Es kursiert eine hübsche Anekdote: Virginie Despentes hatte keine Lust auf eine Comicfassung ihres Romanerfolgs. Auf Drängen ihres Verlags, einen Vorschlag zur Umsetzung in eine Graphic Novel zu machen, zog sie einen Namen aus dem Hut, der ihr geläufig war: dieser Luz von „Charlie Hebdo“; ihr doch egal.
Dieser Luz ist auch uns nur bekannt, weil er dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ entkommen ist und darüber zwei Comics gestaltet hat, nämlich KATHARSIS und WIR WAREN CHARLIE. Zu unser aller Glück sprang Luz (der eine wirklich unwahrscheinliche Wahl war) auf das Thema an und erwies sich als Glücksgriff, denn er teilt wie die Hauptfigur des Buches eine manische Liebe zur Rockmusik des letzten Jahrhunderts.
Mein Eindruck von Luz war, dass er spröde Cartoons im konventionellen Stil hinlegt – wie Dutzende Zeichner*innen vor ihm. Nichts, was mich begeistert. Und auch sein VERNON SUBUTEX beginnt in zwar dichten, aber kratzigen und flüchtigen Stricheleien, die keine „Wohlfühllektüre“ zulassen.
Schnell fällt auf, dass Luz sich in eine Zeichentrance steigert, die die Stimmung des Originals auf geniale Weise einfängt. Ach, mehr: Luz macht sich diesen Comic zu Eigen und erlaubt sich eine persönliche Interpretation, die über das Maß sonstiger Literaturadaptionen weit hinausgeht!
Das ist nicht die Graphic Novel zu Despentes Roman, das ist Luz, der sich in das Werk hineinversetzt hat. Das ist Luz, der mit den Figuren lebt. Das ist Luz, der sich von seinen Konventionen losgerissen hat und auf fast jeder Seite ein grafisches Experiment wagt.
Das ist nicht schön, in meinen Augen, es bleibt nämlich kratzig und flüchtig, aber es ist gewaltig und ich ziehe meinen Hut vor der schieren Leistung.
Schauen wir uns ein paar Beispielseiten an: Das ist die Hauptfigur, Vernon Subutex (der heißt wirklich so), wie sie in ihrem „neuen Leben“ als Arbeitsloser erwacht. Fünf Panels, die uns sein Elend klar vor Augen führen:
Die Seite ist (abgesehen vom Protogonisten) in Negativ-Optik gestaltet, wir zoomen auf diesen Typen zu. Er bastelt sich erbärmlicherweise aus Kippen eine neue Zigarette. Vielleicht würden wir gerne wegschauen, aber dann konfrontiert uns Luz mit seinem Blick: Schaut auf diesen Menschen, wo ist er gelandet, wie konnte es so weit kommen?
Und dann ein Flashback in Gelb. In zwölf ordentlichen Panels (das kommt nur dieses eine Mal im Buch vor!) serviert uns Luz die ganze Karriere des Vernon, des Plattenkönigs von Paris. Er war Bezugsfigur für etliche Freaks, Sammler, Künstler – er hat sie alle „angefixt“ mit Musik und ihnen den Stoff besorgt, der sie high gemacht hat.
Doch hier präsentiert uns der Zeichner den Abgesang, den Alltag des Verkäufers in zwölf nüchternen Bildern, die das Vergehen der Zeit illustrieren. Im ersten Panel beginnt Vernon als Aushilfskraft im Plattenladen „Revolver“, er ist noch jung und „Guns’n’Roses“ sind die Hitband der Stunde. Er vergewissert sich im Selbstgespräch in nur einem Satz, dass er diese Tätigkeit nur vorübergehend ausübt, doch im letzten Panel ist er 25 Jahre älter, „The Kills“ sind die Hitband der Stunde und sein Leben als Vinyl-Dealer ist vorüber.
Vernon räumt seinen Laden aus, er ist pleite und wird fortan in seiner Wohnung dahinvegetieren (wie wir bereits gesehen haben).
VERNON SUBUTEX erinnert auf den ersten 100 (von 300) Seiten an Nerdkultur-Romane wie Nick Hornbys „Fever Pitch“. Es geht viel um Musik und musikalische Inspirationen und die Vorlieben seiner Kunden für was auch immer. Vernon weiß Bescheid!
Dann hat dieses Werk immer einen Hauch von „Trainspotting“, denn es geht auch um Drogen, das besinnungslose Vor-sich-hin-Sumpfen in der eigenen Subkultur und die kaputten Figuren, die einem auf dem Weg begegnen.
Dieser Vernon ist ein Individualist, der keinen Gedanken daran verschwendet, sich eine „normale Beschäftigung“ zu suchen oder gar „zum Amt“ zu gehen, um Geld zu kassieren. Er wird aus seiner Wohnung geworfen und beginnt, in ganz Paris herumzudriften.
Das natürlich ist die Folie, um ein Panoptikum von Typen vorzustellen, die Autorin Despentes (halb-)autobiografisch an Vernon ankoppelt: seine ehemaligen Bandkollegen (denn Vernon war kurzzeitig auch mal Musiker), allen voran Alex Bleach. Der ist tatsächlich als Solist ein Star geworden und kümmert sich um Vernon, dem er viel verdankt (musikalische Inspirationen und so).
Die nette Émilie, die sich nach einer wilden Phase als Musikerin von der Welt ausgenutzt fühlt und deprimiert als Single lebt.
Die flippige Céleste, Tochter eines Stammkunden, viel zu jung für Vernon, aber verlockend. Der teigige Fernsehmensch Laurent, der sich eigentlich nicht für seine Umwelt interessiert, aber dennoch Macht über andere sucht. Die „Hyäne“, eine PR-Frau der besonderen Art, die als „virtuelle Auftragskillerin“ Menschen auf den sozialen Medien vernichtet.
Die von Mann und Sohn verlassene Societydame Sylvie, die sich Vernon als Sexspielzeug hält und seine Liebe kaufen möchte. Die Journalistin Lydia Bazooka, die hinter einer Story um Alex her ist. Schließlich noch die Ex-Pornostars Pamela und Debbie, die Verbindungen zu Alex haben, und sich nun ein normales Leben einrichten wollen.
Dann sind da auch noch Vodka Satana, eine weitere Sexarbeiterin, die ihrer muslimisch-fundamentalistischen Tochter Aicha ihre Vergangenheit verschwiegen hat.
Patrice ist von seiner Frau verlassen worden. Vernon will die alte Freundschaft zu ihm auffrischen, da stellt sich heraus, dass Patrice ein Schläger ist, der seine Frau misshandelt hat. Entsetzt flüchtet Vernon und läuft Sophie in die Arme, einer Greisin, die ihn bemuttern möchte. Auch das ist Vernon unheimlich.
Prominent präsentiert wird auch der missgelaunte Xavier, das menschliche Pulverfass: unzufrieden mit seinem Leben und neidisch auf alle, stets aggressiv und gewaltbereit.
Interessante Seite übrigens, die Luz‘ subtile Arbeit gut widerspiegelt: Die erste Bildzeile zeigt eine Gewaltfantasie (farblich betont und abgesetzt durch die Farbe Rot). Im Supermarkt hat Xavier die Türe des Tiefkühlkostschranks offenstehen lassen, wird dafür von einer Kundin getadelt und rastet aus (in einer Wunschvorstellung).
Dann schiebt er seinen Wagen schmollend weiter, die Erzählstimme schildert uns sein Innenleben – und in der letzten Bildzeile erlaubt sich Luz eine nächste Grafikfantasie: Die Werbefigur einer Yoghurt-Packung macht ihn an, dann ein harter Schnitt, wie sein Konkurrent Jeff in die Szene tritt und ihm selbst diese Fantasie zunichtemacht!
Das kann Autorin Despentes unmöglich so geskriptet haben, das halte ich für einen Kunstgriff des Zeichners Luz, der hier mehrere Ebenen in diese Szene zimmert: ein Einkauf im Supermarkt, die Lästigkeit dieser Erledigung, nervige Menschen um ihn herum, kochender Ärger, Ratlosigkeit angesichts der Auswahl des richtigen Produkts, Ausbruch in eine merkwürdige Fantasie und zugleich Störung derselben durch Erinnerung an berufliche Schwierigkeiten.
Das ist kunstvoll, mal ganz davon abgesehen, dass die Wandlung des Milchmädchens noch wunderbar Xaviers Haltung gegenüber Frauen verdeutlicht.
Damit ist noch lange nicht Schluss mit dem Aufgalopp der Figuren. Gaëlle, eine ehemalige Kundin, die er oft beim Ladendiebstahl erwischt hat, bringt Vernon bei Kiko unter, einem schwerreichen Börsen-Schnösel.
Auf einer Hausparty macht Vernon für Kiko und seine illustren Gäste den DJ und lernt dabei die Transfrau Marcia kennen, deren Geschichte wir ebenfalls erfahren. Als Callboy Leo in Brasilien aufgewachsen, erfindet sie sich in Paris neu und führt ein Leben als Luxushostess. Vernon beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit Marcia und wird dafür von Kiko zurück auf die Straße geworfen, weil der selber ein Auge auf die Schöne geworfen hat.
Der Absturz
Die Tragödie bricht herein, als Alex an einer Überdosis stirbt und seinem Kumpel Vernon nur ein paar USB-Sticks mit Musik und einem Selbstinterview hinterlassen kann. Nun landet Vernon richtig auf der Straße und fügt sich in ein Leben als Stadtstreicher.
Auch hier greifen ihm Figuren unter die Arme, so etwa die energische Olga, die ihm die Kunst des Bettelns vor Supermärkten lehrt. Es entwickelt sich eine Freundschaft unter „armen Schluckern“, die jedoch wärmer und gleichberechtigter wirkt als Vernons sonstige Beziehungen.
VERNON SUBUTEX ist die „große French Graphic Novel“, wenn man so will, le grand roman graphique français. Das Gesellschaftspanorama des modernen Frankreich, mit Betonung auf das bunte Leben in der Metropole Paris.
(Die DeepL-Übersetzung einer französischen Rezension wirft mir den Begriff „Buch in Aufruhr“ (un bouquin en ébullition) aus – den ich für das Werk sehr treffend finde!)
Es ist wild, chaotisch, sprunghaft und ein wüstes Konglomerat aus viel zu vielen Charakteren! Der Reiz dieser Graphic Novel liegt darin, dass mir das nichts ausmacht. Das ist einzig und allein Luz zu verdanken, der alle Vorkommnisse gleich gewichtet und mit anhaltendem Interesse präsentiert.
In Rezensionen kommt zum Ausdruck, dieser Comic sei auch „komisch“, also im Sinne von amüsant und lustig. Das würde ich so nicht unterschreiben, mir kommt das Werk eher bitter vor – durchaus mit Anflügen unerwarteter Skurrilität. Gelacht habe ich deshalb nur über eine einzige Szene, die auch völlig aus dem Werk herausfällt. Ich stifte sie hier:
Vernon betreibt Haus- und Dogsitting; er führt den Hund Colette Gassi.
Ich habe keine Ahnung, warum das Tier sprechen kann. Wahrscheinlich soll es Vernons Fantasie sein. Aber wie das Hündchen Colette „Die Tür! Die Tüüüüür!“ schreit, killt mich einfach.
Hier auch mal ein Lob an die deutsche Übersetzerin Lilian Pithan, die einen garantiert alptraumartigen Job (die verschiedenen Stimmen, das französische Argot, die Ergänzungen von Luz) mit Bravour bewältigt hat (den Roman hatte zuvor Claudia Steinitz ins Deutsche übertragen).
Nochmal betont sei, dass sich Zeichner Luz den Stoff zu Eigen gemacht hat und etliche Szenen völlig frei mit eigenen Dialogen gestaltet hat. Er hat leicht kryptisch zu Protokoll gegeben: „Für mich bedeutet eine gute Adaption, dass man den Text respektiert, ihn in einem unerwarteten Moment bricht und ihn vor allem nicht illustriert.“
Illustriert hat er ihn schon, allerdings nicht „eins zu eins“, darauf kam es ihm an.
Der Preis des Ruhms
Noch bin ich nicht eingegangen auf Alex, seinen verstorbenen Freund, der Vernon als Schatten begleitet und als Stimme aus dem Reich der Toten immer wieder auftritt. In folgender Passage reflektiert er seine Karriere als schwarzer Musikstar:
Handlungsstiftender roter Faden übrigens sind die Aufzeichnungen, die Alex seinem Kumpel Vernon anvertraut hat. Diverse Menschen kämen gerne in den Besitz derselben, um ein Film-, Funk-, Fernsehfeature draus zu basteln und natürlich einen „Scoop“ zu landen, eine Pressesensation.
Was sich darauf noch ergibt, bleibt offen, denn VERNON SUBUTEX endet (nach einer Wiedersehensfeier aller Figuren) mit dem erneuten Abtauchen Vernons in der Anonymität der Großstadt. Ende des ersten Teils!
Rock on, Subutex!
Inzwischen schwärmt Autorin Despentes vom Comic: „Fast der gesamte zweite Teil ist ein Original. Es macht wahnsinnig viel Spaß, einen veröffentlichten Text weiterzuentwickeln – und zwar so, dass er in der Fantasie eines anderen die bestmögliche Form findet.“
Zeichner Luz übrigens hat sich rangehalten. Der gerade erwähnte, zweite und abschließende Band ist in Frankreich schon raus und soll diesen Herbst bei Reprodukt folgen. Ich verlinke HIER auf die Verlagsseite, dort auch eine Leseprobe einsehbar.
Wie immer erlaube ich mir ein Hineinblättern in das Werk.