Diesem schrägen Werk ist nicht leicht beizukommen. Ein autobiografischer Stoff (Erinnerungen an die verstorbene Großmutter), allerdings angereichert mit jeder Menge Exkursen aus der eigenen Lebensgeschichte – implementiert in einen Kosmos, in dem einige Charaktere als Tiere auftreten!
Häh?! So ist es, und ich habe keine Ahnung, weshalb in diesem Comic Hühner, Enten, andere Vögel (und später noch Füchse) agieren. Ich hab das mal so hingenommen. Ein Grund dafür erschließt sich mir nicht. Auch weitere Spinnereien (s. u.) bleiben prinzipiell rätselhaft.
In seiner Sprunghaftigkeit, Referenzbesessenheit und fantastischen Wildheit hat mich VERGISS MEINEN NAMEN an den deutschen Mangaka David Füleki erinnert. Auch stilistisch ist dieses Werk nicht so weit weg von BLUTROTKÄPPCHEN und 78 TAGE AUF DER STRASSE DES HASSES. Auch das Mitspielen in den Geschichten ist beiden Künstlern gemein.
Die Hauptfigur (und Erzähler) ist nämlich der Autor und Zeichner Zerocalcare selbst, der aus seinem Leben berichtet und sich mit viel Selbstironie dem Gespött seines Publikums ausliefert:
„Zero“ ist ein in der Nerdkultur versunkener Twentysomething, der noch kindische Rituale pflegt: Ein Kuschelbär-Schlafsack verleiht ihm bis heute Sicherheit und ein sprechendes Gürteltier ist sein imaginärer Freund seit Kindertagen.
VERGISS MEINEN NAMEN blättert die Familiengeschichte von Großmutter Huguette (die wie ein Hühnchen aussieht), von Tochter Elisabeth (die oben schon aufgetretene Glucke) und Enkel Zerocalcare (der junge Mann mit den markanten Augenbrauen) auf.
Der Künstler nutzt dabei jede Gelegenheit, um süffisant in eigene Erlebnisse abzuschweifen. Schon der Name der Großmutter löst folgenden Gedankenstrom aus: Er und sein Kumpel Secco bestätigen sich in dem Gefühl, eine harte Jugendzeit durchlebt zu haben.
Zeros Erinnerungen an das Leben mit der Großmutter, die ihn zeitweilig allein betreute, sind durchwebt von eigenen Flashbacks. Dieser Comic ist genauso gut Biografie der Großmutter wie des Zeichners (der sich übrigens gerne als Terrorkind stilisiert, um uns mit einer Brechung sogleich den nächsten Gag zu servieren).
Gebt den Hühnern das Kommando
Das Charmante an VERGISS MEINEN NAMEN ist, dass Zerocalcare darin seiner Mutter und Großmutter ein Denkmal setzt. Der Künstler als junger Taugenichts, der ohne mütterliche Hilfe aufgeschmissen wäre. Das gilt auch für die geheimnisvolle Großmutter, von der wir im Lauf der Geschichte interessante Details erfahren: Huguette wurde von einer exilierten russischen Adelsfamilie adoptiert, in Frankreich aufgezogen und mit einem britischen Gentleman verheiratet, der seinen Unterhalt als Betrüger und Hochstapler verdiente – und seine Frau oft genug in seine Schwindeleien einbezogen hat!
Zerocalcare lässt diesen „Sir Crowley“ spät auftauchen und in den Wirren des Zweiten Weltkriegs auch wieder verschwinden. Was dann noch passiert, will ich jetzt nicht verraten. Es geht noch um einen „Geheimbund der Füchse“, seltsame Erbschaften, ein gut gehütetes Familiengeheimnis – sowie die Geister der Vergangenheit.
Eigentlich erfahren wir erstaunlich wenig von Zerocalcare. Wir sehen ihn nie bei der Zeichenarbeit, es wird überhaupt nur einmal erwähnt, dass er Comicmacher ist.
Viel lieber breitet er seine Phobien vor uns aus. Hier zum Beispiel die Angst, Rom verlassen zu müssen und mit dem Auto irgendwo ins Nirwana zu geraten. Es helfen ihm die Zuverlässigkeit seines Navis sowie der imaginierte Kuschelbär, der ihn beruhigt.
Das geht gerne mal seitenlang so und sabotiert den Fortgang der Handlung. Aber gibt es überhaupt eine Handlung?
VERGISS MEINEN NAMEN hat einen Kernplot, der in zwei Sätze passt: Als Zeros Oma Huguette stirbt, soll er einen Ring suchen, der ihr viel bedeutet hat. Diesen Ring aber suchen auch noch andere Leute, die nach und nach auf den Plan treten und ein neues Licht auf das Leben der Großmutter werfen.
230 Seiten lang konstruiert Zerocalcare Assoziationen um diesen Plot herum. Wie er in der verlassenen Wohnung den Ring sucht, mit seinem Kumpel Secco Tolkien-Anspielungen macht, sich an die Schwester der Oma (Suzie) erinnert, die einen Carabinieri geheiratet hat, der ja gar nicht in die Familie passte, weil doch Zero ein Punk und ein Anti-G8-Aktivist ist, der stolz auf seine proletarische Herkunft ist – was ihn zu einer Passage inspiriert, in der Oma Hugette ihren Wohnort verleugnet (den Stadtteil Rebibbia nämlich, bekannt für sein Gefängnis).
Das meinte ich eingangs mit „sprunghaft“ und „fantastisch wild“: Dem Künstler ist nicht an Kontinuität oder eleganter Dramaturgie gelegen, er verlässt sich auf die Originalität seiner spontanen Ideen.
VERGISS MEINEN NAMEN operiert ein wenig wie ein James-Joyce-Roman. Es gilt die Kraft der Assoziation. Die wird die Chose schon schaukeln. Das ist riskant, doch Zerocalcare zählt wie Füleki zu den „Komikern“, die nicht nur grafisch schick aussehen, sondern uns auch problemlos hineinreißen in ihre spleenigen Welten.
Betrachten Sie noch eine Seite mit Familiengeschichte, die Zerocalcare mit Disney-Verweisen illustriert. Das meinte ich oben mit „referenzbesessen“. (Der Typ im letzten Panel ist erneut sein Kumpel und Zuhörer Secco, der natürlich prompt seinen Senf dazugibt und neue, assoziative Pfade eröffnet.)
Das Tier in dir
Völlig schleierhaft bleibt weiterhin, warum Zeros Familie als Geflügel dargestellt wird. Pure Lust am Nonsens, wie ich vermute, es sei denn, ich verpasse eine weitere Referenz.
Wenn Sie sagen „Wat soll der Quatsch? Da finde ich nicht hinein“, habe ich vollstes Verständnis. VERGISS MEINEN NAMEN ist nichts für die Leser*innen gefühliger Graphic Novels oder kunstbeseelter Biografiecomics. Zerocalcare verlangt eine gewisse Affinität zum Underground.
Sein biografischer Ansatz ist (neben den drei bereits erwähnten Adjektiven) auch obskur, wunderlich und überschäumend. Ich schätze das sehr, auch wenn er es hin und wieder etwas übertreibt. Am Ende driftet der Plot doch sehr ins Fantasyhafte, was die anfängliche Authentizität konterkariert.
Aber will man diesem Graphic-Novel-Punk mit Logik beikommen?
Hätte nur gefehlt, dass seine Oma im Hühnerstall Motorrad gefahren wäre! Prust.
Es sei noch geblättert, dass die Federn fliegen: