Sterben und leben lassen: RIP – DERRICK

Holla, da bin ich platt – und etwas sprachlos. Kommt selten vor, aber dieser Comic lässt mich mit offenem Mund zurück. Er ist super, dennoch so deprimierend, dass ich ihn kaum zu empfehlen wage.
RIP – DERRICK ist wie ein Fausthieb auf den Solar Plexus, er raubt mir den Atem. Das liegt natürlich am herben Inhalt.

Derrick, unsere Hauptfigur, ist ein Entrümpler im Spezialeinsatz. Eine ausbeuterische Firma fieser Kerle in Anzügen schickt ihn in die Häuser von Toten. Menschen, die einsam gestorben sind und verwest in ihren Wohnungen liegen.
Vor Eintreffen der Bestatter plündern Derrick und seine Kollegen sämtliche Wertsachen. Diese müssen sie ihren Auftraggebern aushändigen, sie selber dürfen nur Haushaltswaren und Lebensmittel einsacken.

Natürlich lockt jeden Tag die Versuchung: Bargeld könnte man sich in die Unterhose stecken, Schmuck im Mund hinaustransportieren. Doch erstens werden unsere „Tatort-Räuber“ gefilzt und zweitens herrscht eine ständige Atmosphäre gegenseitiger Kontrolle und allgemeinen Misstrauens. Wer Wertsachen abzwackt, ist ein Kollegenschwein und hat mit harter Bestrafung zu rechnen.

Dennoch pfeift Derrick eines Tages auf dieses ungeschriebene Gesetz. Bei der Leiche einer alten Dame findet er einen wertvollen Ring. Er riskiert den Diebstahl, schluckt das Schmuckstück und schmuggelt es nach Hause. 

Dummerweise ist der Ring richtig wertvoll und ein Erbe besteht auf der Herausgabe. Jetzt machen die Chefs unserem Team die Hölle heiß und drohen mit Lohnentzug. Das Misstrauen unter den Kameraden wächst ins Hysterische und Gewalt bricht sich Bahn.

Verzweiflungskrimi aus der französischen Unterschicht

Derrick hat einen miesen Charakter – und die anderen Figuren rivalisieren mit ihm um die Wette. Eugène ist ein cholerischer Kraftprotz, Albert ein klemmiger Soziopath, Maurice ein rätselhafter Einzelgänger, Dédé ein abgewrackter Gangster und Mike ein durchtriebener Schläger.
Der sympathischste Typ ist der junge Ahmed, der sich bei seinem ersten Einsatz seitenlang vor Ekel erbricht!

Hier eine typische Szenerie: der Tod der alten Dame.

Das Entrümpler-Team hat sich in seinem Elend eingerichtet, da wirbelt der dumme Diebstahl alles durcheinander. Anstatt sich wie üblich in Fanettes Bar zu betrinken und Tagträumen nachzuhängen, wird die Stimmung zunehmend aggressiv.

Ich darf wirklich nichts weiter zur Handlung verraten, denn der „Spaß“ (falscher Begriff), der Sog von RIP – DERRICK entwickelt sich, indem wir Stufe um Stufe hinabsteigen in den Gruselkeller der menschlichen Abgründe; metaphorisch gesprochen.

Ein  Versuch, den Dieb zu entlarven, hat schreckliche Konsequenzen.
Derricks Freundin ist ein Luder; als sie etwas ahnt, unternimmt sie eine gefährliche Aktion. 
Der vermeintliche Reichtum bringt Derrick kein Glück – in dieser dreckigen Geschichte platzen nicht nur Träume.

Das ist sauber und logisch erzählt, wird aber diese Anmutung des Bedrückenden nicht los: Alle Figuren sind widerlich, ihr Job ist widerlich, ihre Welt ist widerlich, ihre Ansichten und Ziele sind widerlich.
Das ist konsistent und konsequent, aber wer will so was sehen?!

Gut, es gibt Liebhaberinnen und Liebhaber herber Filme und trister Geschichten.
Wer bei Oliver Stones „Natural Born Killers“ noch lachen konnte, wer bei Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“ nicht mit der Wimper zuckt, wer eine Lars-von-Trier-Retrospektive auf einer Backe absitzt, der führt sich vielleicht einen Comic wie RIP – DERRICK genussvoll zu Gemüte.

Das Artwork ist erstaunlich karikaturesk und aquarellig und entschärft die Realität des Gezeigten ein wenig – anders wäre es wohl kaum zu ertragen gewesen. Stellen Sie sich dieses Werk in schwarzweißer, realistischer Line-Art vor … es wäre gemütsverfinsternd gallig.

Das Team um Gaet’s (Autor) und Julien Monier (Zeichnungen) hat in vier Jahren tatsächlich fünf Alben der Reihe „RIP“ rausgehämmert. Neben „Derrick“ bekommen auch „Maurice“, „Ahmed“, „Albert“ und „Fanette“ ihre Geschichten ausgebreitet.
Ich frage mich zwar, wie das funktionieren soll, weil nämlich Band 1 schon in sich abgeschlossen ist, aber das weiß ich dann konkret mit der Veröffentlichung des zweiten Albums …

Der Splitter-Verlag bringt die Serie offenbar schnell getaktet nach Deutschland (Band 2 ist bereits für Januar angekündigt).

Ich gewähre noch einen Eindruck, indem ich durch die erste Hälfte blättere: