Sie werden durch diesen Comic fliegen, so wie ich es getan habe. Diese im Original bereits vier Jahre alte Graphic Novel über ein jüdisches Mädchen, das im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis versteckt wird, werden Sie nur schwer aus der Hand legen können. 160 Seiten sind eine Strecke, die Sie jedoch mit Freude absolvieren werden.
Dem Team Julia Billet (Text) und Claire Fauvel (Zeichnungen) ist es nämlich gelungen, die traumatische Odyssee mehrerer Kinder durch das besetzte Frankreich der Jahre 1942 bis 1945 in ein schwereloses Abenteuer zu verwandeln, das sich weniger um Nazischrecken als vielmehr um Kunst und Erziehung dreht. Doch der Reihe nach …
Als die Lage im besetzten Paris immer bedrohlicher wird, schicken die Eltern das Mädchen Rachel in ein Kinderheim vor der Stadt, wo sie von einem möglichen Zugriff durch das Regime geschützt ist: Sèvres heißt der Ort, westlich vor den Toren der Hauptstadt gelegen. Dort herrscht eine offene Atmosphäre mit moderner Pädagogik, die die Interessen der Schüler fördert und sie auch selber den Lehrstoff bestimmen lässt.
Rachel, unsere Hauptfigur und Erzählerin, blüht auf in ihrer Funktion als Leiterin der Foto-AG. Mit einer schicken Rolleiflex-Kamera erkundet sie die Umgebung und experimentiert mit Bildmotiven.
Die ungezwungene Idylle und Freundschaft in dieser Lehranstalt erhält einen Dämpfer, als die Vichy-Regierung die jüdischen Kinder kennzeichnen und isolieren möchte. Die Schulleitung verschafft ihren Schützlingen Tarnidentitäten als „waschechte Franzosen“ – und Rachel ist gezwungen, ihren Schutzort Sèvres zu verlassen.
Die Handlung bleibt immer bei Rachel, wir erleben die Geschichte ausschließlich aus ihrer Perspektive.
Nazifreier Zweiter Weltkrieg
Kann man diesem Comic vorwerfen, die Schrecken der deutschen Besatzung zu verharmlosen, das Leid jüdischer Menschen zu bagatellisieren, weil die Darstellung dieser Themen ausgespart bleibt?
Es wäre ein Leichtes gewesen, auf den ersten Seiten eine Razzia samt Verschleppung jüdischer Familien als „Etablierung des Terrors“ einzuflechten. Billet und Fauvel verzichten darauf, sondern lassen die Besatzer unsichtbare Phantome sein.
(Als in der Mitte des Buchs auf zwei Seiten tatsächlich ein einzelner junger Nazi auftritt, sucht der bloß nach Filmen für seine Kamera und ist auch noch nett!)
Die Spannung in DER KRIEG VON CATHERINE ist als lauernder Unterton präsent und manifestiert sich zwar als Gewalt gegen Kinder, allerdings aus unerwarteter Richtung: Die Beschützer nämlich werden handgreiflich!
Der Terror der Verfolgung wirkt sich dahingehend aus, dass Rachel und den anderen Kindern das Leben zerstört wird. Auf plötzliche und willkürliche Weise – und das gleich mehrfach.
Rachel wird ihr Leben in Sèvres genommen, sie muss als „Catherine Colin“ in einer von Nonnen geleiteten Klosterschule untertauchen.
Dort geht ihr der Erziehungsstil mächtig auf den Zeiger, doch immerhin gibt es reichlich zu essen! Des Weiteren muss sie zu Tarnzwecken katholisch getauft werden und den Verzehr von Schweinefleisch erlernen. Dinge, die sie aus Gründen des Überlebens-Pragmatismus über sich ergehen lässt – und im nächsten Versteck anderen jüdischen Kindern empfiehlt.
Bald schon ist Rachel auf einer weiteren Station gelandet: einem Waisenhaus-Schloss, wo sie jüngere Kinder unter ihre Fittiche nimmt und ihre Ideale aus Sèvres weitergeben kann. Hier greifen wir auch Rachels fortdauernde Leidenschaft für die Fotografie wieder auf, die sie mittlerweile als dokumentarisch begreift.
Auch das Schloss ist nicht Rachels letzter Wohnort, denn auf pure Vermutung hin, dass die Anwesenheit jüdischer Kinder an die Besatzer verraten worden sein könnte, wird sie wieder aus diesem Leben gerissen und muss sich eine neue Existenz konstruieren und sich mit neuen Lebensumständen arrangieren.
Diesmal landet sie direkt bei Kämpfern der Résistance, versteckt in einer Hütte im Wald. Dort lebt sie mit der tüchtigen Cristina, Frau des Widerstandskämpfers Antoine, und muss sich praktische Eigenschaften wie Kochen und Haushalten draufschaffen.
Ein Jahr später dringen Gerüchte von der Befreiung von Paris in die Provinz und Rachel macht sich auf den Weg in die Stadt, um die Ereignisse fotografisch festzuhalten, hauptsächlich aber, um nach ihren Eltern zu suchen. Sie muss erfahren, dass diese seit zwei Jahren verschwunden sind und sie selber somit heimatlos ist.
Rachel kehrt nach Sèvres zurück und hilft ihren ehemaligen Mentoren, die Einrichtung zu leiten. Parallel arrangiert man für sie eine Ausstellung ihrer Fotografien, was ihr eine neue Karriere ermöglichen wird.
DER KRIEG VON CATHERINE erzählt mit wundervoll leichter Hand von Freundschaften, Loyalitäten, Leidenschaft, Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, ja selbst vom Aufkeimen der Liebe in Zeiten des Krieges.
Dass diese Erzählung so schön fließt, liegt natürlich an der cleveren Taktung von Text und Bild. Billet setzt gekonnt nur die nötigsten Worte und Fauvel nimmt sich den Raum, nie mehr als einen kurzen Text in ein Panel zu packen und auch wortlose Passagen effektiv zu inszenieren.
Auf den folgenden zwei Beispielseiten sind das nur zwei Bilder, aber es hat seinen Effekt. Erst sehen wir die stumme Ankunft der Kinder am See, auf der nächsten Seite den wortlosen Zoom auf eine auffliegende Türe. Klar wird hier auch, wie subtil Fauvel ihre Kamera beherrscht:
Diese Seiten sind lebendig und transportieren sogar eine Spannung, obwohl es „nur“ um den Alltag von Kindern geht. Die Idylle wird mit Schock kontrastiert.
DER KRIEG VON CATHERINE ist nicht nur lebensnahe Beschreibung einer Existenz im Untergrund, sondern übrigens auch ein dickes Plädoyer für eine Form der freien und selbstbestimmten Erziehung.
Die Vermutung liegt nahe, dass Rachel ihr zerrissenes Leben so gut meistert, weil sie an die Ideale der Freiheit und Eigenverantwortung glaubt (die sie vermittelt bekommen hat und nun weitergibt).
Gelobt sei ausdrücklich der unaufdringliche Stil der Zeichnerin: Der rundliche und flüssige Strich von Claire Fauvel ist nicht nur hübsch anzusehen, sondern charakterisiert seine Figuren treffsicher und sorgt für eine lockere Atmosphäre, ohne dabei kitschig zu wirken.
Hinter der Figur der Rachel Cohen alias Catherine Colin steckt die reale Mutter der Autorin Julia Billet: Tamo Cohen. Leider habe ich keine weiterführenden Informationen zu Tamo Cohen gefunden, aber das Kinderheim in Sèvres ist eine pädagogische Institution geworden.
Die Kunst der Ellipse
Unter Umständen ist DER KRIEG VON CATHERINE ein schönes „Double Feature“ mit Pascal Rabates ZUSAMMENBRUCH, der Erzählung eines französischen Lehrers, der (zur Armee eingezogen) hinter den Linien den Krieg sucht, aber nicht findet.
Beide Werke eröffnen ungewöhnliche Perspektiven der „Kriegsberichterstattung“, in der die Nazis fast nicht existent sind. Mir sind solche Stoffe lieber als die sichtbar gemachte Aufarbeitung von Gräueln, denn beide fokussieren auf die Psychologie und den menschlichem Zusammenhalt der vorgestellten Figuren.
Der Holocaust bleibt präsent im Hintergrund, in DER KRIEG VON CATHERINE ist er das große Vakuum, die unheimliche Leerstelle: Wir erfahren nie, was aus Rachels Eltern wurde oder aus ihrer Schulfreundin Sarah. Wir müssen annehmen, dass sie alle ermordet wurden.
Doch eben diese Ungewissheit wird uns im Hinterkopf bleiben, wenn wir an diese Graphic Novel denken. Das erscheint mir wirkungsvoller als ein faktisches Abhaken ihrer Schicksale.
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Zeichnerin Claire Fauvel hat zwei Jahre später (mit minimal abgewandeltem Stil) ein eigenes Szenario über die indische Freiheitskämpferin Phoolan Devi verwirklicht, wohl auch einen Blick wert. Beide Graphic Novels sind erschienen bei Bahoe Books, Link dazu HIER.
(Bitte auf die jeweiligen Cover klicken, um Pressetexte und Leseproben einzusehen.)
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Wer mag, schaut sich noch mein kurzes Vorstellvideo an.