Der Held in diesem Comic (und die heimliche Hauptfigur) ist eine Kaffeemaschine.
Eine Kaffeemaschine auf Beinen, die sich Melville nennt und stolz auf ihre Barista-Künste ist.
Melville ist zugleich ein fühlendes Wesen, weil das Bewusstsein eines (ungenannten und verstorbenen) Mannes in diesen Roboter implementiert wurde. Als es ans Sterben ging, hat er sich auf eine Werbeanzeige eingelassen und lebt nun als Kaffeemaschine weiter. Aber da er Kaffee wirklich gern hat, ist er sehr zufrieden mit seinem neuen Leben.
Das 80 Seiten starke Album NATHANAËLLE beginnt mit Melville, der seinen Sohn Vivier trifft und ein typisches Vater-Sohn-Gespräch führt (was ich hochkomisch finde und daher auf zwei Seiten präsentieren möchte):
Draußen nur Kännchen
Die gezeigte Sequenz beinhaltet die Seiten 3 und 4 des Comics, vorher erleben wir Melville noch als Zeugen einer wilden Schießerei. Das Straßengespräch ist Rückblende, denn Autor Charles Berberian und Zeichner Fred Beltran eröffnen ihr Werk lieber mit Action, das bindet ja auch mehr Aufmerksamkeit.
Behalten Sie dennoch mal im Hinterkopf, dass die zweite Szene eine komödiantische Vater-Sohn-Begegnung ist, wir kommen darauf zurück.
Die titelgebende Nathanaëlle ist eine junge Frau, die aus ihrer Isolation in einer unterirdischen Wohnwabe geflohen ist und bei Melville Schutz gefunden hat. Sicherheitsapparat und Polizei sind hinter der Flüchtigen her und haben Order, die Frau zu liquidieren.
Nathanaëlle jedoch weiß sich zu wehren (und mit Waffen umzugehen), sie macht sich auf, die Welt zu erkunden. Sie ruft ihre eingesperrten Leidensgenossen auf, gegen das System zu rebellieren und gewinnt die Unterstützung einer Plünderer-Bande.
Das ist im Grunde schon die Handlung; parallel erleben wir noch Nathanaëlles Vater, den Staatspräsidenten Tabor, der in einer sechsten Inkarnation vor dem Staatsrat erscheint, um sich für eine siebte Amtszeit zu bewerben.
Tabor hat seine Tochter vor zwei Jahren weggesperrt (übrigens unter dem Vorwand, draußen tobe eine virusbedingte Apokalypse), weil sie „einer Gruppe Unruhe stiftender Aktivisten angehört hat“. Mehr erfahren wir nicht. Auch ist mir nicht klar geworden, was für ein System genau da eigentlich bekämpft worden ist (und wie das Narrativ mit der Virenapokalypse funktioniert haben soll; egal, Virenapokalypse funktioniert immer, aktuell in unserem eigenen Leben; der Comic entstand allerdings schon vor Covid-19.)
NATHANAËLLE präsentiert uns eine futuristische Welt, dominiert von Überwachung und Polizeigewalt, das soll als Feindbild offenbar ausreichen. Auch dass Vater Tabor bereit ist, seine Tochter Nathanaëlle zu opfern, kommt mir krass und ein bisserl unmotiviert vor.
Will sagen: Wir müssen uns die Motivationen der Charaktere in diesem Werk selbst zusammenstoppeln – das geht zwar, finde ich aber von Autorenseite her nachlässig.
Diese Welt immerhin ist irrsinnig schick gestaltet und verschafft dem Artwork von Fred Beltran eine große Bühne.
Stilistisch sehe ich Beltran im Spannungsfeld zwischen Beb Deum und Drew Friedman (wenn Sie mir folgen können, müssen Sie aber nicht).
Dabei kreiert Beltran einen Cartoon-Realismus, der absolut staunenswert ist.
Einerseits verleiht er Gesichtern eine Akkuratesse bis in den kleinsten Pickel hinein, andererseits schafft er Distanz durch überzeichnete Augen-, Mund- und Nasenpartien sowie hanswurstige Körper.
Das hat was! Diese Zeichenkunst war es auch, die mich für das Werk interessiert hat. Dieser pseudorealistische Stil lädt seine Darstellungen aus sich heraus mit einem gewissen Witz auf (s. dito Beb Deum und Drew Friedman).
Das kommt mir komisch vor
Ich erkenne jede Menge komödiantischer „Marker“ in diesem Comic und bedaure deshalb, dass das Kreativteam nicht den Mut hatte, mit NATHANAËLLE in deutlich parodistische Richtung zu gehen. Hier eine Listung der ulkigen Dinge:
Melville natürlich, unsere Kaffeemaschine, ist ja nicht ernst zu nehmen. Ihr gehören lange Szenen zu Beginn des Comics, die originell und witzig sind (wovon Sie sich oben mit der ersten Szene überzeugen konnten).
Details im Hintergrund laden zum Schmunzeln ein: ein Zornesblitz über dem Kopf einen Robo-Kellners, einen feuerfangende Pfanne auf dem Herd, groteske Outfits wie überdimensionierte Brillen oder fetischartige Atemmasken, ein alter „Droopy“-Trickfilm auf einem Bildschirm, ein wandelnder Snack-Automat, kleine Putzroboter, herumliegende Nahrungsreste, das Hologramm eines französischen Flics, Typen mit Teddy-Frisuren und Cowboyhüten sowie eine Ansammlung glotzender Fische.
In dieser Zukunft existieren auch Technikprobleme: Ein IT-Support-Mensch mit Auszeichnung „Computeam“ werkelt immer mal wieder im Hintergrund an Geräten herum, am präsentesten in dieser Szene:
Figuren tragen die Züge realer Persönlichkeiten; ich erkenne Edgar Allan Poe (Tabor) und Oscar Wilde; vermutlich sind da noch mehr Bezüge, die ich nicht zuordnen kann (wer ist der Bogenschütze mit dem langen, kupferfarbenem Haar, ein französischer Musiker oder Schauspieler)?
Nathanaëlles Mitbewohner Jiro ist eine bekiffte Schießbudenfigur, dauerhaft mit Cybersex beschäftigt. Jiro ist zum reinen „comic relief“ da (man fragt sich, weshalb er überhaupt so prominent mitmachen darf).
Wir brauchen diese Figur nicht, sie erfüllt keinerlei Funktion – außer schräg zu sein.
Tu was für die Figur!
Damit komme ich auf die Figurenführung generell zu sprechen, die zu wünschen übrig lässt (und mir Ausdruck einer gewissen „französischen Wurstigkeit im Comic“ zu sein scheint): Melvilles Frau Shirley und sein Sohn Vivier dominieren beinahe 15 Seiten in diesem Comic, dann werden sie radikal aus dem Spiel genommen.
Titelfigur Nathanaëlle bleibt mir fremd: Ich sehe eine Frau, die nichts als Gewalt im Kopf zu haben scheint. Sie bricht aus, schießt sich den Weg frei, ruft die Isolierten dazu auf, ihre Zellen zu verlassen, greift die Polizei an, wird zurückgeschlagen und muss letztendlich die Flucht antreten. Kein Wort zu ihrem Vater, nur am Ende träumt sie von einem Ausflug, den sie als Kind mit Tabor unternommen hat.
Präsident Tabor bleibt ebenfalls eine rätselhafte Gestalt, die vollauf damit beschäftigt ist, ein seltsames Operetten-Theater vor dem Staatsrat aufzuführen.
Ich interpretiere das dahingehend, dass der gute Mann offenbar durchgedreht ist und sich lieber der Sangeskunst als der Staatsführung widmet – weil er das System für „korrupt, abgestumpft, übersättigt und dekadent“ hält. Deswegen hat er eine rebellische Tochter herangezogen, um für einen Umsturz zu sorgen.
Häh? Aber er hat doch Nathanaëlle auch eingesperrt, lässt sie jagen und wollte selber weiter regieren?! Tabor handelt paradox: Er hat den Staat aufgebaut, aber mit Nathanaëlle auch einen Keim der Zersetzung erschaffen.
Je länger ich über diesen Comic nachdenke, desto konfuser macht er mich. Ein Generalfehler mancher Comicprofis liegt darin zu glauben, originelle Ideen und ein guter Look reichten schon, um einen tollen Comic zu produzieren.
Der überwältigende Stil von Beltran ist in der Tat die halbe Miete (auch wenn er mir bei Landschaften und Großszenen zu flattern scheint), doch muss ein Werk der grafischen Literatur auch eine Konsistenz bei Figuren und Handlung gewähren.
NATHANAËLLE fokussiert nicht auf die Psychologie der Charaktere, sondern hält sich mit Ausschmückungen und Details auf, imponiert uns mit elegantem Layout und interessanter Kameratechnik.
Die einzig konsequent gestaltete Figur (und die einzige, die wirklich lebendig wird) ist ausgerechnet Melville, Sie erinnern sich: die Kaffeemaschine!
Der (Selbst-)Zweck heiligt die Mittel
Auch die dramaturgische Balance ist nicht die eleganteste, denn im Mittelteil drückt bleiern die Passage mit Tabor vor dem Rat, die zu textlastig daherkommt. Hätte Autor Berberian das nicht anders aufbereiten können – mit Rückblenden oder Verteilung des Textes auf weitere Handlungsträger?
Das sind so kleine Faulheiten, die ich mit „Wurstigkeit“ meine. Es hätte diesem Konzept gutgetan, ein Vierteljahr mehr am Drehbuch zu feilen.
Womöglich IST diese Figur übrigens ein (reanimierter/ geklonter) Edgar Allan Poe, denn wir erfahren, dass Tabor seit 500 Jahren die Regierungsgeschäfte führt. Poe starb 1849, plus 500 macht 2349, das könnte die Handlungszeit von NATHANAËLLE sein …
Aber weshalb sollte ein Edgar Allan Poe diese Welt anführen?!
Und wenn es so wäre, hätte er sie nicht ganz anders gestaltet?!
Worin liegt der Mehrwert, Tabor wie Poe aussehen zu lassen?!
Will sagen: Mir kommt diese Referenz an Poe wie eine pure Spielerei vor – und von solchen Spielchen lassen wir die Finger, sonst sorgt es nur für Irritation.
Ich sagte oben: Das Kreativteam hatte nicht den Mut, mit NATHANAËLLE in eine parodistische Richtung zu gehen. Wie komme ich darauf, was steht dem entgegen?
Ganz einfach: Der Brutalismus, die Gewalt in diesem Comic. Es geht recht blutig zur Sache, das wäre nicht nötig gewesen.
Dieser Comic steckt in einem konzeptuellen Konflikt. Er möchte Aktion und Spannung bieten, schaut aber eher drollig aus und kapriziert sich auf humorige Elemente. Damit unterläuft er die Ernsthaftigkeit des Geschehens.
Ich wiederhole mich: Es hätte die Chance auf eine parodistische Dystopie bestanden, was ich auch reizvoll gefunden hätte.
NATHANAËLLE endet mit einer Szene, die nach Fortsetzung schreit. Der Schluss macht einem bewusst, dass wir bisher nicht mehr als eine Exposition gesehen haben. Wer ist diese Nathanaëlle überhaupt? Was wird sie nun anfangen mit ihrer Freiheit, ihren neuen Rebellenfreunden? Wollen Sie das System stürzen? Aber wer steht ihnen dann entgegen?
Fazitaëlle
Es geht nicht so weit, dass ich diesem Werk Augenwischerei vorwerfen würde. Autor Charles Berberian bekommt eine Handlung hin, nur rumpelt und pumpelt die ein wenig und rechtfertigt das bisher Gezeigte eigentlich nur, wenn der Stoff fortgesetzt wird.
Vom Artwork her ist NATHANAËLLE eine kleine Sensation und ein eindrucksvolles Comeback von Beltran, der sich (nach drei Bänden MEGALEX) gut 15 Jahre aus dem Comicbusiness zurückgezogen hatte.
Was den Band in meinen Augen rettet, ist der melancholische Melville: Wäre da nicht die Kaffeemaschine, NATHANAËLLE wäre ein frankobelgischer Science-Fiction-Mumpitz von der Stange.
Natürlich blättern wir noch hinein in diesen Comic: