Justin Green lässt mit BINKY BROWN die Hosen runter

Art Spiegelman sagt über dieses Werk, es sei so „kühn wie aufregend“ und – für den Tatbestand, dass es schon 50 Jahre alt ist – „unfassbar frisch“. Es habe ihn inspiriert und ohne BINKY BROWN MEETS THE HOLY VIRGIN MARY hätte es kein MAUS gegeben.

Spiegelman sah nämlich die Blätter in Greens Atelier aushängen und war fasziniert von dem unbedingten Willen, ein privates Trauma auszustellen, noch dazu in verschrobenem Zeichenstil.
Soweit Spiegelman, der selber (neben MAUS) eine Handvoll schräger Minicomics fabriziert hat. Na, dann schaun wir doch mal rein in diesen Comic des Zeichners Justin Green

Was ist hier passiert? Der gläubige Katholik Binky hat beim Fahrradfahren seinen Rosenkranz in der Hosentasche gelassen, der ihm nun aufs Gemächt drückt. Bei einer rumpeligen Chose abwärts geht ihm einer ab, was Binky furchtbar peinlich ist. Denn mit dem Rosenkranz verbindet er seine Gebete an die Heilige Jungfrau Maria, die er durch sein Verhalten beschmutzt glaubt.

Das Resultat ist ein überwältigendes Schuldgefühl. Binky fleht Vater, Sohn und Heiligen Geist um Vergebung an, die aber strafen den Sünder (in seiner Fantasie natürlich) mit Verachtung. Noch nachts im Bett fühlt sich Binky verfolgt, in der Schule entwickelt er zum mentalen Schutz die Abwehrphrase „Noyatin“ (ein Unsinnswort), um „unreine Gedanken“ zu neutralisieren.

Es ist der Beginn eines Abstiegs in eine entsetzliche Zwangsneurose, dazu später mehr.

BINKY BROWN MEETS THE HOLY VIRGIN MARY gilt als erster autobiografischer Comic der Geschichte! 1972 als 44-seitiges koloriertes Heftchen beim Undergroundverlag „Last Gasp Eco Funnies“ erschienen, nimmt er Robert Crumbs Selbstzerfleischungen um mindestens zwei Jahre vorweg.

Auch Green jedoch war reziprok von Crumb beeinflusst, wollte den „Schimären seiner Psyche“ ein Ventil verschaffen, eines, das er während seiner Ausbildungsjahre als Kunstmaler in seinem „bombastischen und spatzigen Ölgemäldennicht gefunden hatte. Er beginnt, kleine Comicarbeiten in den Alternativmedien YELLOW DOG und GOTHIC BLIMPWORKS zu veröffentlichen.

In meinen Augen ist BINKY BROWN ein krudes Werk, nicht ganz leicht zu lesen und nachzuvollziehen. Wie aber alles von Justin Green sperrig und kryptisch ist.
Ich bekam als Schüler schon einige Seiten zu Gesicht (er hat wenige weitere Undergroundcomics produziert), ich präsentiere eine Seite aus einer BIJOU FUNNIES-Ausgabe (ca. 1971), die mich damals nachhaltig verstörte:

Whaaaat?! „Theatre of Cruelty“?! Ein Nordafrikaner, der verbal verscheißert wird?!
Ein allegorisches Schlusspanel samt moralischem Schlusswort des Protagonisten?!
Was soll das bitte?!
Es ist genau das: Ein Franzose lässt einen Afrikaner sich zum Narren machen, der amerikanische Tourist ist betroffener Zeuge des Vorgangs und schämt sich für die weiße Überheblichkeit und Herabsetzung anderer Völker. Aber das alles gegossen in eine Seite Comics, verpackt als wahre Begebenheit.
(Ich habe keine Ahnung, ob Green hier einen literarischen Schnipsel umsetzt: Ist das Camus oder Burroughs oder selbst konstruiert?)

Damals aber schon fasziniert hat mich Greens Artwork. Die dicht komponierte, nüchtern inszenierte Seite, die jedoch mit feinen Irritationen aufwartet: die eigenartige Körperhaltung der Figuren (auf die Spitze getrieben im ulkigen Tänzchen des Afrikaners, dem dabei der Fez vom Kopf steigt), die stets wechselnden Bildhintergründe (die den Hintergrund als vernachlässigbar definieren), Rhythmus und Gestaltung der drei Dialogbilder (die die dramaturgische „Katastrophe“ illustrieren, man beachte den zentralen, gekippten, herangezoomten, mit Lichtkranz hinterlegten Sprecher, den Schnitt zum Schlusspanel und seinen darstellerischen Bruch mit dem Konzept der Seite: Welch seltsame Kugel schleppt der Amerikaner da plötzlich?

Green beginnt seinen Minicomic mit einer konventionellen Eröffnung (zwei Freunde bummeln durch eine tunesische Stadt), endet ihn jedoch mit der Anmutung eines alten Redaktions-Cartoons à la „Unser Zeichner Justin Green nimmt Stellung zur conditio humana“.

Diese Seite verdeutlicht Greens Anspruch an seine Kunst: Die dient nie der bloßen Unterhaltung, sondern möchte gesellschaftspolitische Reflexionen einbinden.

Comic als Therapie

 

Damit kommen wir zurück auf BINKY BROWN MEETS THE HOLY VIRGIN MARY, Greens opus magnum, sein Akt der künstlerischen Selbstbefreiung.
Ein therapeutischer Comic? Aber sicher.
Justin Green litt (wie eingangs kurz erwähnt) an einer Zwangsstörung – was damals nicht diagnostiziert wurde. Erst Mitte der 1990er-Jahre setzte sich das Bewusstsein dafür durch (unglaublich, aber wahr!).

In BINKY BROWN versucht der Zeichner, seiner persönlichen Obsession Gestalt zu geben.

Binky bewegt sich mit speziellen Ritualen durch die Welt, betet pausenlos und macht in die Hose.

 

Interessant ist aber, wie viel Slapstick und karikaturesken Schauwert Green einfließen lässt. Siehe den grotesk vermenschlichten Treppenabsatz, der Binky am Kragen zurückzieht, weil er einen Fehler beim Herabsteigen begangen hat!
Binky entwickelt ein Fetischinteresse für den Gummipuffer einer Stoßstange, fühlt sich andauernd schuldig und opfert dem Mülleimer halbverzehrte Schokoriegel.

Beim Nachtgebet hat er Angst, sein Rosenkranz könne seinem Hosenstall zu nahe kommen, zugleich erkennt er im Gummipuffer ein phallisches Objekt.

Abhilfe kann da nur eine rasche Beichte schaffen! Sicherheitshalber beichtet Binky gleich zweimal seine „unreinen Gedanken“, denn der erste Priester ist ihm zu verständnisvoll. Lieber geht er zum alten Knochen Father Runkem, der ihm den Marsch bläst!

Auch hier gelingt Green ein komischer Kontrast zwischen den beiden Ordensmännern, die auch diagonal und damit entgegengesetzt auf diesen vier Bildern positioniert werden.

In der Mitte des Albums kommt es zu einer folgenschweren Verschlimmerung der Zwangsgedanken, gepaart mit Binkys erwachender Sexualität. Denn beim Niederknien auf der Gebetsbank verspürt Binky eine Regung in der Hose – und imaginiert sich einen (nur für ihn sichtbaren) Penisstrahl, der ihn fortan begleiten wird. Die kruden Gedanken steigern sich zur veritablen Neurose, die sich in Binkys Hirn festsetzt.
Im Folgenden wird der Alltag für Binky zur Hölle: Sein diabolischer Penisstrahl darf auf keinen Fall den Weg einer Kirche kreuzen oder auf Abbilder von Heiligen treffen, diese nähmen sonst Schaden.
Hier sehen wir Binky, der sich dreht und windet, um seinen Todesstrahl von kirchlichen Gebäuden fernzuhalten (dennoch fantasiert er eine Zerstörung des Kirchturms).

Die nächsten Jahre verbringt Binky mit neuen Zwangsritualen. Er richtet seinen Körper und seine Bewegungen so aus, dass die vermeintlichen Penisstrahlen möglichst wenig Schaden anrichten. Was nicht einfach ist, denn Binky kommt auf den Trichter, dass auch seine Finger und seine Füße phallische Objekte sind, die ebenfalls (potenziertes) Verderben ausstrahlen!

Etwa zehn Jahre später, wir schreiben das Jahr 1971 (kurz vor Produktion von BINKY BROWN) erreicht Greens Alter Ego Binky einen Wendepunkt. Auf einem LSD-Trip kommt er an einer Kirche samt Madonnen-Statue vorüber, macht entspannt einen Scherz und registriert erfreut ein Ausbleiben der üblichen Schuldgefühle.

Während er sich über dieses „Wunder“ freut, tippt ihm die Jungfrau Maria doch noch zur Erinnerung auf die Schulter.

Spiegelman übrigens, der alte Intellektbolzen, spricht im Vorwort zur Deluxe-Ausgabe von BINKY BROWN noch von seiner Enttäuschung darüber, dass dieser Comic keinen höheren Status genieße – was an Binkys „Penisstrahlen“ liegen dürfte, die die zweite Hälfte des Buchs dominieren.

In der Recherche zum Werk erfährt man, dass sich Greens Comicheft immerhin gut verkauft hat (zwei Auflagen zu insgesamt 55.000 Stück noch im Erscheinungsjahr 1972). Ein erschöpfender Artikel findet sich auf der englischen Wikipedia.

Mich wundert, dass man BINKY BROWN MEETS THE HOLY VIRGIN MARY nicht als Frühform und Vorläufer der amerikanischen Graphic Novel vereinnahmt hat; vielleicht nur ein Versäumnis. Greens Werk ließe sich problemlos einordnen zwischen Gil Kanes 40-Seiten-Krimialbum HIS NAME IS SAVAGE von 1968 und Jack Katz‘ THE FIRST KINGDOM von 1974. Eindeutig gehört Green in diese Reihe.

Im Nachwort erklärt uns Justin Green die Schöpfungsgeschichte von BINKY BROWN. Last-Gasp-Verleger Ron Turner ermunterte ihn, mit der Geschichte fortzufahren und ermöglichte ihm eine bescheidene Vorfinanzierung. Also packte Green den Stier bei den Hörnern und stellte im Fortgang der Arbeit fest, dass sich die Symptome seiner Neurose abmildern durch seinen selbstgewählten Exorzismus.
(Fun fact am Rande: Greens Vetter heißt William Friedkin und hat gerade einen Film namens „Der Exorzist“ in die Kinos gebracht.)

In den Werken von C. G. Jung findet Green Trost und Erlösung vom Dogma der Katholischen Kirche: Seine Obsession mit den „Penisstrahlen“ ist kein Ausdruck von Geisteskrankheit, sondern eine Wünschelruten-Begabung für Sexualsymbolik (Kalauer beabsichtigt). In Jungs Terminologie erschafft sich Green seinen „Schatten“ mit Binky Brown, seiner gequälten Hauptfigur.

Aus die MAUS

 

Ohne BINKY BROWN MEETS THE HOLY VIRGIN MARY hätte es kein MAUS gegeben. „Allein das wird mich auf dem Sterbebett lächeln lassen“, hat Justin Green zu Protokoll gegeben. Stolz sei er zudem, dass sein Comic die ihm erste bekannte künstlerische Arbeit zu Zwangserkrankungen ist (engl. „obsessive-compulsive disorder“ OCD).
Dass ihm (auch) der erste autobiografische Comic gelungen sei, stellt der bescheidene Künstler jedoch nicht aus. Er sei selber geprägt worden von autobiografischer Literatur wie Phillip Roths „Portnoys Beschwerden“, von James Joyces „Porträt des Künstlers als junger Mann“ sowie von Salingers „Fänger im Roggen“.

In puncto Verrücktheit hat Green bestimmt die Nase vorn!

Binkys Kindheitserinnerungen an die männliche Ausstattung mit einem Penis.

 

Sollten Sie dieses Werk besitzen wollen, verlangen Sie im Comicladen Ihres Vertrauens eine Bestellung. Der Verlag McSweeney’s hat das Buch im Jahr 2009 für günstige 29 Dollar herausgebracht. Wer im Internet mal hineinschauen möchte: Die Webseite „Artist’s Edition Index“ stellt diese Deluxe-Ausgabe ausführlich vor.

Ich blättere es für Sie aber auch noch im Video durch: