Für diesen Comic brauchen Sie starke Nerven und einen starken Magen. Denn RIBBON QUEEN geizt weder mit blutigem Splatter noch mit der Schilderung einer widerlichen Welt.
Polizeidetektivin Amy Sun hat einen ungeheuerlichen Verdacht: Eine Gruppe von Macho-Cops betreibt ein Geheimbordell in New York, in welchem sie unglückliche Migrantinnen zur Prostitution zwingen.
Wie aber kann sie dieser Sache auf die Spur kommen? Will sie wirklich gegen ihre eigenen Kollegen vorgehen? Ist sie selber womöglich in Gefahr?
Da ist zum Beispiel SWAT-Teamleader Connolly, der ihr rät, die Sache fallenzulasen.


Amy nämlich ist erpressbar. Vor einigen Jahren hat sie auf eigene Faust einen Geiselnehmer erschossen, ohne das dafür vorgesehene Protokoll einzuhalten. Der Vorfall ist vom Department unter den Teppich gekehrt worden, aber intern wissen alle Bescheid.
Deswegen ist ihr Vorgesetzter, Captain Temple, nicht begeistert, dass Amy glaubt, Connolly habe mit dem Tod von Bella Rhinebeck zu tun – einer Frau, die in das „Beuteschema“ der kriminellen Cops passt.

Bella ist mit einer Stichwunde im Herzen aufgefunden worden, nachdem sie Tage zuvor von Connolly belästigt worden war.
Amys einziger Verbündeter ist der Pathologe Clayton, der ihr zu helfen versucht, diesen eigenartigen Tod aufzuklären.


Und wo bleibt der Horror?
Jahaa, der beginnt am Ende des ersten (von acht) Heften: Was bisher nach Polizeithriller aussah, kippt ins Grausige, als Connolly von einer unsichtbaren Macht zerfleischt wird. Seine Haut löst sich in Streifen („ribbons“) vom Körper, bis er skelettiert zusammenbricht.
Wie das aussieht, zeige ich im Instagram-Reel und einmal hier in folgenden drei Bildern, in denen der Prozess an zwei anderen Opfern beginnt:

Das sind Connollys korrupte Kollegen, die Amy in die Zange nehmen wollen. Doch Amy steht unter dem Schutz der Ribbon Queen, deren Markenzeichen es ist, böse Männer zu häuten!
Und zwar in Gestalt von Bella Rhinebeck, die von den Toten aufersteht und der Rachegöttin ihren Körper überlassen hat.
Amy stellt entsetzt fest, dass die Ribbon Queen durch Bella mit ihr kommuniziert – und plant, Amys noch lebendigen Körper zu übernehmen, um ihr Rachewerk an Frauenfeinden fortzusetzen.

Ich weiß, das alles klingt total Banane, doch dieses absurde Puzzle setzt sich erzählerisch aus clever kombinierten Teilen zusammen und hält eine elektrisierende Spannung aufrecht, wie ich sie selten in einem Horrorcomic erlebt habe.
Die fantastischen Anteile werden immer geerdet durch Amys Ringen mit ihren Gewissen und der berechtigten Infragestellung realer Machtverhältnisse.
RIBBON QUEEN ist unmöglich, aber in gewisser Weise plausibel.
Hier geht es nicht um grotesken Gore, sondern um die leider nur allzu übliche Gewalt an Frauen (sowie um das Gedankenspiel, bis zu welchem Grad Frauen sich wehren können).
In Heft 5 verlassen wir die Gegenwart und bekommen die „origin story“ der Ribbon Queen serviert: Dem Überfall auf ein germanisch wirkendes Dorf entkommt Ciara, eine junge Frau, die sich vor dem Massaker in einen verfluchten Hain flüchtet.
Dort haust der Geist der Ribbon Queen, der Ciara in Besitz nimmt – und so beginnt die Tradition der Rachegöttin, sich von Gestalt zu Gestalt durch die Zeiten zu bewegen.

Dieser Exkurs wäre eigentlich nicht nötig, doch der Comic operiert auf vielen Ebenen und öffnet viele Facetten, die ich hier nicht weiter beschreiben will.
(Es gibt noch eine Backstory vom Amy Sun und familiäre Komplikationen. Wir erleben Szenen mit ihrem Freund Clayton, die eine weitere Farbe des Horrors präsentieren. Es erfolgt auch die Aufklärung des Mordes an Bella.)
RIBBON QUEEN wirkt vom Anschein nach ruppig und wüst, erweist sich jedoch als erstaunlich feinfühlig in seinen Themen, nahezu tiefgründig.
Der Showdown schließlich verlässt den Cop-Kosmos und konzentriert sich auf puren Horror: Der Queen ist ein archaischer, formwandelnder Jäger auf den Fersen.
Über den habe ich noch nicht gesprochen und tue es auch nicht mehr, denn das würde zu viel verraten.

Attack on the Manosphere!
Ich muss gestehen, dass ich dem Autoren Garth Ennis (dem durch HELLBLAZER, PREACHER, THE BOYS und CROSSED bekannten „Krawallmeister“) diese Perspektive nicht zugetraut habe.
Sein Horrorwurf ist mit einem diversen Cast fein ausbalanciert und findet Zeit für die persönlichen Untertöne der Figuren wie auch den gesellschaftskritischen Überbau.
RIBBON QUEEN ist ein vollgültiger Horrorcomic mit feministischer Agenda und aufgehängt an modernen Anspielungen auf eine Manosphere, wie sie in den USA floriert.
Das Schweigekartell der Macho-Cops, das uns Ennis ausmalt, ist im Zusammenspiel von strukturellem Sexismus der MeToo-Debatte wie auch Mädchenhändlernetzwerken eines Jeffrey Epstein zu verstehen.

Ich bin nicht der größte Fan von Zeichner Jacen Burrows (NEONOMICON, PROVIDENCE, CROSSED), der immer reißerischen Realismus abliefert, aber niemals an sein Lookalike Steve Dillon heranreicht.
Seine Seitenkompositionen überzeugen mich selten, so auch hier, aber Burrows illustriert sachdienlich und versteht es immerhin, seine Schockeffekte wirksam auszustellen.
(Als Rheinländer kommt mir für sein Artwork das Adjektiv „fies“ in den Sinn, es mag aber auch an der unsympathischen Farbpalette liegen, in der das Werk koloriert ist.)
RIBBON QUEEN ist unangenehm durch und durch, zugleich aber in seiner Relevanz erschütternd.



Wer hat’s erfunden?
Der US-amerikanische Kleinverlag AWA (das Akronym steht für „Artists, Writers and Artisans“), auch AWA Studios genannt, ist immer für eine Entdeckung gut.
Diese Webseite präsentierte bereits ABSOLUTION und YEAR ZERO, erwähnenswert sind aber auch BAD MOTHER, RED ZONE und SACRAMENT.
Die Redaktion bei AWA ermöglicht Stoffe, die einen Schritt weg vom Mainstream sind, aber mit gefälligem Look daherkommen: Dystopien mit neuer Erzählperspektive, Kriminalstoffe mit unkonventionellem Personal, Horrorplots mit feministischem Punch – wie eben RIBBON QUEEN.
Der Comic ist (noch) nicht auf Deutsch erschienen, aber online erhältlich oder auch im spezialisierten Fachhandel.
Mein Geschäft des Vertrauens ist der „Bonner Comicladen“, der etliche englischsprachige Comics vor Ort auslegt und auch digital bestellbar bereithält.
Ich erlaube mir wie üblich, in den Band hineinzublättern, aufrufbar bei Instagram.