Furios on the road: NEGALYOD

Mein Gott, muss Vincent Perriot einen Spaß am Zeichnen gehabt haben!
Der Zeichner (der zugleich als Autor fungiert) kritzelt 200 Seiten voll und ergeht sich in der akribischen Ausgestaltung von Landschaften, Tierherden, Menschenmengen und Stadtansichten. Dabei ist er nicht mal auf Realismus aus, sondern wirkt auf mich wie ein Moebius-Epigone, der jedoch der modernen französischen Schule verhaftet ist.

Das beißt sich in gewisse Weise und transportiert eine ruppig-rohe Anmutung, die mich ein wenig irritiert. Aber es ist sein Stil und er funktioniert und beeindruckt mich mit purem Gestaltungswillen.
Perriot illustriert filmisch inszenierte Verfolgungsjagden und andere Actionsequenzen, die sich detailliert über viele Seiten hinziehen (14 allein für die Reiterattacke auf einen Lastwagen) und mich gebannt blättern lassen.

Auch die Star-Wars-artige Raumgleiter-Jagd durch eine schwebende Stadt ist eigentlich ein alter Hut (zigmal im Kino erlebt), aber in diesem Comic wirkt es frisch –  das ist den schrägen Farben zu verdanken, aber auch dem Layout, der Kameraführung und dem Design des Dargestellten!
(Zur Bebilderung habe ich Doppelseiten fotografiert.)

Haben Sie die textilbespannten Flügel und die hölzernen Cockpits dieser Fluggeräte bemerkt? NEGALYOD präsentiert uns keinen Steampunk, sondern mehr … Holzplank.

Die Welt, die uns Perriot offenbart, ist berauschend. Wir staunen über schwebende Städte und gewaltige Maschinen, aber auch über stammesartig gekleidete und ausstaffierte Figuren sowie über Dinosaurier. Ja, Dinosaurier verschiedenster Couleur!

Dieser Comic wagt es, die Extrempole diverser Fantasy-Konzepte kurzzuschließen.

NEGALYOD beginnt als dystopischer Western, in dem der Dino-Cowboy Jarri seine Herde in die Stadt treibt, wird dann zum Sozialdrama eines futuristischen Klassenkampfes und endet als Apokalypse einer Gesellschaft, überwacht von künstlicher Intelligenz.

Damit Sie mir aber überhaupt glauben, was ich da sage, erst einmal ein paar Seiten vom Anfang des Werks:

Die bäuerliche Beschaulichkeit wird bald zerstört durch das Auftauchen eines sogenannten Wetterlasters, eines dahinrasenden Tankwagens, der Blitze anzieht und somit für dringend benötigten Regen sorgt. In dieser Welt wird das Wetter offenbar komplett manipuliert; als Kollateralschaden wird Jarris Herde vom Blitz erschlagen.
Der erzürnte Hirte zieht zur nächsten Siedlung, verkauft seinen Reit-Dino Stygo und macht sich auf den Weg in die Stadt, um sich dort an den Verantwortlichen zu rächen.
(Das klingt nach einer höchst vagen Idee, die nicht viel Aussicht auf Erfolg zu haben scheint, doch darum geht es ja auch nicht. Erst mal in der Stadt ankommen, zwinker.)
Denn Jarri läuft sofort dem „Großen Kam“ in die Arme, einem rebellischen Volkstribun, der von den Sicherheitsbehörden der Oberstadt gesucht wird. Prompt kommt es auch zu einer Razzia in der Unterstadt, bei der der Kam und Jarri die Flucht ergreifen.

Jarri, der Hirte, erkennt sogleich die Repressionsmuster und wandelt sich spontan zum Rebellen. Die hohe Kaste in der schwebenden Stadt hält sich die Unterklasse auf dem Erdboden als Arbeitskräfte und bestraft aufrührerische Aktionen mit Entzug der Wasserversorgung. Da simmer natürlich dagegen!
Bäm! Plakativer kann man eine gespaltene Gesellschaft kaum entwerfen, es liest sich jedoch nicht so plump, wie ich es in der Analyse klingen lasse.

Perriots Vision ist derart beseelt und liebevoll komponiert, dass mir seine Holzhammer-Dramaturgie nicht aufstößt. Klingt kitschig, aber bei der Lektüre durchströmt mich die Liebe, die der Künstler in sein Werk gesteckt hat.

Zum Beweis eine weitere Doppelseite, die uns den „Weg nach oben“ zeigt: Die Treppentürme sind für die Unterschichtler der einzige Weg, um in die komfortable Stadt über ihnen zu gelangen, vielleicht um dort Arbeit oder Schutz zu finden.
Um dieses zentrale Element herum arrangiert Perriot einen Dialog Jarris mit Kam, der offenbart, dass die Rebellen einen Plan haben, um auf dem Luftweg in die Stadt zu kommen.

Die Rebellen möchten die Schaltzentrale der Macht, den Netzturm der Stadt, in die Luft sprengen, um das System zum Einsturz zu bringen. Jarri, Kam und dessen Tochter Korienzé (eine autodidaktische Ingenieurin) machen sich auf den Weg in die Berge, wo ein Luftschiff versteckt liegt, welches sie flottmachen und als Bomberflugzeug nutzen wollen.

Mehr will ich nicht zur Handlung sagen, präsentiere aber noch einen Blick auf die schwebende Oberstadt und den alles beherrschenden Netzturm. Im Moment tritt dort die Militärgarde an, um Bericht über die Jagd nach den Rebellen zu erstatten.

Déjà-vu in der Zukunft

 

Natürlich erkennen wir Referenzen an die Popkultur, sowohl aus dem Film– wie auch aus dem Comicbereich.

Der Klassenkampf-Plot im Mittelteil ließ mich an „Total Recall“ denken, wo auch eine Ober- und eine Unterstadt im Clinch liegen (oder nit?). Zumindest wird dem schmutzigen Mutantensektor die Luft abgedreht, ähnliches geschieht im Comic mit der Wasserversorgung.

Weiter hinten erkenne ich deutliche Anleihen bei „Mad Max“ (nehmen wir ruhig den letzten, „Fury Road“), wo ebenfalls Tanklaster durch die Wüste verfolgt und angegriffen werden. Auch ist das Thema der Wasserverteilung in diesem Film zentral. Ein Handlungspfeiler bei NEGALYOD ruht wie erwähnt auf der Frage, wer das Wasser für die Armen kontrolliert.

Was im Finale passiert, will ich nicht konkret verspoilern, doch es geht um die altbekannte Thematik einer künstlichen Intelligenz, die die Herrschaft an sich gerissen hat. Wer schützt den Mensch vorm Menschen? Die WATCHMEN wahrscheinlich, die Wächter. Doch wer wacht über die Wächter? Wer wagt ein Gelächter?

Wer rastet, der rostet. Wer schreibt, der bleibt. Wer malt, der prahlt.
Apropos prahlen: Alter, wo steht mein Dino?
Hier natürlich:

NEGALYOD ist auch so’n Name (der nicht erklärt wird, keine Ahnung, was issas: NEGALYOD?), der wie von Jodorowsky erdacht und von Moebius illustriert klingt. Ein Hauch von INCAL und META-BARONE schwebt auch durch diesen Comicschinken. Hier und da glaube ich auch, einen Hauch von Philippe Druillet auf meinen Augäpfeln verspürt zu haben.
Dieser Vincent Perriot packt frech viel französische Tradition in sein Gesamtkunstwerk.

Dingdong, Druillet calling: Perriot kloppt einfach mal so ein bombastisches Panorama raus.

 

Wahrscheinlich ist NEGALYOD eine Verbeugung vor den erwähnten Künstlern, mag mal jemand annagrammifizieren?
(Ich komme auf GOLDNEYA, LADENGOY, ADONGEYL, DEYLOGAN und ELDONGAY. Hat nix gebracht. Könnten aber fünf weitere Comickonzepte drin stecken …)

Hey, nicht dass Sie denken, ich mache mich lustig über NEGALYOD (gut, ein bisschen vielleicht). Aber nein: Das ist ein guter Comic: visionär illustriert, kompetent strukturiert, anregend zu lesen.
(Und verständlicher als alles, was Jodorowsky-Moebius-Druillet je produziert haben, oho, oha!)

Selbst ein Thrillermotiv wie die Entschärfung einer Bombe darf in NEGALYOD nicht fehlen. Ingenieurin Korienzé im Wettlauf gegen die Zeit.

 

Perriots Comicroman endet flott und auf einer leicht kryptischen Note, ich kann Ihnen aber eine Interpretation anbieten, getriggert durch die letzte Sprechblase, in der „der Beginn eines neuen Zyklus“ erwähnt wird.
Überspringen Sie den folgenden Absatz, wenn Sie den Comic noch lesen wollen.

(Diese eigenartige Welt, vielleicht ist es gar unsere, hat bereits viele Entstehungs- und Vergehens-Zyklen hinter sich, mal herrschten Dinosaurier über die Erde, mal die Indigenen vom Stamme der Negalyoden, mal Mark Zuckerberg, mal geht es über sieben Brücken, mal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein, jaja, dochdoch.)

Wir blättern natürlich ausgiebig in das Werk hinein, das übrigens nicht „Nega-Leut“, sondern „Negal-Jott“ ausgesprochen gehört. Ist mir erst Wochen später während der Abfassung dieser Analyse aufgegangen. NEGALYOD, verdammich.

(Scrollen Sie auch unter diesen Clip, da kommt noch mehr von und zu Vincent Perriot!)

Nachbemerkung: Vincent Perriot betreibt einen YouTube-Kanal, auf dem wir ihm stundenlang beim Zeichnen zuschauen können! Auf Papier pinselt er dort die haarfeinen Entwürfe für NEGALYOD, Band 2.
(Ich dachte erst: Ach, den hat Carlsen doch garantiert mit der Nummer 1 in eine Gesamtausgabe gepackt. Hah, von wegen. Perriot ist an der Arbeit an Band 2. Es geht munter weiter mit der Welt von NEGALYOD!
Und vielleicht erfahren wir dann, was der Name bedeuten soll … Verlagslink übrigens noch HIER.

Hänge noch ein Bonusbildchen an, das noch einmal den enormen Schauwert von NEGALYOD verdeutlicht: Ein Pterodaktylus hat sich einen Rebellen gekrallt; Jarri zeigt seine Lassokünste und kann den Mann aus den Klauen des Raubtiers retten: