An diesem Krimicomic sind alle Aspekte originell: Artwork, Figuren, Handlung. Ob sich so viele Eigenheiten jedoch zu einem gelungenen Ganzen runden, werden wir diskutieren.
Dass wir uns überhaupt in einem Krimi befinden, zeigen uns die ersten fünf Seiten, die den Fund einer Frauenleiche schildern. Dann aber schlägt PRIVATE VENUS eine völlig andere Richtung ein.
Auf den nächsten 40 Seiten lernen wir unsere Hauptfigur kennen: Duca Lamberti ist nämlich weder Polizist oder Privatdetektiv, sondern Arzt. Allerdings hat er drei Jahre im Gefängnis gesessen und seine Zulassung verloren, weil er einer alten Dame Sterbehilfe geleistet hat.
Das soll uns diesen Charakter als sympathisch verkaufen, obwohl Duca eher grobschlächtig in Erscheinung tritt: Er raucht und trinkt, ist ein Macho und hat kein Problem damit, andere Leute herumzukommandieren.
Hier oben sehen wir ihn mit Davide, dem Sohn des Industriellen Auseri. Auseri hat Duca als Mann der Tat engagiert, um Davide vom Alkoholismus zu kurieren.
Der eigene Vater kannte kein anderes Mittel als Prügel, nun nimmt sich Duca des jungen Mannes an. Statt auf Strenge setzt er auf die ganz lange Leine.
Sie trinken zusammen, sie feiern zusammen, sie verbringen eine Nacht mit Prostituierten zusammen– und Duca findet tatsächlich einen psychologischen Zugang und das Motiv für dessen Sucht.
Beim Bummel über den Friedhof öffnet sich Davide dem unkonventionellen Suchttherapeuten und gesteht, was ihn seit einem Jahr aufwühlt.
Davide hatte einen romantischen Tag mit einer jungen Frau verbracht. Alberta verdiente sich als Prostituierte Geld dazu, war jedoch im Moment auf der Flucht vor einer Mädchenhändlerbande, die sie in ihre Dienste zwingen wollte.
Das Schicksal führte sich mit dem jungen und reichen Davide zusammen, der sie aus der Stadt hätte bringen können.
Denn das ist, worum Alberta ihn immer dringlicher bittet: Fahr mich nach unserem Ausflug nicht zurück nach Mailand, sondern flieh mit mir nach Neapel!
Davide hält die junge Frau für überspannt und lässt sie in einem Vorort von Mailand aus dem Auto. Wenig später liest er in der Zeitung von ihrem Selbstmord – und wir erkennen, dass es sich bei Alberta um die Frauenleiche vom Anfang handelt.
Duca redet Davide erst mal ins Gewissen, er sei nicht schuld am Tod von Alberta. Lieber sollten sie beide gemeinsam ihre Wut und Trauer darauf verwenden, diesen angeblichen Selbstmord nochmal unter die Lupe zu nehmen und sich an den Kerlen zu rächen, die Alberta verfolgt haben.
Tatsächlich taucht in Davides Besitz eine Filmrolle auf, die Alberta gehört hat und Anhaltspunkte liefert.
Duca, dessen Vater Polizist war, hat Verbindungen zur Polizei und wendet sich an den befreundeten Kommissar Cárrua.
Der entwickelte Film zeigt Nacktfotos von Alberta und ihrer Freundin Maurilia. Offenbar hatte Alberta dem Fotografen die Negative nach dem Fotoshooting entwendet, um ein Beweismittel gegen die Bande in Händen zu haben.
Dann musste sie fliehen, begegnete Davide, verlor in seinem Auto den Film, landete wieder in Mailand und fiel der Bande in die Hände, die ihre Ermordung als Freitod inszenierte.
Wo liegt das Problem?
Jetzt hat Zeichner Paolo Bacilieri alle Spielsteine auf dem Brett verteilt – bis auf den letzten, den wir noch diskutieren werden.
Bei PRIVATE VENUS handelt es sich übrigens um seine Adaption eines Kriminalromans von Giorgio Scerbanenco von 1966: „Venere privata“, in deutscher Erstauflage unter dem Titel „Leichte Mädchen sterben schwerer“ erschienen.
Das ist so’n zeittypisch süffisanter Aphorismus. Total griffig, keine Frage, aber auch schwer despektierlich in seiner Haltung Frauen gegenüber.
Ich will hier gar nicht „frauenfeindlich“ schreien, aber wir haben es hier mit Sechzigerjahreschreibe zu tun – und die hat Frauen gerne zu Opfern gemacht. Das ist jetzt auch mein Problem mit diesem Comic.
(Muss nicht Ihr Problem sein, muss überhaupt kein Problem sein, aber ich kann es nicht unverhandelt lassen.)
Denn um den Fall klären zu können, nimmt Duca das Gesetz selber in die Hände – und zwar mit Hilfe eines weiblichen Lockvogels!
Praktischerweise trifft man auf Livia, die a) eine Bekannte von Alberta war und b) auch immer schon mal als Prostituierte arbeiten wollte.
So spannend und grafisch ansprechend Bacilieri das Finale von PRIVATE VENUS inszeniert, er folgt dem Sechzigerjahre-Plot: Livia läuft wochenlang als Stricherin durch die Straßen Mailands, hat Sex mit etlichen Männern und wartet geduldig auf den Anwerber der Mädchenhändlerbande … bitte?!
Bitte?!
Adaption schön und gut, aber ich darf schon eine Augenbraue hochziehen. Zumal des Weiteren ein „Giallo“-Aspekt ins Spiel kommt.
Hiermit meine ich die italienische Vorform des Slasher-Movies, die auf reißerische Weise Brutalität ausstellt, worauf es auch bei PRIVATE VENUS hinausläuft.
Livia gelingt der Kontakt zu den Mördern von Alberta und Maurilia. Man möchte auch sie zu einem Fotoshooting überreden:
Die letzten 30 Seiten ergeben einen eigenwilligen, aber meisterlich arrangierten Comickrimi, der seinesgleichen sucht. Zugleich erleben wir psychische wie physische Gewalt gegen Frauen, die auf den Magen schlägt.
(Und das sage ich als jemand, dem „Tintenblut“ in den meisten Fällen nichts ausmacht.)
Es gibt hier echte Schockmomente, die man wohl als „Giallo“-Referenz verbuchen muss oder kann:
Getrübt wird für mich der Schluss des Comics ebenfalls durch Ducas gewaltsame Ergreifung der Täter, genauer: die Illustration dieser Sequenz.
Bacilieris Strich zeigt sich plötzlich fahrig und schludrig, noch dazu verteilt er aufgescheuchte Tiere und einen Bauernjungen über die Seite (weil dieser Showdown auf einem Hof stattfindet).
Auch seine teils bizarren Soundwörter formen sich mit dem prominenten „Wumpp!“ in der Mitte zu einer unschönen Komposition. Weshalb die komödiantische Gestaltung dieser einen Seite?!
Meine Vermutung: Um durch diese ungelenke Komik tatsächlich einen Bruch zur vorherigen Seite zu kreieren.
Dort findet sich nämlich das memorabel fiese Schockbild von PRIVATE VENUS, das ich Ihnen nicht zeigen werde.
Entschuldigung, zurück zu einem Fazit:
Wenn man so will, geht diese Krimigeschichte gut aus. Aber im Endspurt werden uns einige Zumutungen präsentiert. Das kann man goutieren, ein harter Stoff darf uns durchschütteln.
Betont sei, dass ich nicht von diesem Werk abrate, aber seien Sie sich im Klaren, worauf Sie sich einlassen. Das ist ein dreckiger Krimi, der sich in einer kunstvoll gestalteten Graphic Novel versteckt.
Dieser Paolo Bacilieri macht Comics wie sonst niemand und zählt zu den interessantesten europäischen Kreativen. Ich danke avant ausdrücklich für ihre Veröffentlichungen. Hier noch der Link zur Verlagsseite bei avant (dort auch Leseprobe einsehbar)
Hingewiesen sei noch auf sein vorheriges Werk FUN, das ich vor sechs Jahren an dieser Stelle extensiv analysiert habe. Dieser Comic ist völlig anders gelagert, verfügt jedoch über sämtliche Bacilieri-Manierismen – und findet vielleicht Ihr Interesse.
Schlussendlich biete ich mein Geblätter durch die erste Hälfte von PRIVATE VENUS an, um einen erweiterten Eindruck von der Kunst dieses Zeichners zu geben.