EIN JAHR OHNE CTHULHU

So langsam komme ich Thierry Smolderen auf die Schliche.

Der belgische Autor mit den überkomplexen Skripten hat mich gebeutelt mit DAS IMPERIUM DES ATOMS, EIN DIABOLISCHER SOMMER und auch McCAY.

Tillmann liest: EIN DIABOLISCHER SOMMER

(Bei McCAY war es verträglich, aber von den beiden erstgenannten Werken habe ich nix verstanden, null Peilung gehabt. Kapiert? Kapituliert!)

Frisch bei Carlsen erschienen ist nun seine neue und dritte Zusammenarbeit mit Zeichner Alexandre Clérisse: EIN JAHR OHNE CTHULHU.
Und jetzt hab ich dich, Freundchen.
Ich habe endlich den Smolderen-Skriptbaukasten analysieren können!

Es läuft so: Er stellt zwei Grundideen konfrontativ auf, wirft etwas absolut Fantastisches dazwischen, kombiniert und schüttelt diese Mischung, zimmert noch verschiedene Zeitebenen hinein und stockt das Ganze mit skurrilem Personal auf, um noch meta-verweisliche Verwirrung zu stiften.

Sein Rezept für EIN JAHR OHNE CTHULHU lautet demzufolge:

Man nehme eine Gruppe jugendlicher Rollenspieler, die sich in der französischen Provinz auf dem Friedhof des Nachts zu „Call of Cthulhu“ treffen (Grundidee der analogen Spielebene). Zugleich entdecken diese Spieler eine neuartige Arcade-Maschine namens QIX, in die sie sich hineinhacken (Grundidee der digitalen Spielebene).

Als neue Schülerin in die Klasse der Jugendlichen kommt eine geheimnisvolle junge Frau, die über magische Fähigkeiten verfügt und eigentlich eine babylonische Göttin ist (das Fantastische).

Kern der Spielhandlung ist das Jahr 1984, es gibt jedoch Rückbezüge auf ein mysteriöses Verbrechen zwei Jahre zuvor; und wir erleben einen Epilog im Jahr 2001 (diverse Zeitebenen).

Entscheidend mit von der Partie sind noch ein technisch hochbegabter Freund, ein druidischer Guru sowie eine aus ihrer Jugend heraus traumatisierte Gegenspielerin unserer Protagonisten (skurriles Personal).

Der teuflische Doktor S.

 

Die meta-verweisliche Verwirrung stiftet Smolderen ganz automatisch beim Schütteln und Kombinieren seiner Bausteine. Es kommen vor:
Trailerparks, eine blitzanziehende Eiche, die versunkene Stadt Schuruppak (die auch Lovecrafts R’lyeh sein könnte), die Hexe mit dem bösen Blick, Filmzitate aus „Carrie“, „Tron“ und „Shining“; Kassettenrecorder, Tapes, Haschkultur, magische Amulette, Familiendramen, Sirenen, Avatare, künstliche Intelligenz, eine Disco namens „Babylon“, Menschen im Koma, Ishtar und Ishara, gefährliche Quests mit Barbaren, Menschenopfer, den Fluch der Götter, Einbrüche, die Jagd nach Highscores, Besessenheit, Mord, Verhöre, Geheimkammern, ein Coming-of-Age und ein Coming-of-Cthulhu – in toto: das Leben als Jump-and-Run-Spiel, möglicherweise.

Die Hauptfigur in EIN JAHR OHNE CTHULHU ist Samuel Le Fanu, ein spielebegeisterter Geek, dessen Name an den Gruselschriftsteller Sheridan Le Fanu erinnert.

 

Der rebellische Schüler liegt überkreuz mit seinen Lehrern und saust lieber mit dem Mokick durch die Gegend, hängt mit seinem Kumpel Henri ab und verliert sich in Spielewelten. Als die ausgebuffte Melusine neu in die Klasse kommt, ist er sofort von ihr verzaubert (womöglich mehr, als er ahnt).

Gegenspielerin ist die taffe, schwarzlockige Oriane, die ein Glasauge hat und sich für eine Hexe hält. Melusines magische Aura ist für Oriane die Gelegenheit, ihre dunklen Kräfte anzuzapfen.
Schließlich ist da noch der abwesende Bruder von Melusine, der nur mittelbar vorkommt, aber „das Böse“ schlechthin verkörpert …

Natürlich spukt auch der Mythos vom „Geist in der Maschine“ durch diesen Comic, hier jedoch in wortwörtlicher Bedeutung: Es geht nicht um künstliche Intelligenz, sondern konkret um ein Duell mit dem Dämon auf der Ebene der Bits und Bytes.

Der Technologe Dani ist als Figur im Spiel QIX unterwegs und hält den wellenförmigen Dämon in Schach.

 

Gut möglich, dass der Theoretiker Smolderen sogar Bezug nimmt auf Arthur Koestlers Konzepte der Bisoziation und der Holone (der ungarische Schriftsteller veröffentlichte 1968 seinen Text „Das Gespenst in der Maschine“). Das Verweben und Ineinandergreifen von Begriffen und Strukturen verfolgt uns ja durch seine Comics!

Um Ihnen einen Eindruck  von der Komplexität wie auch der Kunstfertigkeit des Comics zu verleihen, beschreibe ich eine Sequenz aus der Mitte des Werks.
Ein Verbrechen ist geschehen. Sam ist von der Polizei über Nacht als Verdachtsperson eingebuchtet worden. Er weiß allerdings nicht, was passiert ist. Ein Richter macht ihm seine Aufwartung:

Mit behutsamen Fragen verhört der Richter seinen Verdächtigen. Sam weiß nicht, dass sie auf dem Weg zum Tatort sind.
Überraschend ist das bilderbuchartige Simultanpanel: In einem Bild zieht sich die Autofahrt durch eine abstrahierte Landschaft und wirkt solcherart wie ein Spielbrett, auf dem sich die Figuren bewegen:

Sie gelangen zum Tatort. Der Richter prüft weiter, ob Sam Anzeichen erkennen lässt, dass er vielleicht doch der Täter ist.
Die zeichnerische Kamera bedient sich in den letzten drei Bildern spannungstypischer Bildchiffren: totale Ansicht von unten, frontal gerahmter Schuss von vorne, subjektiver Blick über die Schulter auf den Tatort.

Wir begehen den Tatort ein Stück weiter, es offenbart sich ein Panorama der Verwüstung. Betonung durch das große Panel links; der „nervöse“ Seitenaufbau spiegelt Sams schockierte Reaktion wider.
Die beiden weiß hinterlegten Textkästen links oben dürfen wir als Gedankenblitze von Sam verstehen, der angesichts der blutigen Szenerie an eine Prophezeiung der letzten Woche erinnert wird.
Der Richter treibt Sam jetzt mit direkter Anschuldigung in die Enge. Sam gesteht nicht die Morde, aber dass er ein falsches Alibi angegeben hat. Er verschweigt jedoch, dass er ahnt, womit die Morde zusammenhängen (nämlich mit Melusine und Oriane und babylonischen Kulten, was ihm aber niemand glauben würde!).

Achso: Viele Menschen wissen nicht, was oder wer dieser Cthulhu ist oder damit gemeint sein soll. Wer mag, kann es studieren auf Wikipedia.

Es reicht aber zu wissen, dass Cthulhu eine außerirdische Tentakel-Gottheit ist, der man besser nicht begegnet.
(Zur Aussprache des Namens sagt mir mein go-to-Guy für schwierige Dinge, der Autor und Übersetzer Josef Rother, dass Lovecraft es wohl „K-fúlhu“ betont hätte.
Wir Rheinländer aber sagen einfachheitshalber „Tullhu“, wie in „Tullhu, hol ma Bier, du wirst schon wieder hässlich!“.)

Horrorwahnsinn in der französischen Provinz: Die einäugige Oriane wandelt sich zum  Monster.

 

Das Artwork von Alexandre Clérisse ist ein weiteres Mal nichts weniger als ein grafischer Genuss. Die Beispielseiten sprechen für sich.
(Ich sehe soeben, dass ich Clérisse beim DIABOLISCHEN SOMMER als zu „blumig und drollig“ bemeckert habe. Das habe ich inzwischen abgelegt. Vielleicht hat es mich im Thriller-Kontext von SOMMER auch mehr irritiert. Das Horrorgenre scheint mir stilistisch das größte Spektrum zu erlauben.)

Unterwegs im babylonischen Hades: Henri und Sam am Krankenbett der komatösen Melusine versuchen, auf diese Art zu ihr durchzudringen.

 

Dem außerirdischen Tentakel-Schreiber Smolderen ist mit diesem jüngsten Wurf ein Werk gelungen, das mich nicht mehr am eigenen Verstand zweifeln lässt, sondern bloß an dem des Autoren. Harhar.

Ich hab ihn gemocht, diesen wilden Ritt durch Game-Kultur, True Crime und mythischen Horror. Sie ahnen aus meinen Beschreibungen, dass da (wieder mal) eine Menge durcheinandergeht und sich wahnwitzige Korrelationen durch dieses Album ziehen.
Diesmal aber haben meine Fragezeichen nicht den Lektürespaß überlagert (wenn Sie wissen, was ich meine). Verlagsinfos finden Sie HIER.

EIN JAHR OHNE CTHULHU endet übrigens mit einer schönen Easter-Egg-Pointe, die man entdecken muss. (Ohne zu viel zu verraten: Achten Sie drauf, was ganz hinten an der rückwärtigen Wand angezeigt wird.)

Wie immer blättern wir hinein in das Album: