Mein Comic des Jahres 2021:  SKYWARD

Manchmal fantasiere ich von einer Welt ohne Schwerkraft. Stellen Sie sich vor: Nichts bleibt am Boden, sondern alles – Menschen wie Gegenstände – schwebt und purzelt lustig durch die Luft!
Ein gewöhnlicher Einkaufstrip zum Supermarkt würde zum herausfordernden Jagderlebnis: „Verzeihung, haben Sie die Brechbohnen gesehen?“ – „Die kreiseln dort hinten um die Tomaten herum!

Dieser Comic lässt meine Fantasie wahr werden, denn das ist die Prämisse von SKYWARD: Eines Tages ist die Schwerkraft futsch! Alles – Menschen wie Gegenstände – schwebt und purzelt lustig durch die Luft!
Das macht Spaß, ist aber auch lebensgefährlich, wie uns das erste Kapitel drastisch schildert. Denn am „G-Day“, dem Tag, an dem uns die Erde losließ, verlieren unzählige Menschen ihr Leben, weil sie ins Weltall gesogen werden!

Wir erleben das Drama des plötzlichen Schwerkraftverlusts am Beispiel der jungen Familie Fowler: Vater Nate muss hilflos mit ansehen, wie seine Frau Lilly nicht mehr vom Joggen zurückkommt:

Im letzten Bild will er ihr noch hinterher, doch das Schreien des gemeinsamen Babys hält ihn zurück. Die kleine Willa segelt quietschvergnügt über ihrem Kinderbett wie die Ikone einer neuen Zeitrechnung. Mit einem radikalen Schnitt springt der Comic weit in die Zukunft:

Die fitte, sportliche Willa Fowler, nun 20 Jahre alt, ist die Hauptfigur von SKYWARD. Sie hat keine Erinnerung an die Schwerkraft mehr, sondern hat als Kind das Schweben erlernt und liebt es, sich auf waghalsige Art durch die Straßenschluchten Chicagos zu schwingen.

Willa jobbt als Kurierbotin und ist befreundet mit ihrer Chefin Shirley, dem Kollegen Edison sowie der Putzkraft Joan. Alle drei arbeiten hoch oben in den Büros und Penthouses der Stadt, da wo es am gefährlichsten ist. Denn ein falscher Schritt hinaus in die Luft und man segelt „skyward“ dem Himmel entgegen und verlässt die schützende Atmosphäre.

Die Reichen und Wohlhabenden tragen teure Magnetschuhe, die sie am Boden halten, führen ein Leben mit simulierter Schwerkraft und leben unten in den Straßen Chicagos. Dieser sozialarchitektonische Rollentausch ist nur einer der vielen ironischen Verdrehungen in SKYWARD.

Willa hat Flausen im Kopf, sie möchte die große weite Welt sehen und Abenteuer erleben. Das missfällt ihrem Vater, der seit dem G-Day traumatisiert ist und sich nicht vor die Türe wagt. Er verbietet seiner Tochter, die Stadt zu verlassen, wie in diesem Gespräch mit Edison im Lagerraum des Kurierdienstes durchklingt (auf der zweiten Seite):

Edison übrigens hat nicht nur ein Handicap, sondern auch ein Geheimnis. Er ist der Sohn einer reichen Industriellenfamilie, aber auch das „schwarze Schaf“, das nicht in die Fußstapfen der versnobten Eltern treten möchte. Lieber ist er unter normalen Menschen und hilft Willa mit seinen Ressourcen, den heimlichen Boss von Chicago,  den Firmenchef Roger Barrow, zu treffen.
Barrow nämlich war Arbeitskollege von Willas Vater Nate, beide haben den G-Day vorausgesagt. Nate ist daran verzweifelt, Roger hat Geld damit verdient, indem er Erfindungen zum Überleben in der Schwerelosigkeit auf den Markt gebracht hat.

Der handlungstreibende Konflikt in SKYWARD entspinnt sich, als Nate davon fabuliert, die Schwerkraft wiederherstellen zu können. Willa entbrennt dafür, ihrem Vater zu helfen, möchte ihn überraschen und Roger Barrow ins Boot holen – doch der hielt Nate für tot und ist entsetzt (und tut im Folgenden alles, um die Pläne von Nate und Willa zu durchkreuzen). Barrow lebt von der Schwerelosigkeit und will sich dieses Geschäft nicht vermiesen lassen.

Also entführt er Edison, im Austausch für die Schwerkraft-Formel (sag ich mal verkürzend). Doch Willa ist mutig und clever und paukt ihren Freund in einer waghalsigen Aktion aus der Geiselhaft. Die Passage zeige ich jetzt nicht, aber eine andere, die  Willas Mut (und Übermut!) griffig wie unterhaltsam charakterisiert:
Bei Auslieferung einer Ware wird  sie überfallen. Zwei fiese Knilche wollen ihre Ware, doch Willa zieht eine Waffe.

Zugleich illustriert diese Passage den leichten und spielerischen Tonfall, der SKYWARD auszeichnet: Auch wenn Waffen ins Spiel kommen, wird es niemals blutig ernst in diesem Comic. Die schwerelose Welt ist deutlich friedlicher als unsere gegenwärtige (auch das lohnte mal eine Reflexion).

Eins, zwei, drei

 

SKYWARD ist in drei Akte zu je fünf Heften gegliedert: Chicago, die Farm, die Welt.
Ich hatte Angst, nach dem fantastischen ersten Akt weiterzulesen: So genial kann es nicht bleiben, so prall kann es nicht weitergehen. So ein Wunder wie das schwerelose Gewitter kriege ich nicht mehr zu sehen.
(Das verrate ich im Blättervideo, Link dazu ganz unten, freuen Sie sich schon mal drauf.)

Ich wusste, jetzt kommen Brüche, neue Entwicklungen, der heimelige Kokon von Chicago muss verlassen werden. So wie Willa musste ich mich einlassen auf einen neuen Handlungsstrang, neue Orte und neue Figuren.

Stimmt auch alles, doch SKYWARD bleibt dank der kessen Dialoge ein Ausnahmecomic. Und vergessen wir nicht den legendären Auftritt der „Schmetterlingsritter“ in Akt zwei oder Roger Barrows köstliche Einlage als Superheld in Akt drei! Das sind Momente für die Ewigkeit.

Doch der Fokus verschiebt sich weg von Willas Welt auf gesamtgesellschaftliche Prozesse und Probleme, konkret geht es um schwerelose Landwirtschaft, die Belieferung der Städte mit Lebensmitteln, die gefährliche Arbeit der Farmer und um eine mögliche Revolution in den Städten.

Es wäre klassenkämpferisch zu nennen und hätte den Ruch eines Sozialdramas, aber wir sind in SKYWARD – und darum erleben wir diesen Konflikt verpackt in hübsche Situationen und begleitet von einer Bande frecher Kinder, einem größenwahnsinnigen Muskelmann sowie der unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug.

SKYWARD ist kein perfekter Comic. Er enthält eine Handvoll wüster Behauptungen sowie eine fette motivatorische Kröte, die mir zu schlucken schwergefallen ist. Ich möchte nichts verraten und Ihnen nicht die Schwachstellen einer tollen Lektüre unter die Nase reiben, aber ein Beispiel gebe ich doch:
Edison sucht seine Eltern auf (in deren Pseudo-Schwerkraft-Welt), um über das Schicksal Chicagos zu verhandeln.

Schöne Szene, auch diese. Dieser Comic kennt keine schlechten Szenen, aber:
Edisons Eltern sind „Waffenhändler“? Was für Waffen bitte? Und für welchen Konflikt? Haben wir außerdem nicht früh etabliert, dass selbst kleine Handfeuerwaffen einen unberechenbaren Effekt in der Schwerelosigkeit entfalten?
Edisons Eltern werden als Waffenhändler bezeichnet, weil sie schnell als verwerflich etikettiert werden müssen. Das ist so eine kleine Schludrigkeit, Autor Joe Henderson hätte sie besser zu Bankern gemacht.

Einerseits betrübt es mich, dass der Stoff gewisse dramaturgische Schlaglöcher aufweist, andererseits müssen wir überhaupt nichts ernst nehmen in SKYWARD: Diese Serie präsentiert sich so überschäumend und gutgelaunt, dass einem Glaubwürdigkeits-Apostel wie mir die rigide Logik schnurz ist.
Man könnte SKYWARD den Spirit früher Zeichentrick-Cartoons attestieren: Alles ist knallig, plakativ und überbetont – einschließlich der Figuren.


Willa infiltriert eine Society-Party, sucht nach Roger Barrow und muss sich derweil das bornierte Geschwätz der reichen Leute anhören! Kurz darauf hat sie Gelegenheit, mit Barrow unter vier Augen zu reden – und ahnt, dass sie damit einen Fehler begangen hat!

Zeichner Lee Garbett kommt aus dem Superheldengenre, hat CAPTAIN MARVEL und LOKI illustriert und versteht es prächtig, seine Charaktere von innen heraus strahlen zu lassen. Seine Darstellung von Körpern, ihrer Mimik und Gestik (raffiniert akzentuiert mit Licht und Perspektive), lässt alle Player in SKYWARD augenblicklich lebendig werden.

Und eigentlich ist Willa eine Superheldin!

Darf ich Ihnen noch erklären, wie großartig und bewegend Henderson und Garbett den Tod von Vater Nate inszenieren? Den möchte ich noch exemplarisch anführen (kein massiver Spoiler, weil damit der erste Akt schließt).
Willa und Nate schweben über Chicago, beide drohen ins Weltall zu  driften. Da opfert sich Nate, indem er seine Tochter von sich wegstößt, in Richtung rettende Erde – was ihn selber weiter in Richtung tödlicher Himmel katapultiert.

Wir sehen:
Einen Abschiedskuss in Nahaufnahme, die fatale Wurfbewegung, Gegenschnitt auf den Vater in Christuspose, der noch am Lebensende eine bewegende Erleuchtung hat, dann Willas erkenntnishaftes Entsetzen, ihre Landung auf einem Dach, ihr himmelwärtiger Abschiedsblick – und Tränen, die sie ihrem Vater hinterherschickt!

Acht Panels im Himmel, himmlische acht Panels!
Zugleich eine unverbrämt-unverschämt mythologische Szene: eine veritable Himmelfahrt plus Übergabe der Mission und Segnung der Nachfolgerin.

Da ich diesen Artikel nicht auf einer traurigen Note enden lassen möchte, stifte ich noch eine romantische Szene: Willa hat ein Rendezvous mit dem Anführer der Farmer, Lucas. Auf dem Land leben inzwischen Rieseninsekten, hier überrascht er Willa im abgedunkelten Raum mit Glühwürmchen, um sie in Stimmung zu bringen.

Die pragmatische Willa weiß seine Avancen zu schätzen, definiert die Szene mit ihrem losen Mundwerk aber gleich auf ihre Art: „Du führst mich in einen Raum mit fickrigen Insekten?!“
Subtil untermalt Zeichner Garbett Lucas‘ Reaktion mit einer Verlegenheitsgeste.

Feelgood-Faktor 10

 

Meine Worte reichen nicht aus, Ihnen zu schildern, wie viel Spaß dieser Comic macht. Die Dialoge sind witzig, die Handlung ist zielführend, die Storyworld wird intelligent bedient, das Artwork bietet unvergessliche Schauwerte, die Figuren sind nicht nur cool, sondern auch so sympathisch, dass man gerne Freund mit ihnen wäre.

Eins natürlich müssen Sie SKYWARD abkaufen: diese absurde Prämisse von der Welt ohne Schwerkraft. Mir hat sie einen Wunsch erfüllt.

Ich verrate Ihnen den Auftakt und ein paar ausgewählte Highlights in meinem Blättervideo.(Untendrunter hängt noch ein redaktioneller Hinweis.)

Editorische Nachbemerkung:

Ich küre SKYWARD zum Comic des Jahres 2021, weil hier in Deutschland offenbar noch niemand Notiz von ihm genommen hat.
Publikationshistorisch sei gesagt, dass die Heftserie bereits im April 2018 begonnen hat (und im Herbst 2019 beendet war und schon in drei Paperbacksammlungen vorlag).
Im April 2021 ist jedoch erst die Deluxe-Gesamtausgabe bei Image erschienen (40 Dollar, noch kein deutscher Verlag in Sicht), deshalb schiebe ich den Comic in das laufende Jahr.

Nachtrag:
Freundliche User auf Instagram teilen mir mit, dass SKYWARD im Lauf des Jahres auf Deutsch bei Dani Books erscheinen soll!  Dani-Books-Verleger Jano Rohleder meldet mir Folgendes:

„Alle drei Bände gehen zusammen in Druck und werden wohl ab August ausgeliefert werden, denke ich. Die reguläre Handelsausgabe wird aus drei Paperbacks bestehen, die in drei aufeinanderfolgenden Monaten erscheinen. Bei mir direkt gibt’s zusätzlich noch eine auf 99 Exemplare limitierte Hardcoverversion im Schuber, die als Bonus ein Poster, drei signierte Drucke sowie ein Zusatzheft mit den beiden Prologseiten und den zusätzlichen Skizzenseiten aus dem neuen US-Gesamtband enthalten wird“.

Also aufgemerkt und das Programm von Dani Books im Auge behalten!