Ich bin hemmungsloser Kverneland-Fan. Dieser norwegische Zeichner bezaubert mich seit Jahren mit seinem souverän ausgestellten Spektrum von Karikatur bis Malerei. Egal was dieser Mensch abliefert, er bannt mich augenblicklich mit Komposition und Materialität seiner Bildgestaltung.
Der avant-Verlag wagt diesen Sommer die Herausgabe seines jüngsten Werks: die Aufarbeitung des Selbstmords von Kvernelands Vater im Alter von 56 Jahren. Kurz nachdem Steffen volljährig geworden ist, bringt sich Vater Odd in seinem Auto mit Abgasen um.
Kverneland, der zum Zeitpunkt der Arbeit an diesem Buch so alt wie sein Vater ist, als der sich das Leben nahm, reflektiert seine Beziehung und seine Erlebnisse mit dem Vater:
Wie dieser am Zeichentisch sitzt, den Steffen heute noch benutzt; wie er sich umgebracht hat; welche Leere und Panik Steffen erfasst hat; wie der Vater gesprochen hat und welche Musik er gemocht hat; wie er das Rauchen aufgegeben und das Trinken angefangen hat; was der Vater alles konstruiert und gebaut hat (womöglich als Vermächtnis?); das unausgesprochen konfliktbelastete Verhältnis des Vaters zu dessen Vater und die offenbar erkaltete Beziehung zu Steffens Mutter.
Kverneland gelingt ein wertfreies Mosaik der Erinnerungen und Zeugnisse, ausgebreitet in meist chronologischer Reihenfolge. Im Lauf des Werks kommt zutage, dass Vater Kverneland von einer endogenen Depression heimgesucht wurde, welche er über 20 Jahre lang niederkämpfte.
Den Hang zum Selbstmord hatte er schon früh, wartete jedoch gezielt ab, bis seine Söhne Tore und Steffen ein Alter von 18 Jahren erreicht hatten (Kverneland bezeichnet das mit tragi-sarkastischem Witz als „Deadline“).
Was Kverneland grafisch in diesem Band präsentiert, zeigt ihn auf der Höhe seiner stillen, aber eindrucksvollen Kunst: Zeichnungen, Fotos, Aquarellmalereien fügen sich zu einer Collage der väterlichen Biografie – und weisen doch weit darüber hinaus.
Die stimmungsvollen, oft großformatigen Panels transportieren eine Ahnung der Kläglichkeit unser aller Existenz, der Mühen des Alltags, der Zerfaserung jeder Familie im Laufe der Jahrzehnte.
Für mich fängt Kverneland auf unaufdringliche Weise die Unaufhaltsamkeit des menschlichen Wandels, des Vergehens ein. Das abrupt beendete Leben des Vaters spiegelt sich im Leben des Sohnes, spiegelt sich im Leben von uns Lesern.
Damit will ich nicht sagen, dass EIN FREITOD eine deprimierende Lektüre wäre, es ist weder kitschig-anrührend noch moralisch-verurteilend.
EIN FREITOD ist ein schönes, persönliches, melancholisches Comic-Buch geworden. Für Kverneland-Fans sowieso ein Muss, für alle anderen die Gelegenheit, diesen erstaunlichen Norweger kennenzulernen (zumal seine monströse MUNCH-Biografie nicht mehr lieferbar ist).
Dank dem avant-Verlag, der Steffen Kverneland in Deutschland ein Forum bietet!
Zur Feier des Tages hänge ich noch (als separat zu öffnendes PDF, bitte auf den Schriftzug klicken) meinen Artikel aus COMIXENE Nr. 130 über die Künstlerbiografien von Steffen Kverneland (und seines Kollegen Lars Fiske) an.
Alles bei avant!