Tillmann liest: DEAD HUNTER

Okay, nach dem ersten (von drei) Bänden werden Sie sagen: „Ach, du Kacke! Ein krude gezeichneter Western, der vor grundloser Gewalt nur so strotzt? Das les‘ ich nicht weiter!“  Nach einem Gesamt-Bodycount von 41 Toten im ersten Band glaubt man auch nicht, dass diese Handlung so fortgeführt werden kann …

Aber dann fiel mir für weitere drei Euro in der nächsten Grabbelkiste der zweite Band in die Hände – und dieser Comic beginnt, mich zu überraschen und sogar Spaß zu machen! Und er setzt seine Tintenblut-Exzesse munter fort.

Ein Herz für Trash-Comics

 

DEAD HUNTER ist eine knapp 20 Jahre alte Albentrilogie, ihr Macher ein französischer Arzt namens Franck Tacito, der seine Nächte angeblich am Zeichenbrett verbringt. Man sagt Doktoren ja generell eine Vorliebe für schwarzen Humor nach; wahrscheinlich nutzt Tacito seine Comics als Ventil für die Konfrontation mit der Sterblichkeit …
In der Tat sind Tod, Erweckung und Unsterblichkeit die Leitmotive dieses überdrehten Westerns, der grafisch zudem noch streckenweise vom Steampunk inspiriert ist.

Es beginnt mit einer Saloon-Schießerei, in deren Verlauf der Kopfgeldjäger und Ex-Leutnant der Nordstaaten John Hunter einen Killer festnimmt.

(Warnung zwischendrin: Wenn Sie Gewalt in Comics nicht vertragen können
oder keinen Sinn für Splatter-Humor haben, hören Sie bitte auf,
diesen Artikel zu lesen! Dies ist eine ernst gemeinte Anweisung,
denn Tacitos Zeichnungen kennen keine Bremse!!!)

Wenn Sie nicht wissen, was Splatter-Humor ist, schauen Sie auf das folgende vierte Panel auf dieser Eröffnungsseite von DEAD HUNTER. Nicht nur bläst sich beim russischen Roulette der Spieler den Kopf weg, die Person links zerbricht vor Schreck ein Glas in der Hand, die Person rechts lässt genüsslich ihre Hosenträger flitschen, vor allem aber erwischt die Kugel im Bildhintergrund noch einen unbeteiligten Zuschauer. Das ist Splatter-Humor.

Deftig und geradlinig geht es los in diesem wilden Western, doch schon bald werden erste Erwartungshaltungen unterlaufen und die Handlung bekommt komplexe Züge. Schon auf Seite 16 nämlich findet John Hunter sein grässliches Ende, gekreuzigt und aufgespießt an einem riesenhaften Kaktus haucht er sein Leben aus – um natürlich auf Seite 23 wiederbelebt zu werden und fürderhin seiner Tätigkeit als (in Bandagen gewickelter) Dead Hunter nachzugehen.

 

Die Person oder Unperson, die ihn da kreuzigt, ist der aus dem Grab auferstandene Falschspieler Spade, der seine Untaten mit dem Zurücklassen eines Pik-Asses signiert. Spade war ein paar Jahre zuvor von Hunter erschossen worden, jedoch von Miracle Doc mittels eines magischen Serums wiedererweckt worden.
Miracle Doc ist ein genialer Erfinder, der im Dienste von US-Präsident Grant Panzerzüge und Flugmaschinen konstruiert. Sein Gegenspieler ist der teuflische Dr. West (auch er ein wiedererweckter Zombie), der das Serum aus den Ausscheidungen eines gewaltigen Wurms gewinnt, dem er dafür Menschenopfer bringt.

Hier sehen wir den monströsen weißen Wurm, der sich an einer Kahnladung toter Soldaten labt; im Vordergrund tretelt der noch unversehrte Hunter unter Wasser.

 

Bleiben Sie bei mir, die Handlung wird noch irrer: West arbeitet mit einer Bande von Südstaaten-Renegaten zusammen an der Wiederbelebung des im Bürgerkrieg gefallenen General Lee. Seine Kumpane General Forest und Major McKurthy brauchen dazu noch die magische Lanze des Anansazi-Indianerstammes.
Hier kommen noch der Schamane Heulender Koyote und seine hübsche Tochter Kleiner Mond ins Spiel, die dank ihrer Visionen aus der indianischen Geisterwelt das Schlimmste verhindern können. Gemeinsam mit Miracle Doc, dem toten Hunter, seinem afroamerikanischen Kriegskameraden Tom Freeman und der Reiseschriftstellerin Miss Liberty legen sie der Bande (und Spade) endgültig das Handwerk.

So kurz vorm Ziel: Die magische Lanze zerreißt den schurkischen Major McKurthy (mit dessen Kopf später noch Fußball gespielt wird).

 

Überhaupt: Die „Heilige Lanze“, mit der (der Legende nach) Christus am Kreuz erstochen wurde, ist ein Artefakt (unter anderem) aus der Nazi-Folklore – auf Englisch heißt das Ding „holy lance“ oder „spear of destiny“ und fand ihren Weg in einige Comics!

In dieser doch ansehnlichen Personalkonstellation (und ich habe schon Figuren ausgelassen) geschehen noch einige Verflechtungen und Wendungen, die ich Ihnen der Verständlichkeit halber erspare. Tacito erzählt teils in Rückblenden, was jedoch niemals chaotisch wirkt, der Comicarzt hat seinen Plot straff im Griff! Mein Respekt vor diesem Werk wächst, zumal es kurzweilig zu einem befriedigenden Ende geführt wird.

Da isser wieder: Spade und der Kopf von McKurthy im Gespräch mit General Forest.

 

Grafisch hat DEAD HUNTER seine Defizite, mit denen ich jedoch leben kann. Tacito kriegt zwar oft die Anatomie seiner Figuren nicht richtig hin und zeichnet hemmungslos aus anderen Comics ab (das merkt man an der bloßen Inkonsistenz seines Stils), andererseits erfreut er mit gewaltigen, vollgekrakelten, doppelseitigen Bildorgien, die mich schon von ihrer Komposition her beeindrucken.

Schlachtplatte von Tacito: Die mittlere Bildreihe gehört dem mumifizierten Hunter, der einem Gegner den Schädel wegschießt und zwar von innen … Erwähnte ich schon, dass ich das für ‚Splatter-Humor‘ halte?

 

Ich denke, es ist dem Zeichner (ein Selfmademan, ein Amateur) auch egal, ob er das alles superkorrekt abliefert. Tacito hat Freude an seiner Arbeit und das transportiert dieser Comic auf jeder Seite!

Selbst der Ku-Klux-Klan bekommt in diesem Western sein Fett weg: Hunter, Tom Freeman und Kleiner Mond dezimieren ein Aufgebot an Kapuzenträgern.

 

DEAD HUNTER lebt (auch) von seinen popkulturellen Anleihen, seinen Zitaten aus Filmen und anderen Comics. Was mir spontan ein- und auffiel: Die Ermordung Fat Boys erfolgt durch einen sich spießartig verlängernden Finger wie in „Terminator 2“; die Zurschaustellung der Leiche des Major Dumbe erinnert an die Opfer Hannibal Lectors im „Schweigen der Lämmer“; die Figur des sadistischen Doktors und Leichenbelebers Dr. West ist direkte Hommage an den sogenannten „Re-Animator“, Herbert West, übrigens ein Werk von Lovecraft.

Der gefeierte Meister der Horrorliteratur, H. P. Lovecraft, schuf nicht nur subtilen Grusel wie „Das Grauen von Dunwich“ und den Cthulhu-Mythos, sondern auch knallige Groschenromane wie „Herbert West – Reanimator“ (1921). Empfohlen sei Stuart Gordons meist zensierte und verschnittene Verfilmung von 1985, eine Perle der Trashkultur, die nicht mit abgetrennten Köpfen und Splatter-Effekten geizt (und dabei brüllkomisch ist).

Dr. West stirbt und steht gleich wieder auf: die Reanimation des Reanimators.

 

Doch zurück zu DEAD HUNTER: Dieser Comic will offensichtlich nichts weiter, als gepflegt auf die Kacke hauen und dabei maximale Schauwerte kreieren. Das gilt auch für die lachhaften Sexismen, die am laufenden Band bedient werden. Auf Seite 6 taucht die weibliche Hauptfigur nackt auf (wortwörtlich aus einem See), im Fortgang findet sie nichts anderes anzuziehen als ein knappes Bustier sowie eng anliegende Jeans. Auch die zweite Frauenfigur, Miss Liberty, wird ab dem Ende von Band 2 in ein Fetisch-Outfit mit überquellendem Dekolleté gepresst.

Sexistisch, aber wehrhaft: Kleiner Mond verhext des Angreifers Ding in eine tödliche Schlange. Ist das cool oder was?

 

Natürlich ist das verwerflich, doch Tacito macht sich einen Jux aus dieser schäbigen Vermarktung der Weiblichkeit. Ich halte das für eine Genre-Parodie und kann es unter diesem Aspekt verknusen. Pin-up, Gewalt, Klischees und Stereotypen noch und nöcher: DEAD HUNTER schreit mich als Leser an: „Nimm diesen Comic um Himmels willen nicht ernst!“

„Muss es denn immer so ausarten?“

 

Lautet der Inhalt einer Sprechblase während einer Schlachtenszene – deutlicher Fingerzeig auf Tacitos Intention. DEAD HUNTER ist ein Feuerwerk des Blödsinns, der komprimierte Extrakt des Westerngenres. Von BLUEBERRY und die mystische „Blueberry“-Verfilmung über JONATHAN CARTLAND bis zu JONAH HEX, „Wild Wild West“ und „Cowboys and Aliens“ packt diese Trilogie allen Wahnsinn, der bislang mit Western assoziiert wurde, in ein dafür erstaunlich schlüssiges Gesamtpaket, das sich flüssig und amüsant liest.
Wenn Sie denn diesen speziellen Humor goutieren …

Hunter, der Kopfgeldjäger, liefert seine Beute ab – nicht ohne ein Almosen für die Notleidenden zurückzulassen.

 

Mir ist DEAD HUNTER lieber als das gelackte und klassische inszenierte BOUNCER, die Westerncomic-Reihe von Alejandro Jodorowsky und François Boucq. Kein Vertun: Die sieht zum Niederknien schön aus; Boucqs Landschaften stehen denen von Giraud in Nichts nach, seine brutale Action könnte aus der Feder Hermanns fließen. BOUNCER ist ein grafischer Leckerbissen.
Aber Boucq und Jodorowsky kreieren in diesem Genre nichts Neues, sondern bleiben viel zu sehr am Boden und drehen sich im Leeren, weil sie sowohl grafisch wie inhaltlich keinen Ausbruch aus dem Genre wagen. Boucq taugt nicht für den realistischen, bodenständigen Western. Seine Metier ist die Schwerelosigkeit, die beklemmende Grenze zum Traumhaften (die er in früheren Werken ja genialisch bedient!).

Auch solche Seiten bietet dieser Comic: Kleiner Mond öffnet das Tor zur Geisterwelt. Welcher Zeichner wird hier kopiert: Druillet? Caza? Moebius? Alle auf einmal? Schaut trotzdem gut aus!

 

DEAD HUNTER hingegen sieht krude und kopiert aus, eine Pastiche aus vielen anderen (Western)-Comics. Aber was für Funken schlägt Tacito daraus! Seine wilde Collage feiert die subkulturellen Bestandteile der Comics, die Schattenseiten des Genres: die durch nichts gerechtfertigte Schlüpfrigkeit in Verbindung mit Gewalt, die inkorrekte Frivolität der Fantasie. Sie merken, ich kann mir das schönreden.

Aber die Tatsache, dass mich dieser Comic auf solche Gedanken bringt, beweist mir seinen Wert. DEAD HUNTER ist schlimmer Trash, eine wüste Klamotte und ein origineller Comic.

Die drei Alben von DEAD HUNTER sind in den Jahren 1998–2001 bei Kult Editionen erschienen und antiquarisch noch zu finden.

(Mit dem britischen Autor Pat Mills schuf Tacito in späteren Jahren noch die Albenreihe CLAUDIA, DER VAMPIRRITTER – die habe ich allerdings noch nie zu Gesicht bekommen.)

Da sag ich doch mal in leiser Vorfreude: die nächsten, bitte!

 

Bonus-Brutalitäten-Bildchen:

Horrorcomicfreunde haben schon viele halbe Köpfe gesehen, aber der hier von Tacito ist doch auch wunderschön!