JENNY SPARKS gegen den Gottkomplex

Was würden Sie tun, wenn Sie mit fünf Geiseln in einer Kneipe festsitzen und mit einem größenwahnsinnigen Superhelden verhandeln müssen?!

Na, sich erst mal tüchtig selbst ohrfeigen und hoffen, dass diese Situation nur die Prämisse eines Comics ist. Ha! Isses! Glück gehabt.

Jenny Sparks ist unsere Identifikationsfigur in der misslichen Lage und Captain Atom ist der gottgleiche Supermann, der die Geiseln umzubringen und die Welt auszulöschen droht.

Die Figur der Jenny Sparks stammt aus dem THE AUTHORITY-Franchise von Warren Ellis, das hab ich nie gelesen. Ebenso ist mir ihr Widersacher Captain Atom in meiner Lektüre nie über den Weg gelaufen. Es gibt einfach zu viele Supermenschen!

Jetzt aber kenne ich euch Vögel, und Autor Tom King hat sie mir schön nahegebracht. Jaaaa, schon wieder eine Miniserie von King, von dem ich ja fast alles lese.

Und leider ist JENNY SPARKS ein King-Stoff, der nicht auf Deutsch zu erscheinen scheint – wie auch sein Frühwerk SHERIFF OF BABYLON, sein neuer Hit HELEN OF WYNDHORN und seine Romance-Reihe LOVE EVERLASTING (mit der aber selbst ich nichts anfangen konnte).

Schauen wir uns Jenny und den Captain in einer ersten Konfrontation an:

© für alle Abbildungen: Tom King, Jeff Spokes / DC Comics

Jenny gebietet über die Kraft der Elektrizität und kann Blitze schleudern wie Zeus selig. Zudem ist sie ewige 19 Jahre alt, das Patenkind von Albert Einstein (den meint sie in ihren kurzen Monolog über die Zufälle des Universums) – und süchtig nach Zigaretten.

Captain Atom, der Mann am Boden, jedoch ist unbesiegbar, unsterblich und liebt es, unberechenbar zu sein.
Auf der nächsten Seite, die ich nicht zeige, steht er wieder auf, verhöhnt alle Superwesen und bricht Jenny das Genick.

Doch keine Angst, die steht wieder auf. Jenny ist kein Mensch, sie ist das 20. Jahrhundert. Oder der Geist des 20. Jahrhunderts. Das ist eigenartig, so ist die Figur jedenfalls angelegt (ich musste es mir auch unter dem oben erwähnten Link anlesen).

Sparks wurde am 1. Januar 1900 geboren, starb am 31. Dezember 1999 und erwachte erneut am 11. September 2001, dem Schwarzen Dienstag der Geschichte – und war zum Weiterleben verdammt, denn „die Welt war noch nicht fertig mit dem 20. Jahrhundert.“

Das muss uns als Erklärung reichen. Fragt sich, mit wem oder was wir es zu tun haben. Jenny ist keine eigentliche Superheldin, sondern eine manifestierte Essenz der Historie, das Destillat der menschlichen Zivilisation, der fleischgewordene Zeitgeist?!

Das 20. Jahrhundert ist zurück

Und was ist mit Captain Atom? Der hat eine tragische Hintergrundgeschichte (als Dschungelkämpfer in Vietnam an Massakern beteiligt, dann von der Regierung als Versuchskaninchen in Atomversuchen missbraucht worden, dann mit Superkräften ausgestattet wieder im Dienst der USA unterwegs gewesen) und ist mittlerweile bekloppt geworden und hält sich für Gott bzw. fordert, als solcher ausgerufen zu werden.

Der Comic etabliert ihn als formwandelnden (besser: kostümwechselnden) verwirrten Mann, der nicht mehr weiß, wohin mit seinen Fähigkeiten.

Also geht er in eine Bar, nimmt dort fünf Menschen als Geiseln und demonstriert seine Superkräfte, indem er einen großmäuligen Filmagenten erst atomisiert, dann wieder zusammensetzt und einen krebskranken Psychotherapeuten von seinen Tumoren befreit.

Die Justice League um Superman, Batman, Wonder Woman, Flash, Green Lantern, Hawkgirl und den Martian Manhunter postiert sich vor der Bar und schickt Jenny als Unterhändlerin hinein.

Die ist frech zu ihm, blitzt mit ihrer Forderung nach Kapitulation schnell ab und lässt erst mal die bekannten Superhelden ran. Die werden sämtlich ruckzuck eingemacht und Jenny kommt zurück und versucht es mit Besänftigung.

Soll er doch Gott sein, bitteschön, aber dann müsse er auch der Menschheit helfen. Hier konfrontiert Jenny den Gott-Anwärter Atom mit ihrem eigenen Trauma (die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und des folgenden).

Theodizee, ick hör dir trapsen!

Jawohl, wenn wir genau analysieren, verhandelt JENNY SPARKS das uralte theologische Problem der Gottesrechtfertigung. Wer Omnipotenz besitzt, sollte alles Leiden verhindern können, oder nicht?

Das ist, was Autor Tom King diesmal mit uns anstellt: eine vielschichtige Reflexion über Wille und Verantwortung, aber auch über die Grenzen des Machbaren.

Dazu verfolgt der Comic drei Subplots, auf die ich nicht weiter eingehen will, aber hiermit erwähnen möchte.
Da ist zum einen Jennys Beziehung zu Superman und Batman, die sie als „Aufseherin über Supermenschen“ engagiert haben.
Da ist zum anderen eine Episode über die große Depression während der Corona-Lockdowns und die Ohnmacht der Superwesen, die selbst Superman einen Mundschutz tragen lässt.
Zum Dritten erleben wir, wie Jenny einen Finanzhai aus der Bankenkrise entführt und einer brutalen Gerechtigkeit ausliefert.

Das alles lasse ich aus, um Sie nicht zu verwirren. Sich in Kings Querbezüge zu vertiefen, ist etwas für Comic-Gourmets und verlangt Erfahrung im Dechiffrieren komplexer Stoffe.

(Aber den Superman mit Mundschutz stifte ich gerne!)

Noch nie gehört habe ich von Zeichner Jeff Spokes, über dem ich im Netz keine Informationen finde – bis auf eine spärliche Homepage, auf der er unveröffentlichtes Artwork zum Verkauf anbietet. Weird!

Seine Zeichnungen sind ultraschick und superclean, der Look seiner Figuren ist souverän und lässig – allen voran natürlich Jenny, die eine Comicfreundin von mir bewundernd als „coole Alte“ definierte.

Absolut. Ein bisschen strapaziert finde ich den Running Gag mit der Zigarette.
Jenny raucht Kette, hat aber nie ein Feuerzeug dabei. Daher fragt sie andauernd alle Welt nach Feuer und macht sich lustig über Helden, die ihr keins bieten können.

Hier fragt sie selbst Superman nach Feuer (verklausuliert in der Bemerkung, ob seine „magischen Augen“ sie nicht aus der misslichen Situation, kein Feuer zu haben, befreien könnten):

Superman, der Tugendbold, ist gegen Rauchen allgemein.
In Jennys Reaktion spiegelt sich jedoch nicht nur Ärger, sondern auch eine unterschwellige Lust zur Selbstzerstörung: Hey, sie ist das 20. Jahrhundert, da würden auch Sie aus Frust das Paffen anfangen.

Obwohl Jenny Blitze beschwören kann, kann sie sich schlecht selber Feuer geben – denn „die Miniblitze sind so schwer zu kontrollieren“.

Sagt sie tatsächlich an einer Stelle, womit Autor King uns eine ironische Begründung für seinen Running Gag liefert. Andererseits trägt die Frau Cargo-Pants und könnte problemlos mehrere Feuerzeuge transportieren!

Aus dem Superhelden-Genre Funken schlagen

Das kann Tom King, wie er es in THE VISION oder auch SUPERGIRL bewiesen hat. (Mit seinem schier endlosen BATMAN-Lauf bin ich hingegen nicht klargekommen.)

JENNY SPARKS ist auch ein Metakommentar auf das Genre: eine Diskussion über Sinn und Unsinn von Superkräften.

Was stellen die damit Begabten an? Wofür können sie sich einsetzen? In welchen Fällen sind sie machtlos? Wozu verpflichten diese Fähigkeiten? Und wer hat die größten?

Ich ziehe fazitmäßig meinen Hut vor JENNY SPARKS: Der Comic könnte einfacher erzählt sein, ist aber eben ein typischer King und serviert uns zum Schluss eine tiefe Wahrheit über Göttlichkeit: Nutzt nämlich alles nix, wenn du nichts zum Beschützen hast!

Das ist genauso die Essenz des Superheldenwesens. Wir sehen im Grunde eine Variation der Peter-Parker-ErkenntnisWith great power comes great responsibility“.
Bleibt aber zeitlos.

With Instagram comes a reel from me … wie üblich auf meinem Kanal @courthtillmann.

Sollte Ihr Interesse an dem Werk geweckt sein, finden Sie es im Fachhandel oder im Internet. Sie können auch die Referenzseite bei DC Black Label anschauen.

Schreibe einen Kommentar