MISTER MIRACLE (Panini)

Mit den brüllalbernen Namen müssen wir leben. Die Charaktere heißen Scott Free, Big Barda, Highfather, Granny Goodness und Darkseid. Die hat sich Jack Kirby 1971 in zehn Minuten an seinem Zeichenbrett ausgedacht.
Darkseid (kein Schreibfehler, spricht sich aber wie ‚Darkside‘) ist natürlich der Oberbösewicht, ein sprechender Name, der auch sehr gut zu Darth Vader gepasst hätte (hier war Kirby schneller!).

Ich mache mich schon wieder lustig über Superhelden, es ist ein Reflex, ich bitte um Verständnis. Ich bin gerade mal 30 Seiten weit im gefeierten MISTER MIRACLE von Autor Tom King und Zeichner Mitch Gerards, 30 Seiten von  300, und meine intellektuellen Abwehrkräfte schlagen schon an. Das wird schwierig, das sollte eigentlich eine genussvolle Lektüre werden.

Denn Tom King ist zu Recht einer der heißen Schreiber momentan. Er schreibt BATMAN REBIRTH, hat 2016 die phänomenale VISION-Miniserie vorgelegt und ist Autor der wahrscheinlich unbeachtetsten Graphic Novel über die Kollateralschäden der modernen Kriegsführung: In SHERIFF OF BABYLON schildert King (ebenfalls illustriert von Mitch Gerards) bedrückend realistisch die Besetzung des Irak im Jahre 2004.

Also was geht ab hier: MISTER MIRACLE?

 

Ich finde den Einstieg erstaunlich abgeschmackt: Mister Miracle alias Scott Free lebt mit seiner Frau, der Furie Big Barda, in Los Angelses, ist in der Krise, er hat versucht sich umzubringen, er hat Halluzinationen, er wird auf seine Heimatwelt New Genesis gerufen.
Das klingt ja nicht übel, aber erzählt wird uns das in Flashbacks und verschwommenen Fernsehbildern (in welcher Welt sind Fernsehbilder heutzutage noch verschwommen?!), dazwischen taucht 24-mal (ich hab gezählt) ein ominöses Schwarzpanel mit der Bemerkung „Darkseid ist.“ auf.
Jaja, die Bedrohung naht! Nerv nicht!

(Ich habe Doppelseiten hochauflösend fotografiert. Sie können alle Abbildungen anklicken, dann den Vergrößerungsmodus suchen und die Seiten lesen!) (Huch! WordPress hat einen neuen Vergrößerungsmodus, der von normal direkt auf ZU groß springt. Sie können – bei Windows-PCs – mit der ‚Str‘-Tast und der + bzw – Taste schrittweise steuern!)

 

Zudem ist der komplette Comic in einem sturen Layout von neun Panels pro Seite gestaltet. Neun verdammte, kleinformatige Panels pro Seite, das macht 300 x 9 = 2.700 elende kleinformatige Panels, bis ich hier durch bin. Das macht mich jetzt schon wahnsinnig!

Das soll uns Leser wahrscheinlich wahnsinnig machen! Strukturelle Entscheidung, um die monotone Unentrinnbarkeit dieses Daseins zu transportieren und so … schätze ich mal. Es nervt! (Da setzt ich mich lieber vor meinen Fernseher und schau mir verschwommene Bilder an.)

So, jetzt hab ich vier von zwölf Heften durch. Es herrscht Bürgerkrieg draußen im All, der Highfather stirbt, es wird gekämpft, es werden sich die Hände schmutzig gemacht; Scott und Barda obsiegen fürs Erste, kehren auf die Erde zurück. Scott muss als Mister Miracle wieder auf die Arbeit (Entfesselungstricks vorführen), Barda bestellt einen Gemüseteller für das Tribunal.
Orion, Scotts „Bruder“ und neuer Highfather, bezichtigt ihn nämlich, Agent für Darkseid zu sein und die zerstörerische „Anti-Lebens-Formel“ in sich zu tragen, was Scott so depressiv sein lässt undsoweiterundsofort …

Ich will die Handlung nicht näher beschreiben, aber King und Gerards packen kleine Humorhäppchen in diesen Superheldencomic. Das ist ganz nett, könnte man aber auch als deplatziert und kokett lesen. Hm, hm, hm.
Noch vertraue ich Autor King, dass er mir die Zutaten bald mal rundlutscht!

(Uff, vier von zwölf Heften, hab ich schon ein Drittel, hab ich schon 900 kleine Bildchen bewältigt? Das Panelraster und ich, wir werden keine Freunde mehr in diesem Comic.)

Im Folgenden werde ich die Handlung spoilern (wer den Comic noch lesen möchte, bricht besser ab). In Heft 6 beschließen Scott und Barda, sich ihrem Todesurteil zu widersetzen: Sie channeln nach New Genesis, um gegen Orion zu kämpfen.
Wie in einem Videospiel metzeln sie sich durch Gefahren-Levels: Laserlabyrinthe, Fallgruben, Wasserbecken, Drahtseile, schrumpfende Räume – als sie im Thronsaal ankommen, ist Orion bereits tot! Darkseid war vor ihnen da.

Kämpfen, dann Wohnung renovieren: Mister Miracle und Big Barda auf dem Weg zumThronsaal.

 

Mal davon abgesehen, dass das keinen Sinn macht (sie hätten sich direkt in den Thronsaal ‚beamen‘ können), mal abgesehen davon, dass hier kaltschnäuzig en passant Gegner geschlachtet werden (bin kein Freund dieses lakonischen Gewalthumors), ist die komplette Episode dialogisch unterlegt von einem Gespräch zwischen Scott und Barda, die die Umgestaltung ihrer Wohnung diskutieren (zwischendrin verrät Barda noch, dass sie schwanger ist!).
Wenn das nicht Comedy ist, dann weiß ich auch nicht (das war sarkastisch gemeint).

Natürlich ist das ein toller Trick, um Action originell zu untermalen, aber doch nicht auf 20 Seiten. Das nennt man im Comedygeschäft ‚Melken‘, was nichts Gutes bedeutet, denn jedes  Gagmuster verbraucht sich schnell, in diesem Comic ist es nach drei Seiten abgefrühstückt und wirkt müde.

Halbzeit!

In der Mitte dieses Sammelbandes sind mittlerweile alle Figuren tot bis auf Scott, Barda, Darkseid und den neuen Player, das gemeinsame Baby. Ich ahne jetzt, was Autor King vorhaben könnte: Will Darkseid sich das Baby holen? Geht es um das große Drama: Väter, Söhne, Entfremdung in Spandexhosen?

Zunächst eine gute Nachricht: Das Baby ist ein Junge und bekommt einen normalen Namen: Jacob. Die Comedy aber geht brachial weiter: Wir schneiden von blutigen Szenen des Schlachtengetümmels zu ruhigen Kinderbetreuungs-Szenarien. Scott und Barda wechseln sich tageweise in der Kriegführung ab (sie telefoniert ihm ‚auf der Arbeit‘, was der Kleine gerade so macht).

Montag daheim, Dienstag in der Schlacht. Achten Sie schon mal links auf eines dieser ‚verzerrten Panels‘ (Nummer 7).

 

Jacob lernt laufen, Jacob lernt sprechen, derweil seine Eltern Darkseids anderen Sohn Kalibak an den Verhandlungstisch zwingen. Und tatsächlich: Darkseid bietet Frieden an, wenn er seinen Enkel Jacob bekommt und (wie Scott) auf dem Höllenplaneten Apokolips aufziehen darf.

Elternschaft ist die Hölle

Wir kommen ans Ende: Kapitel 11 hat mir gefallen, da geht es mal zur Sache, da kommt es endlich (!) zur Konfrontation mit Darkseid. Aber dann schleppt sich das Schlusskapitel 12 wieder in diesem Krypto-Modus daher, dass man sich fragt: Was ist hier eigentlich real? Was war jemals real? Ist das die Absicht von MISTER MIRACLE: alles in Frage stellen?

Tom King ist kein leicht verdaulicher Autor, nie gewesen. Tom King ist.
(Haha, ich wollte auch mal einen setzen.)

Mein generelles Gefühl ist, dass Tom King mal cool und lustig sein wollte. Das ist ihm missraten. Das ist nicht sein Metier. Wer komödiantische Elemente derartig ausdehnt, unterhält mich nicht, er ermüdet mich. In meinen Augen ist das Humor mit der Brechstange (oder in diesem Fall mit 3.600 kleinen Bildchen). Bleh!

Die Idylle eines letzten Tages, links mit „Könnsemal ein Bild von uns machen?“-Späßen.

 

In seiner VISION-Serie hat King auf ernste Weise mit dem Familienthema alles durchgespielt, was geht. Und da ist es erwachsen, brutal, geht an die Nieren, hat tragische Tiefe. In MISTER MIRACLE ist es Kasperletheater.
Soll das ein Boulevardstück um Superhelden mit drolligen Namen und dysfunktionalem Elterhaus sein?

Wollte King eine grafische Superhelden-Dramedy erproben?!
Sollte das von vornherein gar eine Superhelden-Parodie sein?!
Kommt mir nicht so vor, hat King nicht so markiert! Der Band beginnt mit dem ausgebrannten und psychisch verwirrten Mister Miracle alias Scott Free, der in diesem Zustand in einen galaktischen Erbfolgekrieg hineingezogen wird.

Das ist alles andere als lustig, macht aber schon das Ungleichgewicht deutlich, in das der Band recht bald kippt. Dann WIRD es lustig, aber auf befremdliche Weise. Womöglich hat sich Tom King dramaturgisch total verplant, weil das Komödiantische Neuland für ihn ist.

Mensch, hätte King diesen Stoff nicht auf der Hälfte der Strecke hindengeln können? Ich glaub, es wär geil geworden. Doch ‚gag-politisch‘ ungeschickt hat er sich entschieden, die Handlung in diesen zwölf Kapiteln, zwölf Szenen oder zwölf Bildern zu inszenieren (Die Depression / Der Krieg / Das Tribunal / Der letzte Tag / Orions Festung / Die Geburt / Krieg und Elternzeit/ Verhandlungen / Der Kindergeburtstag / Darkseid / Abspann) – die müssen dann auch zwölfmal gefüllt werden und das streckt und ziiiieht siiich
Zumindest humoristisch bricht das MISTER MIRACLE den Hals.

Zweiter Tag der mühsamen Verhandlungen mit Kalibak.

 

Ich les‘ jetzt noch mal Peter Laus schöne Rezension auf Comic-Report. Der hat es doch verstanden, oder? Hmm. Mir scheint, er bleibt an der Oberfläche. Da hat King doch mehr reingepackt.

Zwischendrin sterben doch Figuren, die später wieder mitwirken. Und was sollen diese immer wieder (von Anfang bis Ende des Bandes) eingestreuten „Zerrbilder“, verzerrte Panels, die im Comic für etwas zu Hinterfragendes, nicht so Seiendes stehen!

Ich ruf mal Übersetzer Josef Rother an (den kenne ich zufällig) und bitte ihn, mir MISTER MIRACLE zu erklären. Schauen, ob der es verstanden hat, heh, heh, heh …

Josef hat. Josef ist. Obwohl er mir erst auch mit kryptischen Aussagen kommt:
„Lies‘ es im Kontext der Widersprüche! Lies‘ es als poetische Meditation über Eltern und Kinder, über die Traumabewältigung eines Soldaten, der in den Krieg zurückmuss. Denk auch an die englische Vokabel für ‚Entfesselungskünstler‘: escape artist!“

Was soll das rammdösige Panelraster, Josef?

„Betrachte es als Gedicht, der neun-Panel-Grid ist das Metrum dieses Comics.“

Okay, mit der Aussage, so verrückt sie klingt, kann  ich tatsächlich was anfangen!

Aber was ist mit diesen ständigen Bildverzerrungen? Ist das ein Marker dafür, dass nichts real ist?

Gegen Schluss: Scott trifft den Geist des Highfathers. Die Taktzahl der verzerrten Panels nimmt zu.

 

„Ich denke, Mister Miracle befindet sich in einen Taschenuniversum, das auf seine Psyche zugeschnitten ist.“

Und da fällt mein Blick wieder auf das Cover von MISTER MIRACLE: Das ist ja so ein Zerrbild! Damit ist viel gesagt (geht mir nach Tagen des Grübelns auf!):
Das unterstützt die Lesart, dass der gesamte Comic eine Fantasie ist.
Nicht für real zu nehmen.

Bäm! Strahlender Held oder tragikomischer Blender?

Mirakulöses Fazit


Meine
Deutung: Scott Free hat Apokolips möglicherweise nie verlassen. Er ist entkommen – aber in ein inneres Exil, sein eigenes Universum der Gedanken.

Es ist wie das Ende von BRAZIL: „He’s gone“.

Es ist verdammt nochmal tatsächlich wie das Ende von BRAZIL!
Tom King ist: Ein Schlingel, der clever ein paar Versatzstücke zusammengeschustert hat.
(Die Lesart, dass Mister Miracle nur wüst fantasiert, ist natürlich superdüster – und wäre eine Entschuldigung für den schief geratenen Humor und das falsche Timing. Ein geschickter Anwalt kann Tom King vor dem ‚Comedy Court‘ herauspauken. Dieser Gag-Gerichtshof ist MEINE wüste Fantasie, in Wirklichkeit bin ich meinem Schreibtisch nie entkommen. Hilfääää!)

Zum versöhnlichen Schluss noch ein Bonusbildchen für Insider:
Richtig toll in Kapitel 10 ist diese zweiseitige Aufbereitung des alten Marvel-Zwists um Stan Lee und Jack Kirby. Sehr lustig, sehr kreativ; King kann es doch auf der Kurzstrecke!

Geniale Parabel auf die Comichistorie: Der Mann mit dem Bart und der Brille sei Stan Lee. Die beiden reden eigentlich über den Silver Surfer. Und Jacob ist hier nicht nur der Name von Scotts Sohn, sondern auch Chiffre für Jack Kirby.