Ich bin auf jeder Seite verblüfft, wie dieser Comic seine Geschichte sowohl erzählerisch wie auch grafisch inszeniert. Autor Tim Krohn und Zeichner Chrigel Farner präsentieren uns ein Märchen aus der Alpenwelt, das in hemmungsloser Nostalgie schwelgt, doch immer wieder ironisch gebrochen wird.
(Schauen Sie doch sofort mal in die Leseprobe auf der Verlagsseite.)
Die Schweizer Edition Moderne spendiert dem Kreativgespann (dank Kulturfördergeld) ein üppig aufgemachtes Hardcoverbuch im Retrolook. Sieht aus wie ein altes Märchenbuch, fühlt sich an wie ein altes Märchenbuch – aber inhaltlich ist es der reine Quatsch, herrlich!
Im Fürstentum von Sursilvanien hat ein Gärtnerpaar drei Söhne: den schießwütigen Jäger Lupus, den axtschwingenden Holzfäller Ours und den tagträumenden Faulpelz Pippin. Der Fürst erteilt ihnen die Aufgabe, einen Baum mit goldenen Äpfeln zu bewachen, von dem nachts Früchte verschwinden.
Lupus und Ours scheitern der Reihe nach kläglich, nur Pippin entdeckt eine Spur. Ein goldener Reiher pflückt von dem Baum und verschwindet mit seiner Beute. Der Fürst befehligt Pippin, in die Fremde zu ziehen und ihm den magischen Vogel zu beschaffen.
Das ist Lupus, wie er sich bereit erklärt, den Dieb zu Strecke zu bringen.
Pippin aber tut nichts lieber, als im Gras zu liegen und mit den Spatzen zu plaudern. Er ist todunglücklich darüber, ins Abenteuer ziehen, ja überhaupt seinen Allerwertesten erheben zu müssen, auch wenn ihm der Fürst dafür dereinst seinen Thron verspricht! Pippin graut vor jeder Arbeit, selbst wenn es sich um das höchste Amt im Lande handelt, das eigentlich jeder gerne innehätte.
Der Charme dieses Comics liegt darin, dass Pippin die Regentschaft tatsächlich in den Schoß fallen wird, obwohl er auf laufenden Band alles falschmacht. Er bräuchte bloß auf die sprechende Riesendohle zu hören, die Pippin sowieso schon den Hintern nachträgt und zum Helden wider Willen macht.
Jetzt spoilere ich aber nicht weiter, sondern springe zurück zum Anfang, um meiner Begeisterung für die Charakterisierung der Figuren Ausdruck zu verleihen.
Nach Lupus wird uns der Kraftprotz Ours vorgestellt:
Der zarte Pippin hat für die radikale Vorgehensweise seines Bruders kein Verständnis, sondern sorgt sich um seine geliebten Spatzen. Denn sein Lebensinhalt ist ein buddhistisches Einssein mit der Natur, unbehelligt von den Normen des Alltags und den Konventionen des Erwerbsunterhalts.
Folgende Seite zeigt Pippins Trauer über die Verwüstung des fürstlichen Gartens durch seine Brüder, koloriert in apokalyptischem Beige. Sein Vater tritt hinzu und macht ihm die üblichen Vorwürfe, die jedoch an Pippin abprallen.
Weshalb der Vater grüne Haut hat, bleibt ein Rätsel. Wahrscheinlich, weil er Gärtner ist und mit Grünzeug zu tun hat. Und damit willkommen zu den grafischen Absonderlichkeiten dieses Werks! Sie haben hoffentlich schon die verrenkten und überdramatisierten Posen Pippins registriert …
Ich zeige noch eine Sequenz mit der sprechenden Riesendohle, ohne die Pippin nicht weit gekommen wäre: Hier treffen beide in den Bergen aufeinander, wo die Dohle ihr Angebot unterbreitet. Pippin ist zunächst alles egal, dann wird er hellhörig, weil er nicht mehr wird laufen müssen.
(Achten Sie nebenher darauf, wie gekonnt Farner auch die Landschaft in Szene setzt.)
Gag am Ganzen ist noch, dass Pippin sogar zu faul zum Zuhören ist, denn was ihm die Dohle rät, wird er schnell wieder vergessen und sich konstant weiter als uninteressiert am eigenen Märchen zeigen.
Lob der faulen Socke
Ich wüsste gerne mehr darüber, wie dieser Comic entstanden ist. Zeichner Chrigel Farner bedient sich vermutlich im Fundus bekannter Märchenillustrationen und Illustrationsklassikern des 18. Jahrhunderts (allein seine Brüder Lupus und Ours haben etwas deutlich Max-und-Moritziges).
Schon seine grotesken Herrscher-Porträts sind das Geld wert!
Das feiste Potentaten-Paar aus dem heimischen Sursilvanien, die pinke Diktatoren-Hexe aus Surmiranien, die spitznasige Zausel-Majestät aus Puterien, der bettlägerige Chef-Kapitän aus Valladien … sie alle gehören in ein Kuriositätenkabinett, als wolle Farner sich lustig machen über solch liebgewonnene Klischees.
Die Greisenkarikatur des Herrschers von Puterien spricht für sich, lustig auch der Running Gag „darauf steht der Tod“, den wir mehrfach zu hören bekommen. Pippin nämlich stolpert von Aufgabe zu Aufgabe – die im Grunde alle dieselbe Aufgabe sind: einen goldenen Reiher soll er fangen, dann einen goldenen Hengst und schließlich noch eine goldene Jungfrau!
PIPPIN DER NICHTSNUTZ ist ein Märchen, aber zugleich dessen Dekonstruktion.
Die Hauptfigur lädt nicht zur Identifikation ein, sondern bleibt passiv und am Geschehen desinteressiert. Die Nebenfiguren bemühen sich zwar, aber laufen ins Leere und bewirken ebenfalls nichts.
Es gibt nur Konsumwünsche bzw. Herrschaftsansprüche, das sind die Träume der Menschen. Pippin ist nur ein Narr, Spielball fremder Motivationen, der am Ende nur Glück hat und zurückfallen darf in seine unbeschwerte Kindheit.
Letztlich ist auch die Moral völlig wurscht: Irgendwer herrscht, mein Gott, und irgendwer liegt auf der faulen Haut. Mehr gibt es nicht zu sagen.
Vom Artwork her erinnert mich Zeichner Farner an den fränkischen Illustrator Michael Mathias Prechtl (falls den noch wer kennt). Der altmodische Stil, die Verwendung der Materialien, aber auch die skurrilen Überzeichnungen und motivischen Kombinationen zeugen von Verwandtschaft. Finde ich sehr erfrischend, das mal im Comic zu sehen!
Münchner Prominenz auf Prechtls „Oktoberfest“.
Autor Tim Krohn übrigens ist ein deutsch-schweizerischer Doppelbürger und hat etliche Bücher und Hörspiele verfasst. Seine Webseite ist komplett spinnert, klicken Sie doch mal. Ein Himmel, in dem Bienen herumschwirren! Neben kurzen Infos in den Ecken fällt Ihnen vielleicht auf, dass sie die Bienen anklicken können – es beginnt eine Lesung eines seiner Werke.
Spatzen-Hirne an die Macht!
Die eigentlichen Helden dieses Werks sind die zahlreichen Spatzen, die uns ab der dritten Seite begegnen und fast leitmotivisch begleiten. Als Pippin hinaus in die Welt geht, folgt er seinem Spatzenschwarm. Er füttert sie und wärmt sie in winterlichen Gefilden, seine Spatzen lenken Wachen ab, helfen ihm bei einer Aufgabe, befreien eine Prinzessin und erretten ihn aus einem Brunnen. Klarer Fall von „Schwarmintelligenz“.
PIPPIN DER NICHTSNUTZ ist eher „The Big Lebowsky“ als alles von den Gebrüdern Grimm oder Hans Christian Andersen. Über welche Erzählung kann man das schon sagen?! Dieser Comic befriedigt die geweckte Sehnsucht nach nostalgischen Märchen, aber auch solche Leser*innen, die dieses Genre gerne auf den Kopf und in Frage gestellt sehen möchten.
PIPPIN DER NICHTSNUTZ ist nicht bloß Persiflage, sondern sabotierte Persiflage. Um mich verständlicher auszudrücken, muss ich einen Vergleich bemühen: So wie Helge Schneider seine Songs, Filme und Lesungen dekonstruiert (nämlich mit Bruch der Strukturen, nicht nur durch komische Einfälle), so sprengt dieses Werk unsere Erwartungen.
Ich find’s sensationell.
In einem kurzen Reel-Clip picke ich noch ein paar schöne Stellen zur Ansicht heraus: