Der Schweizer Jan Bachmann ist ein Debütant in der Comiclandschaft. Sein schräges Erstlingswerk heißt „Mühsam – Anarchist in Anführungszeichen“ und wurde überall in höchsten Tönen gelobt. So auch hier, also keine Überraschung. Dennoch möchte ich zwei Punkte hervorheben, die diesen Comic besonders machen und gelingen lassen.
Erstens das Artwork
Alle Welt sagt, Bachmann zeichne wie Joann Sfar. Das ist nicht falsch, aber mir liegt zu wenig von Sfar vor, um das vertiefend betrachten zu können. Ich mutmaße, Bachmann geht weit über Sfar hinaus – in teils radikaler Weise. Bachmann variiert seinen Stil in unvorhersehbaren Nuancen. Mal ist ein Panel ausgearbeitet, mal tut der Künstler nur das Nötigste, um grafisch verstanden zu werden, mal setzt auch nur ein paar fette Tuschestriche, als habe er keine Lust auf mehr gehabt.
Beginnen wir mal bei seiner Schilderung des Oktoberfests:
Welch herrlich wilder Wahnsinn, auch dank der farbenfrohen Kolorierung!
Ein Rausch, wie man so treffend sagt … die feierwütigen Menschen hierin fallen orgiastisch übereinander her, kennen keine Distanz mehr. Mühsam mittendrin, der Kauz mit der Brille, finden Sie ihn? Bachmann zoomt uns heran an seinen Protagonisten, der sich im letzten Panel mit der Welt versöhnt zu haben scheint. Ist Anerkennung nur im Rausch zu haben?
Denn danach strebt Mühsam, wie wohl jeder Künstler. Entlarvend ein Eintrag aus dem Tagebuch, aus dem Bachmann eine Seite Profilneurose destilliert:
Zur Enttäuschung gesellt sich noch ein Köter, der den Künstler anpinkelt. Das ist mir fast zu dicke (ein seltener Vorfall in diesem Buch), aber die stoische, kerzengerade Haltung Mühsams in der Lache versöhnt mich schon wieder.
Dann falle ich jedes Mal vom Stuhl, wenn ich sehe, wie Bachmann Wolken zeichnet. Das sind doch keine Wolken, das sind fischartige Gebilde oder langgezogene Hahnenkämme – oder ist es eine Hommage an märchenhafte Kinderbuchillustrationen?
(Lyonel Feiningers KIN-DER-KIDS mit ihrer belebten Natur schießen mir in den Sinn.)
Absurd, fantastisch und zugleich so eingängig, dass man Wolken nie wieder anders sehen möchte!
Und jetzt kommen wir zu einer Schlüsselszene auf zwei Seiten. Mühsam begrübelt, grau auf dem Bette liegend, sein Leben. Nur der ausstehende Tod seines Vaters lässt ihn auf ein Auskommen hoffen. Zeitgleich killt er ein Insekt, das nicht lebenstauglich aussieht, aber kunterbunt herumtanzt.
Der Tod des Tiers leitet über in posthume Fantasien, hier fällt auch der Titel des Bandes („Anarchist in Anführungszeichen“, ein Prädikat, das ihm die Presse angehängt hat).
Beachten Sie das merkwürdige Zusammenspiel von dicker Tusche und feinem Stift.
Haben Sie dem Ablauf folgen können, vor allem auf den ersten beiden Seiten?!
Bachmann arbeitet hier mit schwindelerregenden Perspektivsprüngen und absurden Bild-Text-Kompositionen. Ich möchte genauer hinschauen und lade Sie ein, mal ein bisschen mit zu interpretieren.
Bildreihe eins: Noch grüßt von draußen das grüne Leben, dann ziehen wir uns in Mühsams Gedanken zurück. Die schwirren herum wie das fantastische Insekt … und übermannen ihn im dritten Bild!
Bildreihe zwei: Die kunstvoll gewählte Perspektive von der Zimmerdecke aus wirkt, als habe sich ein riesiges Insekt auf Mühsams Leib gelegt, dazu spricht der Text von Anständigkeit. Kafkaeske Assoziationen schleichen sich in den Raum, dann erfolgt der brutale Gegenschnitt in Bild vier: Mühsams kalter Blick fasst seinen Gegner ins Visier und mit einem …
Bildreihe drei: … antiklimaktischem „Klapp!“ ist das Insekt von der Bildfläche geräumt, zugleich macht Mühsam Frieden mit seiner vatermörderischen Vision eines guten Auskommens.
Mühsam seziert seine Pläne wie das tote Insekt auf der zweiten Seite. Das im Wege stehende gute Gewissen ist besiegt, es geht schließlich um mehr, seinen Ruf und Ruhm als Schriftsteller.
Mühsam will keine Eintagsfliege bleiben, mögen die auf ihn verfassten, hämischen Nachrufe in Rauch aufgehen!
Dieser Comic ist besonders, nicht nur seines speziellen Artworks wegen.
Nächster Punkt.
Zweitens der Text
Bachmann verlässt niemals Mühsams Perspektive. Er bedient sich der Tagebuchaufzeichnungen des Künstlers, welche er in einen imaginierten Kontext stellt, heißt: Bachmann erfindet Bilder dazu. Betrachten wir folgende Seite:
Mühsam beschreibt Wetter und Landschaft. Bachmann streckt das auf vier Bilder und lässt uns Leser aus der Vogelperspektive mitlaufen, immer Mühsams markanter Nase nach. Aus einer Banalität wird ein enorm komischer Spaziergang, noch gesteigert durch die fiktive Begegnung mit den Passanten in der unteren Bildreihe: Dem frommen „Grüß Gott“ schleudert Mühsam ein höfliches, doch anarchistisches „Weder Gott noch Meister“ entgegen, ein Bekenntnis seiner Überzeugungen.
Diese sechs Bilder lassen einen Mühsam lebendig werden, den es so nie gab!
Wir haben es immer mit Bachmanns Mühsam zu tun, und gerade darin liegt der Zauber dieses Albums. Denn darum geht es: uns eine Künstlerbiografie unterzujubeln, die kaum eine ist!
„Mühsam – Anarchist in Anführungszeichen“ schildert nämlich nur sechs Wochen im Leben des Erich Mühsam – und noch dazu sechs recht ereignislose!
Von Ende August bis Anfang Oktober 1910 verfolgen wir Mühsam bei einem Kuraufenthalt und einem Abstecher in die Schweiz bis zur Heimkehr nach München, wo er neun Jahre später zur zentralen Figur der Münchner Räterepublik (1919) werden wird.
Dass Bachmann uns belanglose Tage aus Mühsams Lebensmitte vorführt anstatt die ‚Highlights‘ aus seinem politischen Wirken (wie es jede andere Biografie getan hätte), erweist sich jedoch als Coup: Mühsam entsteht vor uns als Mensch und nicht als historische Figur. Bachmann kreiert eine Biografie, die sich den Regeln der Biografie verweigert.
Das eben macht paradoxerweise neugierig auf Mühsams weiteres Leben, das Sie gerne auf Wikipedia studieren können.
Es fragt sich, ob Jan Bachmann mit diesem Buch den perfekten Zugang zu biografischen Erzählungen überhaupt gefunden hat. Nichts finde ich nämlich langweiliger als die chronologisch abgearbeitete Vita berühmter Persönlichkeiten.
Ziehen wir zum Vergleich beliebte Filmbiografien heran (‚biopics‘):
RAY über Ray Charles oder WALK THE LINE über Johnny Cash oder WIE EIN WILDER STIER über Jake LaMotta – hier werden Stationen abgehakt, diese Lebensberichte lassen mich kalt.
Positivbeispiel ist für mich hingegen AMADEUS, der Mozart-Film von Milos Forman: Der nähert sich seiner Hauptfigur zunächst nur indirekt (Salieri), dann präsentiert er uns das Genie zu Beginn seiner Karriere als albernen Kindskopf, der Röcken nachjagt (wortwörtlich). Die erste halbe Stunde von AMADEUS macht mir immer wieder Gänsehaut, so genial ist das komponiert, jawohl.
Aber zurück: Bachmann ist so frech, uns nur einen läppischen Ausschnitt eines Lebens vorzuwerfen und dann noch comicartig verzerrt. Ist das überhaupt zulässig? Natürlich.
Marie Schröer hat es im „Tagesspiegel“ perfekt wie folgt formuliert:
„Der Comic wird so zur doppelten Hommage und macht Hoffnung für die Zukunft der Beziehung zwischen Literaturvorlage und Comic. Das Motto, frei nach Mühsam und Bachmann: Anarchie statt Adaption!“
Bleibt die Frage: Ein verkrachter Künstler ringt mit seiner Gesellschaftshaltung, seinen Finanzen und seiner Sexualität. Wieso soll ich das lesen? Was gibt uns das heute?
Gegenfrage: Ist das denn inzwischen so anders?
Künstlerinnen und Künstler sind fast immer knapp bei Kasse, leben im Spagat zwischen Anpassung und Verweigerung, loten die Grenzen gesellschaftlichen Zusammenlebens aus – heute womöglich mehr denn je.
Auch hierzu eine Seite aus MÜHSAM, die Bachmann garantiert mit Kalkül auf aktuelle Diskussionen gestaltet hat. Dabei sind’s Zitate aus dem Jahr 1910!
Man hat das knapp 100 Seiten starke Album auf kräftigem Mattpapier rasch ausgelesen (immerhin 19 Euro), aber man bereut weder Preis noch Tempo. Erschienen ist der Band in der Schweizer Edition Moderne, wo es heißt, Bachmann arbeite an einem „Prequel“ zu seinem Protagonisten: Wir springen in der Zeit noch weiter zurück, zu Mühsams Kommunetagen auf dem Monte Verità im Jahre 1900.
Auf die Weise kann Bachmann noch mehrere Bände vorlegen! MÜHSAM kann der Beginn einer neuen Epoche im Biografie-Comic werden: Wie die Staffeln einer Serie könnten wir die Phasen seines Lebens nachverfolgen …
Wer da draußen aufgepasst hat, nimmt nun flugs Papier und Stift zur Hand und macht sich daran, dieses Wunderrezept umzusetzen: Zeichnet uns Iggy Pop in seiner Junkiephase, Heinrich Böll in amerikanischer Kriegsgefangenschaft oder Markus Söder auf dem Faschingsball!