Wenn Sie Ihren Horror-Horizont erweitern möchten (wo liest man schon mal so einen Satzanfang?, nur hier!), dann empfehle ich einen Blick auf drei Mangaka aus drei Jahrzehnten.
Hideshi Hino gilt als Altmeister des Horror-Mangas und schuf in den späten 1980er-Jahren memorable und verstörende Werke wie „Bug Boy“, „Hell Baby“ oder „Red Snake“.
Junji Ito folgt seit den 1990er-Jahren in Hinos Fußstapfen und schuf unzählige Horrorerzählungen, sein Hauptwerk ist jedoch „Uzumaki – Spiral into Horror“ von 1998/99.
Yuki Honda zeichnete 2016 (nach einem Skript von Kengo Hanazawa) den flammneuen Zombie-Manga „I Am a Hero in Osaka“.
Ich habe mir die (wenigen) auf Deutsch verfügbaren Werke zu Gemüte geführt, allzu viele Horror-Mangas werden hierzulande nämlich nicht veröffentlicht. Auf Englisch ist mehr zu haben, wenn auch meist zu Sammlerpreisen.
Wo fangen wir an? Beim meistgelobten und präsentesten in der Szene: Junji Ito und seine teuflischen Spiralen. Den zu entdecken komme ich Jahre zu spät, aber ich will auch ein wenig kritisch mit ihm sein.
Es wäre ein Missverständnis, „Uzumaki“ als Graphic Novel zu betrachten, die man in einem Rutsch lesen muss. Ito gibt uns ein Setting (die Kleinstadt Kurouzu) und zwei Protagonisten, das Schulmädchen Kirie Goshima und ihren etwas älteren Freund Schuichi Saito (eine Beziehung, die platonisch geschildert wird).
Die „Spirale ins Grauen“ entfaltet sich (oder zieht sich zusammen) auf 19 Kapiteln, die wie die Episoden einer Fernsehserie funktionieren.
Die beiden Jugendlichen werden mit diversen Erscheinungen des Horrors konfrontiert, von Folge zu Folge ein anderer. Rahmen ist dabei immer das offensichtlich verfluchte Kurouzu, das „von Spiralen verseucht“ ist. Die beiden Auftaktkapitel heißen „Von Spiralen besessen“ und bauen das Grundthema geschickt und langsam auf.
Schuichis Vater ist Töpfer und modelliert mit Ton aus dem See, in dem die Asche der Toten verstreut wird; deren Seelen manifestieren sich in der Keramik, bis der Brennofen zerstört wird. Menschen mutieren zu riesigen Schnecken. Im Krankenhaus von Kurouzu wachsen den Neugeborenen Nabelschnüre und Plazentas, denn sie wollen zurück in den Mutterleib. Immer wieder gelingen Ito konzeptuelle und grafische Umsetzungen, die den Leser durch ihre Originalität verblüffen: Ein Taifun verfolgt Kirie und Schuichi durch die Straßen der Stadt und heult ihre Namen im Wind. Kiries Haare wachsen plötzlich in wilden Spiralen und beginnen ein Eigenleben mit medusischen Qualitäten.
In Band 3 wird die Schraube noch angezogen: Kurouzu ist durch die gespenstischen Taifune von der Außenwelt abgeschnitten und zur Parallelwelt mit eigenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten geworden. Es herrschen Chaos und Zerstörung, wilde Kinder ziehen herum und verursachen Wirbelstürme. Kirie, ihre Familie und Schuichi stemmen sich dem Wahnsinn entgegen, doch der Fluch der Spirale erfasst die Stadt samt ihrer Umgebung.
Die Überlebenden ernähren sich kannibalistisch von den Schneckgewordenen. Die Häuser ordnen sich spiralförmig an, ein Entkommen ist nicht möglich, da alle Weg im Kreis wieder zurückführen.
Am Ende kulminiert diese ‚Serie‘ in ein ruhiges Finale. „Uzumaki“ ist wie ein in die Länge gezogener Alptraum, der nicht endet. Dieses Werk ist fantastisch, es ist stellenweise eklig, es bleibt uns fremd und wird nicht aufgelöst (auch das ein Markenzeichen von Japanhorror, der uns Westlern Unwohlsein bereitet).
Das ist alles verdammt unheimlich und es sind Ideen, die wir aus dem westlichen Horrorkanon nicht kennen. Dabei ist Ito (Achtung, elegante Überleitung) ein sehr ‚westlicher‘ Zeichner. Seine Seitenlayouts sind einigermaßen restringiert, nur selten benutzt er eine Einbild- oder aufgelöste Seite (wenn, natürlich für einen fetten Horroreffekt). Die Seiten verlaufen in einem geordneten, rechteckigen Mehrpanel-Raster, auch wenn es selten dasselbe ist.
Itos Strich ist haarfein getuscht wie Manga generell, doch enthält er sich der üblichen Übertreibungen im Bezug auf Mimik und Aktion. Wie Jiro Taniguchi lehnt sich Ito an europäische Konventionen an und ist ein Mangaka, der somit im Westen leichter verstehbar ist.
Also: Junji Ito ist WEIRD, Herrschaften.
Asiatischer Horror verlangt keine Logik, wie wir das sonst gewohnt sind. Hier waltet kein Ursache-Wirkungs-Prinzip, dieses Grauen ist einfach da und trampelt in unserem Leben herum.
„Uzumaki“ hat mich bei aller Meisterschaft und Finesse doch ein wenig kalt gelassen. Ich führe es mal auf die sterilen Charaktere zurück, die sich im Lauf der Bände auch nicht um ein Iota verändern. Kirie bleibt das brave Mädchen, das aus dem Staunen nicht herauskommt. Schuichi bleibt der brütende Mahner, der sich in sein Schicksal ergibt.
Mir ist auch noch kein Manga begegnet, der mich mit seinen Figuren hätte warmwerden lassen.
Ist das der kulturelle Graben, der mich weiterhin mit asiatischen Comics fremdeln lässt? Diese Japaner arbeiten auch ohne jeden Humor!
Gegenbeispiel aus meiner US-Lektüre: der von Jason Aaron getextete DOCTOR STRANGE. Auch hier werden wir mit Phantasmen und irren Welten beworfen, aber zugleich sprüht dieser Comic vor Witz.
(Gerade im dritten Tradepaperback die Szene gelesen, wo es auch um das Verspeisen von etwas Grauenvollem geht: Strange ist gefangen in einem höllischen Diner, betrieben von Satana, des Teufels Tochter. Er soll den ‚bacon-wrapped bacon‘ essen, doch den hat gerade ein anderer Gast verspeist.
Also lässt Satana den Betreffenden an ihren Tisch kommen, verpasst ihm einen Magenhaken, greift in seinen Schlund und zerrt die Nahrung wieder hervor. Dann stopft sie den Fleischbatzen in Stranges Mund. Dessen Reaktion auf diese megakrasse Aktion: „Das gibt aber ein geharnischte Bewertung auf Yelp!“) – Das ist die hohe Kunst des Originellen.
Ich verplaudere mich …
Itos Werk (nicht nur das Besprochene, auf Englisch ist mehr Gruselstoff erhältlich: GYO, TOMIE) ist einen Blick wert. Gehört zum Kanon des modernen Horrors, ist aber nicht mein Liebling.
Carlsen Manga hat „Uzumaki“ in drei Bänden veröffentlicht, alle noch verlagslieferbar. Ein interessanter YouTube-Kurzfilm präsentiert das Horrorwerk von Ito unter diesem Link (geht erst richtig los bei Minute 3!).
Springen wir mal in die Moderne:
Yuki Hondas „I Am a Hero in Osaka“ von 2016.
Dieses One-Shot-Mangabuch hat man schnell durch, es kommt uns rasant, knallig und reißerisch entgegen. Das ist meinem Verständnis nach EINE Schule von Manga – die rasch konsumierbare, vergessenswerte U-Bahn-Lektüre.
„Hero“ enttäuscht hier in keinster Weise, man ist eine halbe Stunde prächtig unterhalten, dennoch vergisst man diesen Comic nicht so schnell wie man ihn gelesen hat.
Memorabel gestaltet Zeichner/in (?) Yuki Honda die klaustrophobische Panik in einem gelandeten Flugzeug: Während die Passagiere ungeduldig aufs Aussteigen warten (wir kennen dieses nichts-wie-raus-hier-Gefühl sehr gut), überrennen Zombiehorden den Flughafen – und im Flieger selber brechen erste Infektionen aus!
Zur (weiteren) Handlung: Die Freundinnen Kozue und Yuko kommen von einer Hochzeitsfeier zurück und landen in Osaka. Kozue ist deprimiert, weil ihr nichtsnutziger Freund Tetsuo (den sie „Tetchan“ ruft) nur Motorräder im Kopf hat und nicht ans Heiraten denkt. Die Flugzeugbesatzung lässt jedoch niemanden aussteigen, weil sich in der Stadt eine biologische Seuche ausbreitet.
Menschen drehen durch und fallen über andere her, schnell bricht über Osaka die Zombieapokalypse herein!
Im Flieger versuchen Kozue und Yuko, die Nerven zu behalten; in der Stadt nimmt Tetsuo per Handy Kontakt auf und will Kozue am Flughafen abholen. Doch der Weg dahin ist mit Gefahren gepflastert – zudem eine weitere Bedrohung aufzieht: Der junge, gut aussehende Gentleman Sawamura steht den Frauen bei und wird somit romantischer Rivale von Tetsuo, der versucht, mit einem entwendeten Motorrad zum Flughafen und zu Kozue vorzudringen.
Im Flieger kommt es zu krassen Konfrontationen, die ich nicht spoilern werde. Dennoch verrate ich jetzt das Ende (wer’s noch lesen will, überspringe den kursivierten Absatz):
Tetsuo schafft es tatsächlich, seine Kozue vom Flughafen aus in Sicherheit zu bringen; irrerweise hat er unterwegs noch ein Baby gerettet, welches das Pärchen zur Kleinfamilie ergänzt, die zu dritt auf dem Motorrad in eine ungewisse Zukunft knattert. Bei der Gelegenheit erfolgt endlich auch der ersehnte Hochzeitsantrag, der Kozue dennoch angesichts der Umstände nicht glücklich macht.
Ich fragte mich im Anschluss, ob die übertrieben ausgestellte Soap-Artigkeit des Werks nicht doch ein ironischer Kommentar auf Manga an sich sein könnte. Meine Interpretation, wahrscheinlich. Machte „Hero“ aber reizvoll für mich, versah das Ganze mit einem intellektuellen Meta-Twist, der mir dieses Bändchen in warmer Erinnerung behält.
„I Am a Hero in Osaka“ übrigens erschienen und erhältlich bei Carlsen Manga.
Kommen wir abschließend zum erwähnten „Altmeister“:
Der Verlag Schreiber & Leser hat vor zehn Jahren vier Taschenbücher von Hideshi Hino (je ca. 200 Seiten) aufgelegt („Hino Horror“), antiquarisch noch erhältlich. (Verlagsinfo zu Hino HIER einsehbar.)
Hino operiert mit fetter Tusche, er klumpt seine Seiten mit Schwärze zu. Bei Hino scheint niemals die Sonne. Wenn es überhaupt mal Tag ist, dann regnet es oder der Himmel ist verhangen – mit Unheil, natürlich! :- )
Hino ist hässlich, er liebt die Verstümmelung und Entstellung. Die er auch prominent und schonungslos ins Bild setzt.
(Sollten Sie zart besaitet sein, schauen Sie nicht weiter, es folgen einige Schockbildchen.)
Das kontrastiert mit seinen Protagonisten. Seine Hauptfigur ist erstaunlich oft der glubschäugige Schuljunge mit dem Kugelkopf (der in BUG BOY zur menschenfressenden Killer-Raupe mutiert und in der Zirkelschluss-Erzählung RED SNAKE im verfluchten Haus skurrile und blutige Geschehnisse erlebt). Es handelt sich jedoch nicht um dieselbe Person!
In Mangas agieren ja prinzipiell fast nur jugendliche Menschen, doch Hino verlagert seine Horrorvisionen in die Kindheit, was sie noch unangenehmer macht. Der erwähnte Manga BUG BOY endet damit, dass die Leiche des Jungen durch Abwasserkanäle aufs Meer treibt, wo sie in einer Apotheose ins große Ganze aufgeht. Ein megakitschiges Finale, dass Hino wie einen düsteren Disney erscheinen lässt.
In BLACK CAT präsentiert uns eine schwarze Katze drei Geschichten von ihrem Zusammentreffen mit Menschen, beinahe konventionelle, jugendtaugliche Erzählungen – ginge es nicht um (1.) einen trunksüchtigen Bauchredner, der dem Wahnsinn verfällt, (2.) einen normaler wirkenden, verwaisten Schuljungen, der sich einen Hund zur Killermaschine dressiert (und am Schluss ebenfalls dem Wahnsinn verfällt), (3.) ein zerstrittenes altes Ehepaar, das sich das Leben zur Hölle macht und (wollnse raten?) dem Wahnsinn verfällt.
Bei allem Unwohlsein (und allem Wahn) ist BLACK CAT das ‚softeste‘ Angebot, das wir auf Deutsch von Hino vorliegen haben. Auch ist sein Design hier heller, seine Tusche nicht so heftig und dominant.
Den Hardcore-Hideshi gibt es dann wieder mit THE COLLECTION, eine Shortstory-Auswahl, die wirklich nichts für schwache Nerven ist. Das Schwarz der Tusche könnte ebenso gut rot sein, denn hier geht es um Gedärme, Geschwulste, ausgerissene Augen, groteske Leichen. Um nur mal einen Anfang zu machen …
(Privater Spaß des Zeichners hierbei: Ein psychopathischer Mangaka namens „Hideshi Hino“ zeigt uns die grausigsten Stücke aus seiner Sammlung und erzählt uns die dazugehörigen Geschichten …)
In COLLECTION tischt uns Hino gewissermaßen seine groteske Horrorbiografie auf und stellt sich selbst als Kind dar – es ist der uns schon bekannte glubschäugige Schuljunge mit dem Kugelkopf!
Ist das nun Comic als Trauma-Verarbeitung oder nur ein cleveres Markenzeichen? Ich nehme es als augenzwinkernde Referenz an die ‚Host-Kultur‘ der US-amerikanischen Gruselhefte. Horror frisch vom Erzeuger!
In der Episode „Der Embryo im Glas“ beschreibt Hino seinen Vater als Schweinezüchter, der mit Hingabe Tiere zerlegt, die Mutter ist eine Irre, die einen Schweinekopf liebkost und den eigenen Sohn hasst und körperlich quält. Sie erlitt bei Hinos Geburt einen Nervenzusammenbruch, denn Baby-Hino hat im Mutterleib seinen Zwillingsbruder getötet.
Unser fiktiver Hino zieht sich zum Spielen in die unterirdische Kloake zurück, in die er eines Tages auch die Mutter stößt und somit umbringt. Er beobachtet die Stadien ihrer Verwesung und zeichnet Skizzen davon („Diese Erfahrung machte mich zu dem Künstler, der ich heute bin.“)
Ich gehe davon aus, dass wir es mit rabenschwarzem Humor zu tun haben, dennoch will sich bei Hino kein Lachen einstellen.
Aus der sich zersetzenden Mutterleiche birgt Hino schließlich einen Embryo, den er in einem Glas konserviert und überall mit hinnimmt. Er tauft ihn Hidejiro und behandelt wie zärtlich wie den Bruder, den er nie hatte. Irgendwann wird Hidejiro in seinem Glas noch lebendig!
Das sind Plots, die uns schlucken lassen, mit denen sich Hino allerdings nur warmläuft. Es folgt die Geschichte, in der seinem Großvater ein Tumor im Gesicht wächst, aufplatzt und lebendes Gekröse ausspeit. Mehrfach.
Habe ich schon erwähnt, dass sich Hideshis Großmutter für ein Huhn hielt und in einem selbst gebauten Nest den abgetrennten Kopf einer Selbstmörderin bebrütete? :- )
(Beide Großeltern-Handlungsstränge werden uns – leicht variiert – übrigens schon in RED SNAKE untergejubelt; Hino schreckt auch vor einem Best-of seiner Widerwärtigkeiten nicht zurück …)
Tschä, Hino, Ito, Honda, hamwir ein Fazit?
Ich gestehe, dass mich andere Genres im Mangabereich (wie Science Fiction, Thriller, Erotik) herzlich langweilen bzw. befremden (im besten Falle finde ich es kurios) – bei Horror allerdings hauen sie richtig auf die Kacke!
Zumindest die drei oben vorgestellten Künstler leisten einen kreativen Beitrag zur Kunst der Horrorcomics.
‚Schön‘ sind die nicht, aber darum geht es nicht. Sondern um die Erweiterung des Horizonts. Nichts anderes hatte ich eingangs versprochen …
Ein Clip von ARTE „Tracks“ aus dem Jahr 2018 featured übrigens zwei „Großmeister des Horrormanga“! Der dort (neben Hino) vorstellte Kazuo Umezu ist mir sträflicherweise unbekannt; Umezu habe das Genre Mitte der 1960er-Jahre erfunden.
(Einer schnellen Recherche nach ist Umezu nie auf Deutsch erschienen, kein Wunder, aha.)
https://www.youtube.com/watch?v=m_EEDsLeIrs