Obwohl das einer der dicksten Comics ist, die ich je gelesen habe (bestimmt der dickste Einzelband), kam bei der Lektüre nirgends Langeweile auf – man fliegt förmlich durch diese Seiten. Terry Moore erschlägt seinen Leser allerdings auch nicht mit Text. „Stumme“ Panels und Seiten gehören zu seinem Erzählstil. Dennoch wirkt dieser schwarzweiße Softcover-Omnibus vom reinen Volumen her abschreckend: 900 Seiten!
Die wollen erst mal gelesen sein, was aber angenehm leicht zu bewältigen war. Dieser Monsterband versammelt 42 Einzelhefte, die über einen Zeitraum von fünf Jahren erschienen sind (2011–16). RACHEL RISING ist Moores Serie nach STRANGERS IN PARADISE und vor seinem neuen Wurf MOTOR GIRL. Den habe ich noch nicht begonnen, und ich gestehe, dass ich vor 20 Jahren STRANGERS mal angefangen, aber wieder aufgehört habe: war mir zu Soap-artig, moderner Romance-Comic, da passierte irgendwie nix.
Ich brauch ja immer ein bisschen Horror. Weiß nicht, weshalb. Jugendliche Prägung durch EC Comics. Dabei mag ich gar keine Horrorfilme, ich brauche die Distanz, die mir ein Horrorcomic perfekt liefert. Was ich sagen will: Ich höre, dass dieser „Auteur“, Terry Moore, er skriptet selbst, er zeichnet selbst, er verlegt selbst, dass dieser Soap-Mensch von STRANGERS IN PARADISE (pah!) einen „Horrorcomic“ produziert hat, eben RACHEL RISING (es ist eher Mystery, wenn wir ehrlich sind).
Pitch in einem Satz: Eine junge Frau kriecht aus ihrem Grab, hat Gedächtnisverlust und macht sich auf die Suche nach ihrem Mörder. Fand ich spannend genug, um es zu versuchen.
(Im Folgenden die ersten Seiten: Rachel erhebt sich, verursacht und beobachtet von Lilith)
Im Nachhinein staunt man, dass es auf diesen 900 Seiten nur marginal um den Whodunit geht. Auf den letzten Seiten kriegt Rachel ihren Mann – und Moore nutzt den Moment für einen abgefeimten Cliffhanger plus pointierten Twist!
Denn sehr viel mehr dreht sich die Handlung um die einfühlsamen, spaßigen, oft sogar zarten Verbindungen und Interaktionen der Charaktere untereinander. Ich erahne, weshalb STRANGERS IN PARADISE ein offenbar zeitloser Erfolg ist. Moore behandelt seine Figuren mit Behutsamkeit, mit Zärtlichkeit, aber auch mit rabiater Ehrlichkeit.
Ich möchte gar nicht auf die konkrete Handlung von RACHEL RISING eingehen, es geht unter anderem um einen Hexenprozess in Neuengland, der gerächt werden soll, einen kollektiven Fluch über dem Städtchen, um die Urmutter Lilith, die Rachel für ihre Sache gewinnen will (denn Rachel hat schon einmal gelebt und gehörte seinerzeit zu den Opfern).
Viel mehr aber geht es um die Freundschaft von Rachel zu ihrer besten Freundin Jet, um die tatkräftige Tante und ihren makabren Job, sowie um die Verlorenheit eines verfluchten Mädchens, das zu ihnen stößt.
Moore erzählt das alles flott und kunstvoll ineinander verwoben. RACHEL RISING hat mir unerwartet viel Spaß gemacht. Ich musste mich bremsen, nach je ein paar Ausgaben zu pausieren, denn ich will einen guten Comic nicht „verschlingen“, sondern genussvoll goutieren. Sonst verpasst man die Feinheiten des Skripts und des Artworks; und Moores feinen, realistischen Strich sollte man nicht überfliegen.
RACHEL RISING ist auch so’n „feministischer Comic“. Es geht genderkorrekt zu, die Darstellung der weiblichen Personen enthält sich der Pin-up-Konventionen, der verliebte Earl geht behutsam und rückversichernd bei seiner Werbung um Jet vor, ein frecher Mann hingegen kriegt verbal Saures, die Figur der weiblichen Pathologin (Johnny) ist offensichtlich lesbisch, ohne dass das jedoch thematisiert würde. Und diese Mooresche Selbstverständlichkeit ist erfrischend und wirbt für einen achtsamen Umgang miteinander.
Die Kunst bei Moore besteht darin, dass er neben den ‚normalen‘ Charakteren auch solche bereitstellt, die aktiv auf die Kacke hauen und damit Fallhöhe kreieren: das Killermädchen Zoe, den körperwandelnden Dämon Malus, die rachsüchtige Lilith und ihre Clique von wiedererweckten Hexen.
RACHEL RISING ist deshalb auch kein Stoff für zarte Gemüter. Moore unterhält uns moderne, an rabiate Gewalt gewöhnte Serien-Geeks durch Szenen deftigster Gewalt und schwärzesten Humors. Allein wie oft Rachel im Verlauf dieser Serie ihr Leben aushaucht und dann wieder aufsteht, könnte man als ‚running gag‘ bezeichnen. Allerdings wird auch nicht zu locker mit dem Verlust des Lebens umgegangen: Einige Figuren bleiben tot auf der Strecke, sonst wäre es ja auch inflationär. Und da Moore exzellent mit seinem Plot wirtschaften kann, kommt für ihn eine Inflation nicht in Frage. ;- )
Ich hab die Serie auf Englisch konsumiert, RACHEL RISING ist in sieben Teilen auch auf Deutsch erschienen (bei Schreiber & Leser), was allerdings ins Geld geht …
Es gibt übrigens auch eine Hardcover-Ausgabe des Omnibus (auf Englisch jedenfalls). Wer sich von der Masse des Buchs überzeugen will, sei animiert, dieses YouTube-Video abzurufen, in der ein amerikanischer Comicfreund den Band öffnet und darin blättert. Neuer Service auf dieser Seite – Verlinkung von Blätterclips.