Ich muss Sie zunächst bitten – wenn Sie so freundlich sind, meiner Expertise zu vertrauen und sich an die Hand nehmen zu lassen – drei Seiten Comic zu lesen. Dann beginnen wir die Diskussion der Kunst des schwedischen Künstlers Max Andersson.
Was zum Teufel war das denn?!
Ein Paar hat Sex in „Verhütungsanzügen“? Die nicht nur Schwangerschaft verhindern, sondern auch dem Partner eine andere Person vorspiegeln?
(Könnte eine freche Idee aus einem gelackten Science-Fiction-Comic mit Humor sein.)
Doch die Anzüge reißen (mit einem orgiastischen Niesen), der ganze Sexualakt geht schief und wir begegnen zwei schlecht gelaunten Menschen, die zudem noch in einem kalten Flur hausen.
Die beiden haben seltsame Namen, Angina und Alka (wie auch später weitere Charaktere meist die Namen ekliger Krankheiten tragen), sind distanziert und deprimiert – und werden am Ende der zweiten Seite von einem reptilartigen „Hausverwalter“ auf die Straße geworfen.
Weil ihr Haus (im nächsten Bild ersichtlich) von einem Erschießungskommando niedergestreckt wird!
Diese Seite 3 offenbart uns den Titel der Geschichte (PIXY), weist einen plakativ schwarzen Hintergrund auf und ist mit marginalen Terror-Männchen dekoriert.
Gleichzeitig huschen am unteren Bildrand zwei Gestalten entlang und „verschwinden in der Kanalisation“.
Das ist ein Auftakt, der auf drei Seiten einen Irrsinn präsentiert, wie er kompakter nicht zu liefern ist: Lebende Häuser, die erschossen werden können?
(Übrigens, weil sie „von Gekritzel befallen“ sind! Bei Letzterem bin ich mir nicht sicher, ob Andersson hier das Graffiti an der Flur- und Hauswand meint oder einen ironischen Metakommentar zu seinem Artwork abgibt.)
Während sich Seite 1 noch mit klarer Linienführung und heller Stimmung bremst, versinken Seiten 2 und 3 rabiat in Düsternis und Rohheit. Die Kamera kippt ins Expressionistische, der kantige Tuschestrich wirft fette Schatten und dreckige Flecken, die Anmutung ist krakelig, struppig, punkig, hässlich – manche würden urteilen: Gekritzel.
Ich sage es schon jetzt:
Für mich ist PIXY ein morbides Meisterwerk, ein Subkultur-Juwel, ein Undergroundcomic der Extraklasse. PIXY ist Kafka, durch die David-Lynch-Mühle gedreht.
Für beide Namensnennungen habe ich sogar Anhaltspunkte:
Wenige Seiten später bekommen Angina und Alka eine neue Wohnung, weil der Vorbesitzer ihnen diese überlässt (denn er stirbt sozusagen auf Stichwort).
Hamse gesehen? Der Vormieter liegt wie ein totes Insekt im Zimmer …
Gregor Samsa, ick hör dir trapsen.
Das zu Kafka, der Lynch ergibt sich aus der Tatsache, dass im Verlauf von PIXY ein abgetriebener Fötus das Paar terrorisieren wird (Parallele zum Baby aus „Eraserhead“, wenn man möchte).
Pixy nämlich ist der Name, den sich dieser Fötus gegeben hat. Der Unfall mit den Verhütungsanzügen blieb nicht folgenlos. Angina war schwanger, hat zwar abtreiben lassen, doch in einer höllenartigen Unterwelt leben die Föten fort und benehmen sich wie die offenen Hosen.
Es sei verraten, was noch passiert:
Pixy ruft die entsetzte Beinahe-und-jetzt-doch-Mutter Angina an und zwingt sie am Telefon zum Vorlesen von Gute-Nacht-Geschichten. Alka ist das Ganze herzlich egal, denn er hat einen Job bei der „Währungsaufzucht“ angenommen und muss das Kleingeld in seinen Käfigen füttern und säubern. Außerdem ist er wie alle Kollegen auf der Droge „Zukunft“ und faselt von goldenen Zeiten, die kommen werden.
In solchen Passagen offenbart sich auch Anderssons ansteckender Antikapitalismus, der Punkte macht, aber nicht aufdringlich wird. Wie hier, als Pixy das Kleingeld aus seinen Käfigen befreit.
In der Kneipe macht Pixy die Münzen besoffen, die daraufhin randalieren und den Laden in die Luft jagen. Kommentar Pixy: „Geld hat keine Hemmschwelle.“
Ich find’s lustig.
War es das? Nein? Mehr Wahnsinn?!
Kicher. Max Andersson läuft sich gerade erst warm, Herrschaften!
Angina beauftragt Alka, ins Totenreich zu reisen und dem lästigen Pixy-Balg den Garaus zu machen: „Ich habe ihn schon einmal getötet, jetzt bist du dran.“
Diese Mission gestaltet sich jedoch trickreich. Nicht nur verdirbt es sich Alka mit dem Botschafter des Totenreichs, der ihm ein Visum ausstellen muss, er lässt sich (mit Hilfe der geheimnisvollen Chlamydia) auf eine illegale Seelen-Abspaltung ein.
Alka gelangt dann zwar ins Totenreich, wird jedoch von seinen eigenen Eltern entführt, die ihn in einer Zeitrückwärtsschleife gefangen halten und vergiften wollen.
Alka durchschaut das miese Spiel seiner Eltern, macht sie kalt und gelangt endlich ins verrufene „Föten-Viertel“ des Totenreichs, wo die pure Anarchie herrscht.
Betrachten wir die Seite, auf der Alka die Bar wie einen Westernsaloon betritt (zugleich rasend komische Parodie auf „Film noir“-Krimis).
Weiter wogt der Wahnsinn, hin und her. Schließlich taucht Alka wieder ins Leben auf, hat aber Pixy (ein schießwütiger Trunkenbold im Übrigen) mitgebracht!
Pixy sprengt die Bank und kehrt zurück ins Föten-Viertel.
Verraten sei letztlich noch, dass die Verhütungsanzüge als Klone von Angina und Alka ein Comeback feiern; sie waren es nämlich, die auf Seite 3 unten in die Kanalisation flüchteten.
So viel zu Max Anderssons PIXY, einem Comic, der etwa ein Viertel des Sammelbandes CONTAINER ausmacht.
Denn PIXY ist ein Frühwerk von 1992. Es schließen sich an: die Kompilationen VAKUUMNEGER (1994), DER TOD (2003) sowie ein umfangreicher Bonusmaterial-Teil.
Meiner Empfindung nach bleibt PIXY unübertroffen (Frühwerke scheinen mir oft schon das Beste abzubilden).
Der geballte Ideenreichtum bei gleichzeitig durchgeknallter Unterhaltsamkeit dieser 66 Seiten (ich hab nachgezählt) ist nicht mehr zu toppen!
Auch wenn im Rest von CONTAINER noch weitere schöne Sachen zu finden sind.
Das Schießeisen-Männchen PISTOLEN-JOHNNY ist eine surreal-schwarzhumorige Idee.
Sehr gelacht habe ich auch über CAR-BOY (einen Jungen mit Auto-Kopf) und seine nächtliche Konversation mit dem Waschbecken:
Ferner in CONTAINER:
Eine kranke Double-Bind-Chose mit einem janusköpfigen Weihnachtsmann, der Kinder in die Verzweiflung treibt.
In DIE NATUR fahren auf der Straße überfahrene Tiere per Anhalter, ein STÖRUNGSDIENST beseitigt Lärmquellen durch Liquidierung aller Lärmverursacher (das pure Massaker).
DER TOD führt die Figuren Tod, Candy und dessen Ex ein: Eine Klon-Armee aus eifersüchtigen Kerlen jagt Candy, doch der Tod (der sich momentan als Kita-Pflegekraft verdingt) steht ihr zu Seite. In einem Motel mit unterirdischem Folterkeller kommt es zum Blutbad, doch für den Tod, Candy und die Kinderschar gibt es ein Happy End.
PISTOLEN-JOHNNY kehrt zurück und macht seine bewährten Löcher.
Die komprimierte Craziness von PIXY erleben wir noch einmal im TOD-Sequel DER TOD UND CANDY (leider nur 4 Seiten). Tod, Candy und Kinder sind auf der Flucht, werden polizeilich gesucht und wollen über die Grenze, bloß wie?
Bei einem Stopp in einer schmierigen Bar treffen sie auf Organe, die ihren Besitzern entflohen sind. Eine Niere berichtet, wie sie sich aus dem Körper ihres Menschen herausschneiden und fliehen konnte. Der Mensch wollte das Trinken aufgeben, die Niere aber nicht, deshalb auch ihr Aufenthalt in der Bar (ist doch logisch!).
Als ein fetter Tourist die Bar betritt, entwickelt sich eine brandgefährliche Situation. Zum Glück macht sich in diesem Moment der Blinddarm bemerkbar!
Diese 4 Seiten (oben sahen Sie die beiden letzten) stellen mich jedenfalls rundum zufrieden. Geht es Ihnen auch so?
Max Andersson stellt unsere Welt komplett auf den Kopf und in Frage, doch ich begrüße seine Visionen mit einem Lächeln.
Das ist ein Neo-Underground, der in der Tradition der ZAP COMIX steht, jedoch eine eigene Agenda bezüglich Kapitalismus und Gewalt formuliert. Groß!
(Wer einsteigen mag in das Studium des frühen US-Undergrounds, rufe meinen Beitrag dazu unter diesem Link auf.)
Das Artwork von Andersson ist superkratzig, eckig, dreckig, zackig.
Um 1990 herum (es können auch schon die Achtziger gewesen sein) gab es mal eine Phase in der Illustrations- und Comicszene, wo dieser Stil „in“ war. Da er aber so sperrig und nicht leicht zu lesen ist, womöglich durch seine Aggressivität auch abschreckt, hat er sich wieder verloren.
Er passt vornehmlich nur auf experimentelle und künstlerische Comics. Das ist antikommerzielles Artwork. Könnse sich einen Actionstoff, einen Westerncomic oder eine Superheldengeschichte damit vorstellen? Nä!
(Kurzlebige Ausnahmen … äh … ausgenommen. Ich denke gerade an das englische Comicmagazin TOXIC aus den frühen Neunzigern, aber ich schweife ab.)
Max Andersson jedenfalls scheint sich treu geblieben zu sein. Seine Homepage informiert, dass der Künstler 2016 einen neuen Comic namens THE EXCAVATION produziert hat. Bislang erschienen auf Schwedisch, Tschechisch, Englisch und Französisch.
Ich nehme davon allerdings Abstand (s. auch folgende Nachbemerkung), weil ich auf Amazon reinblättern konnte und feststellte, dass dieser Band in ganzseitigen Panels gedruckt ist. Also jedes einzelne Panel wird seitengroß aufgeblasen! Find ich nicht schön, so was. In meinen Augen ist das Seitenschinderei.
Nachbemerkung:
Wie kam ich auf Max Andersson? Wo fällt einem so was in die Finger?
Ich besuchte vor Jahren eine Tagung der Gesellschaft für Comicforschung in Frankfurt und geriet in ein Seminar über BOSNIAN FLAT DOG (ein Andersson-Werk von 2004).
Zwei Forscherinnen präsentierten Beispielseiten und referierten darüber. Ich weiß nicht mehr, worum es den Forscherinnen ging, aber ich war elektrisiert von dem kryptischen Wahnsinn, den Andersson in BOSNIAN FLAT DOG entfacht (einer Novelle über eine Reise nach Sarajevo, featuring the frozen mummy of Tito).
Recherchen führten mich schnell zu PIXY und dem Erwerb von CONTAINER (und dessen begeisterter Lektüre). BOSNIAN FLAT DOG habe ich nachgeholt, es ist jedoch so speziell, dass es sich mir nicht erschlossen hat.
Andersson kann sich in einer Weise versteigen, dass ich ihm nicht mehr folgen kann. Ich goutiere das dennoch, bin aber vorsichtig, den Stoff weiterzuempfehlen.
Unbedingt gilt: Wenn Ihnen die kranke Scheiße von Max Andersson ansatzweise gefällt, holen Sie sich den CONTAINER-Sammelband von Reprodukt, der 2012 erschienen ist. Lohnt sich allein für PIXY. Der Titel ist noch lieferbar, Verlagsinfos HIER.
PIXY ist tatsächlich mal als Einzelband gedruckt worden, das war allerdings schon 1995 bei Jochen Enterprises. Die Ausgabe habe ich (gerade bei einem schnellen Check) antiquarisch nicht gefunden. Es ist wahrscheinlicher, dass Ihnen fremdsprachige Ausgaben von PIXY über den Weg laufen.
Im Anschluss und zum Abschluss blättern wir durch CONTAINER: