Tillmann liest: DIE ÜBERLEBENDE

(Obacht, dieser Artikel verspoilert die Handlung von dreien der vier Bände!
Nicht lesen, wenn Sie diese Alben noch ahnungslos genießen wollen!)

 

„Frau hat Sex mit Robotern!“, ist die kürzeste Formel, auf die man diesen Comic bringen kann. Wir wollen im Fortgang versuchen, ausführlicher zu werden, aber fürs Erste ist Ihre Aufmerksamkeit geweckt – und damit willkommen zu dieser Besprechung!

Der kleine, aber feine All-Verlag hat sich diese Fantasie von Paul Gillon gesichert und zügig in vier schönen Hardcover-Alben (und neu übersetzt von Saskia Funke) abgeschlossen. Gillon schuf diese Serie in den späten 1980er-Jahren, in der Endphase seines anderen Science Fiction-Werks, für das er berühmt ist: DIE SCHIFFBRÜCHIGEN DER ZEIT (dieses nennt die BDtheque höchst unfranzösisch „einen Klassiker der Space-Opera“).
Bei DIE ÜBERLEBENDE ist deutlich der Einfluss von BARBARELLA-Schöpfer Jean-Claude Forest spürbar, mit dem er an den SCHIFFBRÜCHIGEN arbeitete.

Und damit sind wir wieder beim Robotersex, den Gillon äußerst konträr zur famosen Szene aus BARBARELLA darstellt.

„Ich weiß, meiner Liebe haftet etwas Mechanisches an“, bemerkt der Roboter Victor dort selbstkritisch nach dem Geschlechtsakt (leider hat Forest ihn nicht auch noch rauchen lassen … in welcher Weise auch immer …).  Bei Gillon kommt es – wenn man so will – „realistischer“ rüber:

Wie konnte DIE ÜBERLEBENDE in diese Lage geraten? Aude Albrespy heißt die junge, ich schätze mal mittzwanzigjährige Frau, die nach einem Tauchgang an Land geht und sich als letzte Überlebende einer atomaren Apokalypse wiederfindet. Ihre Mitmenschen sind sämtlich zu Staub zerkrümelt, die Städte verlassen und nur noch von den Dienstrobotern der Menschheit besiedelt. Eins meiner Mantras lautet: „Comics niemals logisch hinterfragen!“, das gilt natürlich auch zuvorderst für DIE ÜBERLEBENDE.

Denn welche Speed-Apokalypse kann in einer geschätzten Stunde heraufziehen, ihr Vernichtungswerk leisten und sich wieder verflüchtigen, ohne dass die überlebende Aude Folgeschäden davonträgt?! Wieso sind die „Cyborgs“ genannten Maschinen weiterhin funktionsfähig? Who watches the watchmen? Who schmierölt the Blechcan? Entschuldigung.

Stattdessen hüpfen wir durch ein herbstliches Paris, ganz ohne lästige Touristen oder erstickenden Verkehr. Halt, ich übertreibe der Pointen wegen. Auf Seite 2 erklärt ein innerer Monolog, dass Aude „tagelang“ in einer Höhle unter Wasser gefangen war. Weshalb sie sich allerdings auf Seite 3 schon nur mit einem Slip bekleidet ans Steuer ihres Jeeps setzt (obwohl sie ihren Neoprenanzug hätte anbehalten können), bleibt rätselhaft.

(Ist natürlich gar nicht rätselhaft, denn – anderes Mantra – „Comickultur ist Pin-up-Kultur“ und DIE ÜBERLEBENDE eine verquere Männerfantasie, wie sich bald konsolidiert.)

(In einem späteren Band ist von „Neutronenbomben“ die Rede, was die Möglichkeit des Überlebens erklärt, man fragt sich nur, weshalb das nicht vorab so benannt wurde – wahrscheinlich war die inzwischen längst vergessene Neutronenbombe, die nur organisches Leben schädigt, zur Zeit der Niederschrift des Comics in aller Bewusstsein.)

Aude checkt ein im verlassenen „Hotel de Crillon“ an der Place de la Concorde und lässt sich vom Cyborg-Personal verwöhnen. Damit ist noch nicht der Sex gemeint, sondern Küche, Keller und Komfort. Als ehemalige Radioreporterin bei RTL sendet Aude eine Rundfunkbotschaft in die Welt hinaus, wo sie zu finden sei, falls noch jemand überlebt haben sollte. Erst im Anschluss lässt sie sich vom Physiotherapie-Robot Ulysses im Bad einseifen und im Bett massieren. Dabei erschrickt Aude über ihre erwachende Geilheit, flüchtet ins RTL-Fernsehstudio, legt dort einen Porno ein und masturbiert dazu.

Es folgen rührende wie skurrile Situationen (Sightseeing, Shopping, Besuch des Louvre sowie eine kurze Konfrontation mit aus dem Bunker auftauchenden Politkern, die offenbar wahnsinnig geworden sind und sich gegenseitig zerfleischen!). Ein politischer Kommentar Gillons zur französischen Demokratie?!

Rasant steuert der Comic dann auf seine „Höhepunkte“ zu (jetzt ist der Sex gemeint): Der mechanische Masseur Ulysses hat auch ein mechanisches Glied und darf es mit Aude treiben (s. Szene vom Artikelanfang). Ich zeige hier nur die postkoitale Abbildung, weil ich ein schamhafter Mensch bin und das Internet nicht mit noch mehr Pornografie füllen möchte. Habe mich aber bei Lektüre gefragt, weshalb Ulysses dazu fähig ist (ist er ein Sexbot in the first place?) Da fängt man schon an, sich eine Logik konstruieren zu wollen – dabei lesen wir doch einen Cyborg-Cybersexcomic!

Das Finale von Band 1 gerät drastisch: Ein Mann taucht auf, Überlebender einer frisch gelandeten Weltraummission. Aude und Stanny machen sich dran, die Erde mit neuem Leben zu bevölkern. Aber nur für ein paar Stunden, denn dann reißt ein eifersüchtiger Ulysses dem Rivalen die Eingeweide raus. Und während sowohl Aude wie auch mein Logik-Areal im Hirn „Neeeeiiiin!“ schreien, muss man doch sachlich festhalten: dramaturgisch rund ist das Ding bis jetzt.

Band 2 beginnt mit einem anderen Schrei: Hebamme Ulysses entbindet Aude von einem Jungen, im Folgenden Jonas genannt. Die Mutter ist jedoch in Depressionen verfallen und gibt Jonas an Ulysses weg, der den Burschen aufzieht und lehrt. Die Handlung macht einen Zeitsprung von acht Jahren, Jonas hat seine Mutter noch nie gesehen, Aude lebt messie-artig in einer Stockholm-Syndrom-Beziehung zu Ulysses.
Das ist eigentlich knallhart und grausam, gerät in Gillons Illustrationen aber fast ein wenig unfreiwillig komisch und „sleazy“ auf ungute Weise.

Und es bleibt beim Sleaze, bei den schäbigen Schlüpfrigkeiten. Beim Bad in der Seine trifft Aude auf ein exotisches Phallustierchen, welches sie mit nach Hause nimmt und sich dort mit ihm verlustiert. Auch das beseitig prompt der zornige Ulysses, der nach Hause kommt und seine Gattin beim Gelage mit … halt, falscher Mythos. Jedenfalls prescht auch Jonas auf die Szene und gibt einen Schuss auf Mr. Roboto ab, verfehlt ihn jedoch.

Der kleine Jonas flieht durch die Stadt und bringt es fertig, die Vernetzung der Cyborgs untereinander zu kappen. Alles läuft auf eine nächste Konfrontation mit seinem „Vater“ hinaus. Ulysses hat derweil Aude anal vergewaltigt und versucht, Jonas im Centre Pompidou zu töten. Doch der achtjährige Einstein hat einen „Positronen-Phasenverschieber“ entwickelt, der ihn momentan unverwundbar macht. Aude, die ihre Mutterschaft endlich anerkennt, kommt ihrem Sohn zur Hilfe. Sie entkommen den Fängen des bösen Cyborgs. Ende Band 2. Das Problem dieses zweiten Teils ist der arg unglaubwürdige Wunderknabe, aber ohne ihn gäbe es keine Entwicklung. Nehmen wir’s mal in Kauf, hören wir auf das Keine-Logik-Mantra und schauen, was noch passiert.

In Band 3 düsen Mutter und Sohn ins Weltall! Richtig gelesen, sie haben eine Rakete mit Antilogik-Antrieb gefunden und docken an der Europäischen Raumstation an. Dort wollen sie sich vor den Robotern verkriechen, treffen aber auf vier überlebende Raumfahrer, fast wahnsinnig geworden. Sie zitieren Baudelaire, tragen meist nur Unterwäsche und rangeln um die Gunst der Frau unter ihnen, Rhea Ryder.

Als wenige Wochen später die Station zu havarieren  droht, beschließen Aude, Jonas und Douglas, der vernünftigste der Astronauten, mittels Landefähre mit allen Mann auf die Erde zurückzukehren. Sie landen in der roboterfreien, australischen Wüste und laufen zur Küste, wo Aude beim Bad im Meer den Phallustierchen wiederbegegnet und einen Orgasmus hat. Wie schön. Die Streitereien in der Gruppe eskalieren, als Aude mit Douglas schläft und in flagranti von Rhea erwischt wird. Am nächsten Morgen ist Douglas tot und Rhea wird als Schuldige ausgemacht.

Die aber killt auch die restlichen Kerle, wird bei der Verfolgung von Aude und Jonas aber selber gefällt – ein Deus-ex-machina-Auftritt von Ulysses! Yay!
Schluss und Cliffhanger für Band 4.
Zwischenergebnis: DIE ÜBERLEBENDE wird von Band zu Band schwächer, der Plot hangelt sich mühsam an zwischenmenschlichem Sex und Gewalt entlang, es fehlen die Cyborgs, die diesen Comic quasi rechtfertigen. Das ist nun klar, jetzt muss es Band 4 rausreißen!

Diesen Schlussband werde ich jetzt nicht durchsprechen, um nichts zu „verspoilern“. Nur so viel: Wir sind wieder in Paris, wieder in der alten Konstellation. Ulysses treibt seine Spielchen mit Aude und Jonas, die Handlung füllt sich mit schlüpfrigen Flashbacks aus Audes Jugend und Vergangenheit. Es tauchen Verbündete auf, die gegen die Roboter vorgehen; es gibt keine Hochzeit, aber einen plötzlichen Todesfall; das Ende gerät zur elegischen Fantasie mit Phallustierchen!

Gillon schaukelt seinen Plot zu einem akzeptablen Finale. Jedenfalls angesichts der Tatsache, dass die andere Option eine inzestuöse Beziehung gewesen wäre …

Fazit: Natürlich habe ich die Comics am liebsten, die man auch logisch hinterfragen KANN und die hieb- und stichfest sind, im besten Fall sogar glaubwürdig. Doch viele Comics sind wie Popcornkino – ich weiß, es ist Unfug, habe aber dennoch meine Freude dran. Guilty Pleasure?!
DIE ÜBERLEBENDE ist zu heftig und zu frauenfeindlich, um leicht konsumierbar zu sein.

Warum hab ich’s gekauft und gelesen? Ich schaue gerne mal in Abgründe, es erweitert den Horizont. Ich will informiert sein, was für Fantasien da draußen kursieren. Ich mag das Artwork von Paul Gillon, es ist unaufdringlich und plakativ zugleich. Ich will Verbindungen ziehen und Vergleiche anstellen zwischen anderen „Schweinepriestern“ dieser Zeit (beispielsweise Serpieris DRUUNA, Bernets SARVAN, Frank Thornes GHITA, dem meisten von Manara)  – die Machart, der Look, die Haltung und Attitüde dahinter. Wann ist ein Werk noch Kunst und zählt zur Hochkultur, wann es ist bloße Pornografie und gehört unter den Ladentisch?

In anderen Bildmedien wir Film und Fernsehen ist die Kategorisierung eindeutig: Sind Geschlechtsteile in Funktion zu sehen, ist die Grenze zum Porno überschritten. Gillon zeigt ebenfalls Geschlechtsteile in Funktion, hat aber eine ISBN-Nummer. Baby! Zeig mir deine ISBN-Nummer! Nochmals Entschuldigung …
Offenbar ist gezeichnete Pornografie weniger pornografisch als Fotografie oder Film. Was ist, wenn die Zeichnungen fotorealistisch werden? DRUUNA wirkt „härter“ als DIE ÜBERLEBENDE, enthält sich aber im Vergleich solch sichtbarer Kopulationen. Was ist, wenn Zeichnungen strafbare Inhalte bebildern? Es sollen Menschen verhaftet worden sein, weil man Hentai-Mangas mit Minderjährigen auf ihren Rechnern fand. Immer noch nur „Linien auf Papier“?

Das wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin für Pornografie. Dagegen zu sein, ist illusorisch. Aber ich will differenzieren und diskutieren. Ist ein Comic wie DIE ÜBERLEBENDE okay? Ist er entschuldbar? Sollte man ihn angreifen oder verteidigen? Wird die Frau im Comic reduziert auf ihren Körper? Ist der Roboter als ‚eisenharte Fickmaschine‘ ein männlicher Angstgegner?

Träumen Androiden von elektrischen Scheiden? Und Kerle von waffenfähigen Penissen? „Happiness is a Warm Gun“ sangen schon die Beatles, die eher unverdächtige Band um John, Paul, George und Django … Ringo! Wer zieht zuerst? Wer zieht den Kürzeren? Ist Kultur nicht Sublimation der sexuellen Triebe? Und eine pornografische Kunst damit ehrlicher als der Mainstream?
Ich sag: Es ist kranke Scheiße, aber ich mag kranke Scheiße – wenn sie gut gemacht ist. Filme von David Lynch, obskure Wave-Musik, oben genannte Comics. Ich mag Verstörung, hält mich fit im Kopf. Weiß Gott in kleinen Dosen …

Wer Kaufinteresse hat, greife zu. Wer französisch kann, es gibt auch eine Integral-Ausgabe von LA SURVIVANTE für 30 Euro (bei Glénat erschienen und damit günstiger als viermal 13,80 Euro).