Ich will zurück auf DIE STRASSE

Oder sollte ich sagen: Ich will zurück in DIE STRASSE, erneut eintauchen in diese gewaltige Graphic Novel, die mich fasziniert. Allein die Farben machen mich völlig fertig. Vor Staunen, wohlgemerkt!

Alles hier ist eigentlich nur grau, aber Zeichner Manu Larcenet nuanciert jede Seite hauchzart mit Tönen von Ocker, Elfenbein, Pfirsich, Anthrazit, Silber, Eisblau, Beige, Gelbbraun, Schiefer, Backstein, Kupfer und Khaki.

Oft finden sich auf einer Seite auch konkurrierende Kolorierungen oder das Spektrum einer Farbfamilie. Hier zum Beispiel ein Beige, das beinahe in Gold übergeht.

Die beiden Figuren, Vater und Sohn, sind unsere Protagonisten, die sich mit ihrem Handgepäck durch eine verwüstete USA schlagen.
Larcenet inszeniert die beiden als in der Landschaft verlorene Wesen, Fremdkörper in einer Natur, die den Menschen vergessen hat.

Nur die Bauwerke und Artefakte der Menschheit künden noch von unserer Existenz. Telegrafenmasten, Brücken, Autowracks, Verkaufsautomaten, Werbeflächen – und natürlich die titelgebende Straße, auf der man sich fortbewegt.

Wir wissen nicht, was mit der Welt geschehen ist, aber es könnte ein nuklearer Krieg gewesen sein, denn nur auf der Straße kommt man noch mühsam vorwärts: Klebriger Matsch und giftiger Ascheregen machen das Reisen jedoch beschwerlich.

Der Weg ist das Ziel

DIE STRASSE ist ein programmatischer Comic: Es geht um nichts weiter als das sture Fortkommen in Richtung Süden. Vater und Sohn flüchten vor dem Winter und zerren einen beladenen Einkaufswagen mit sich.
Kommen sie unterwegs an einen Hof oder einen Lastwagen, durchsuchen sie diese Hinterlassenschaften der Zivilisation auf Waffen, Kleidung oder konservierte Nahrung.

Der Fund einer Cola-Büchse wird zum Highlight des Tages. Der Vater gönnt dem Sohn den Verzehr alleine, und der Sohn ahnt weshalb: „So was kriege ich nie wieder zu trinken, stimmt’s?

Auf der Straße marschieren auch andere Menschen, denen unsere Hauptfiguren um jeden Preis ausweichen. Denn wer da kommt, sind meist Milizen, Banden oder Menschenfresser!

Sie sahen (hier mal in alarmierendem Rot angelegt) den Vorbeizug bedrohlich gewandeter Krieger, in Formation ausschwärmend und schwer bewaffnet.

Der große Menschenknochen (sowie ein als Halskette getragener Kieferknochen, achten Sie auf die Details!) signalisiert, dass diese Horde nicht vor Massakern zurückschreckt.

Immer wieder muss der Vater dem Sohn eintrichtern, dass die Anderen „die Bösen“ sind, schlimmstenfalls daraus auf, sie beide gefangen zu nehmen und Stück für Stück zu verspeisen.

Neben dem Elend des Überlebenskampfs kommt auch die Psychologie der Figuren zum Tragen: Der Vater tut alles, um den Sohn zu beschützen. Sie thematisieren offen, welche Entscheidungen das beinhalten kann, nämlich Misstrauen vor allen Fremden.

Der Sohn schafft es hin und wieder, den hartherzigen Vater zu erweichen, zum Beispiel in folgender Sequenz, in der sie mit einem Fremden das Abendessen teilen: Aus den kargen Worten des Gastes spricht die ganz Vereinsamung dieser Obdachlosen.

It’s a Sad, Sad, Sad World

Auch wenn wir über 150 Seiten lang einer galoppierenden Depression beiwohnen, zieht mich jedenfalls dieser Comic nicht runter. Larcenets grafischer Zauber ist einfach zu überwältigend.

Die folgende Seite zeigt ebenfalls nichts weiter als Elend im Zeitraffer – aber wie griffig und ökonomisch ist das gestaltet!

Zwei Personen wiederum verloren in der Landschaft, Tag und Nacht sind nicht voneinander zu unterscheiden. Ein Panel pausiert für eine fast liebevolle Zeremonie: Der Vater wäscht seinen Sohn in einem See.
Dann wieder grausame Kälte, die unsere Figuren in alle ihre Habseligkeiten eingewickelt zeigt. Der Vater auf der Hut, seine Pistole halb verborgen im Anschlag.
Der Vater ist lungenkrank, es geht im schlecht, doch er erlaubt sich weder Schwäche noch Pause.

Beachten Sie den zerfetzten Basketballkorb im letzten Bild. Nur ein Beispiel für Larcenets clevere Ikonografie: Das nicht mehr genutzte Sportgerät steht als Symbol für eine untergegangene USA.

Das Grauen liegt auf der Straße

Ich komme aus dem Staunen nicht heraus: Staunen Sie mit, wie filigran Manu Larcenet diese Entdeckung einer Scheune inszeniert:
Das Windrad im winterlichen Nebel, hinter schneebetupften Bäumen die Scheune, das Heranpirschen von Vater und Sohn, die Angst des Kindes in der plötzlichen Nahaufnahme, die offen stehende Tür, die Verderben oder Rettung verheißen kann.

Diese Szene mündet in veritablen Horror (was ich nicht verraten werde) – hier beweist Larcenet, dass das Schicksal zweier Menschen auf der Suche nach Nahrung unheimlicher und grauenvoller sein kann als eine Zombie-Serie im Streaming-TV.

Natürlich ist „the Last Man on Earth“ ein packendes Genre, denken Sie an „I am Legend“, den „Omega-Mann“ und ja, auch an „The Walking Dead“.
Aber nie ist es so effektvoll und effizient geschildert worden!

DIE STRASSE ist auch ein Meistwerk der dramaturgischen Balance. Wie leicht hätte dieser Stoff zu schnell oder zu langsam präsentiert sein können.

Doch Manu Larcenet füllt und füttert die Vater-und-Sohn-Szenen mit gefühlt unendlich vielen Impressionen einer untergegangenen Zivilisation, in der auch Tiere keinen Platz mehr haben.
Auch Töne, Laute und Geräusche in Form von Soundwörtern finden sich nirgends. Die Welt ist so stumm wie die Bilder, die uns bedrücken.

Larcenet, der erst 55-jährige Franzose (na, hör, bestes Alter für jeden, der Comics macht), darf in meinen Augen gern als Genie gelten, denn er hat ein umfassendes Œuvre hingeknallt.
Von harmlosen Späßen (DONJON) über lebenskluge Erzählungen (DER ALLTÄGLICHE KAMPF) bis hin zu erschütternden Graphic Novels (BLAST, BRODECKS BERICHT) und ausgelassenen Satiren (DIE RÜCKKEHR AUFS LAND).

Meine Webseite präsentiert zwei Werke aus der letztgenannten Kategorie, nämlich DIE RÜSTUNG DES JAKOLASS und THÉRAPIE DE GROUPE.

Sein deutscher Verlag ist Reprodukt, Presseinformation und Leseprobe HIER einsehbar. Und zum Preis von 25 Euro ist dieser Band ein echtes Schnäppchen!

Und jetzt machen Sie sich bitte auf die Socken, um beim Händler Ihres Vertrauens noch ein Exemplar zu ergattern. Mein väterlicher Rat: „So was kriegen Sie nie wieder zu sehen.

Los, los, ab auf die Straße! Wer noch eine Entscheidungshilfe braucht, kann sich kurz im Werk umsehen: