben hat: Ein Engel und eine Teufelin haben verbotenerweise ein Kind namens Genesis gezeugt. Das ist ausgebrochen, auf dem Weg zur Erde und verfügt über gottähnliche Kräfte. Die Engel erwecken einen mythischen Pistolero, der Genesis bzw. den Menschen, von dem es Besitz ergreifen wird, schnellstens umbringen soll.
Der „Heilige der Killer“ erhebt sich aus dem Grab und bläst zur Begrüßung dem himmlischen Boten den Schädel weg. Die grausige Szene wird noch grausiger, weil der zerfetzte Engel noch sprechen kann (mit rauchendem Hinterkopf, übrigens), brrrrr.
Genesis ist mittlerweile auf der Erde angelangt und rast als regenbogenbunter Feuerball in Custers Körper, der soeben seine Sonntagspredigt halten will.
Die Fusion von Gottwesen und Mensch erzeugt eine gewaltige Explosion, die die kleine Kirche einäschert und Custer komatös in den Trümmern zurücklässt.
Umwerfend knallig und kraftvoll gestaltet Steve Dillon diese drei Seiten: der Aufprall des Genesis-Kometen, die weißglühende Zerstörung der Kirche, die schockierende Erkenntnis der Entstehung eines neuen Lebewesens.
Doch zurück in die Gegenwart: Beim Verlassen des Diner-Restaurants geraten Custer und Cassidy in eine Schlägerei. Überraschenderweise präsentiert sich der Reverend als exzellenter Nahkämpfer – und Cassidy als übermenschlich starker Vampir, der einem der Angreifer die Kehle zerfetzt!
Hinter Custer, den Tulip und Cassidy nach der Explosion aufgelesen haben, sind die Behörden her. Sheriff Root, ein echter Redneck aus dem tiefsten Texas, ist ihm samt seiner schwer bewaffneten Deputys auf den Fersen. Doch der Hauptverdächtige des Kirchenmassakers hat bereits von Genesis eine wertvolle Superkraft geschenkt bekommen: Custer verfügt über einen Stimme „wie das Wort Gottes“.
Was er mit diesem göttlichen Befehlston sagt, muss das angesprochene Gegenüber unausweichlich befolgen. Vielleicht hätte er Sheriff Root nicht „Du fickst dich selbst“ befehlen sollen. Die Wirkung dieses Kommandos blenden Autor Ennis und Zeichner Dillon gnädig aus, aber ein Sanitäter erklärt uns fünf Panels später, dass „der abgetrennte Penis in seinem Dickdarm steckt“.
Als Roots Sohn in den Krankenwagen stürzt, um seinen Dad zu trösten, erschießt der Sheriff sich vor dessen Augen mit seiner Dienstwaffe. Eine tragische Ironie ist dabei noch, dass der Sohn Jahre zuvor einen Kopfschuss in selbstmörderischer Absicht überlebt hat. Der schrecklich entstellte Jugendliche bekommt den Namen „Arschgesicht“ verpasst und wird im Verlauf der Serie immer mal wieder auftauchen (kurzzeitig sogar ein Rockstar werden und sogar die Liebe seines Lebens finden).
Ennis und Dillon gestalten ihr „Arschgesicht“ als grotesk grunzenden und ewig sabbernden Freak, der sich jedoch als beinahe normalste Figur in PREACHER behaupten wird.
Denn der Rest der Figuren geht geradewegs zum Teufel. Cassidy, der trinkfeste Vampir, erweist sich als verkommener Egomane, der über Leichen geht; Tulip O’Hare versinkt in drogenbefeuerter Verzweiflung und Jesse Custer durchlebt die Hölle auf Erden in allen erdenklichen Spielarten.
Doch noch sind wir in den ersten vier Heften, dem bahnbrechenden Auftakt!
Der „Heilige der Killer“ ist auf der Erde eingetroffen, sucht nach Custer und dezimiert bei der Gelegenheit die texanische Polizei. Cassidy will seinen Freund schützen, greift an und bekommt ein fußballgroßes Loch durch den Leib geschossen.
Der Vampir geht zu Boden, steht jedoch bald wieder auf – und versucht ein zweites Mal, den Killercowboy umzubringen, indem er einen Pickup-Truck in ihn hineinsteuert!
Wieder steht der unverwundbare „Heilige der Killer“ wie eine Eins, während Cassidy durchs Fenster saust und unsanft auf den Asphalt knallt. Auch davon wird er sich erholen, denn als Vampir besitzt er die Kraft der Regeneration, selbst wenn man ihn verstümmelt, alle Gliedmaßen wegschießt oder seinen Kopf abtrennt (was sämtlich im Lauf der Serie geschehen wird!).
Die Exposition von PREACHER endet mit einem großen Showdown: Custer, Tulip, Cassidy und der „Heilige der Killer“ konfrontieren einen Engel, der ihnen gesteht, dass Gott aus Angst vor Genesis seinen Platz auf dem Himmelsthron verlassen hat und sich auf der Erde versteckt hält. Wieder setzt Custer seine göttliche Stimme ein, um dem Engel diese Wahrheit zu entlocken.
Custer zürnt seinem Gott und nimmt sich vor, ihn mit Genesis zu konfrontieren und ihn zur Rede zu stellen, weshalb er seine Schöpfung im Stich gelassen hat. Aber dazu muss er ihn zuerst finden …
Die Reise kann beginnen! Und sie wird abenteuerlich, turbulent und unglaublich sein. Und einen hohen Blutzoll fordern.
Garth und wie er die Welt sieht
Ich weiß nicht, ob Garth Ennis Katholik ist, aber PREACHER wirkt, als wolle der Autor seinen Katholizismus exorzieren, sich seinen papistischen Abscheu, den bigotten Dogmatismus aus dem Leib würgen. Sein grotesk fetter und gefühlskalter „Allvater“ steht für den Pomp katholischer Würdenträger, sein messianischer Christus-Erbe ist eine debile und inzestuöse Missgeburt, sein Gott ist ein arroganter und aufbrausender Tyrann.
Nicht besser ist „Der Gral“, die militärisch geführte Geheimorganisation, vielleicht nur Chiffre für fundamentalchristliche Netzwerke. Seine Mitglieder und ausführenden Organe sind kadavergehorsame Befehlsempfänger, an der Spitze stehen zynische weiße Männer, denen nichts wichtiger ist als ihr Machterhalt.
In dieses Weltbild stellen Ennis und Dillon ihr kämpferisches Trio um einen Mann, der mit dem Glauben ringt, eine Frau, die pragmatische Nächstenliebe betreibt und ein nachtaktives Überwesen, das als Stellvertreter höllischer Konzepte agiert und sich entgegen aller Widerstände zum Mensch wandeln wird.
PREACHER ist ein Entwicklungsroman, getarnt als rabiater Actioncomic mit Splatter-Einlagen.
Die Kulisse des Dramas sind (fast ausschließlich) die Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar in ihren mythischen Ausprägungen: New York als Sehnsuchts- und Ankunftsort der Suchenden und Heimatlosen (Cassidy emanzipiert sich hier von seiner irischen Herkunft), New Orleans als Heimstatt des Aberglaubens und der finsteren Mächte (Custer kommt durch ein Voodoo-Ritual in Kontakt mit Genesis) – und immer wieder die Südstaaten (Louisiana, Utah, Texas) als Zentrum des amerikanischen Traums von Freiheit und Selbstbestimmung wie auch als irdische Hölle des provinziellen Despotismus und der antifortschrittlichen Rückständigkeit.
Eine Menge großer Vokabeln für eine Comicreihe, die unvergessliche Schauwerte bietet. Ich möchte dabei nicht werten, ob im guten oder schlechten Sinne.
Schon mal eine alte Dame im Rollstuhl explodieren gesehen?
Wie ein Kampfhund einem Mann die Eier abbeißt?
Ein Cowboy eine Panzerdivision vernichtet?
Sie wissen jetzt, wo.
Anmerkung:
Bemängeln kann man aus heutiger Sicht eine kaum vorhandene Diversität.
Zwei weiße Männer gestalten die Serie in den späten Neunzigern und lassen afroamerikanische Figuren nur vereinzelt, kurz und am Rande auftauchen: den New Yorker Kommissar John Tool, den Grals-Angestellten Hoover, den Soldat Billy Baker, den Voodoo-Priester Xavier und die Polizistin Cindy Daggett. Alle werden mit viel Sympathie behandelt, aber es sind nur fünf aus Dutzenden (ansonsten ausschließlich weißer) Figuren.
Achtung, Spoiler: Was ab dann geschah …
Im Folgenden verrate ich – für alle, die es nicht lesen wollen, große Teile der Handlung. Wer PREACHER noch lesen mag (weiterhin auf Englisch erhältlich sowie auf Deutsch, in neun Hardcoverbänden bei Panini), sollte jetzt besser aufhören!
Custer kehrt zu seiner sadistischen Pflegefamilie zurück, wo sich Gott erstmals zeigt (und die zuvor erschossene Tulip wieder zum Leben erweckt). Befreit von seinen Phantomen der Vergangenheit (Custer bringt sie alle um), stellt er sich der Geheimorganisation „Der Gral“, dessen Sekretär Herr Starr (ein ehemaliger deutscher GSG9-Offizier) zum Gegenspieler für den Rest der Serie wird.
„Der Gral“ hat sämtliche Regierungen der Welt unterwandert und plant eine hausgemachte Apokalypse, nach der ein Blutsnachfolger von Jesus Christus als neuer Messias installiert werden soll. In der Gralsfestung Masada kommt es zu einem Gemetzel, in dessen Verlauf der „Allvater“ des Grals und der Nachkomme des Messias getötet werden.
Starr schwört Rache und lässt im Monument Valley eine Atombombe auf Custer und den „Heiligen der Killer“ abwerfen. Beide überleben, doch Custer wird von Tulip und Cassidy getrennt, die ihn für tot halten. Auch Starr zahlt körperlichen Tribut (wie überhaupt diese Figur immer weiter verstümmelt wird, ein schwarzhumoriger roter Faden, wenn man so will).
Custer verschlägt es in eine texanische Kleinstadt, wo er seine totgeglaubte Mutter wiederfindet, einen Nazi-Kriegsverbrecher aufspürt und den despotischen Fleischfabrikanten Odin Quincannon liquidiert.
Custer und Tulip finden wieder zueinander, letztere ist vor Cassidy geflohen, der sie drogenabhängig und sexuell gefügig gemacht hatte. Starr schwingt sich zum Allvater auf und stellt Custer eine Falle: An der historischen Stäte des Alamo ereignet sich der letzte Showdown aller gegen aller.