Wieder haben wir es mit einem außergewöhnlichen, intensiven und kompromisslosen Comicwerk zu tun, das auf einem schmalen Grat von Folklore-Kitsch tanzt, sich letztlich aber behauptet als visuelles Abenteuer, wie ich es noch nicht erlebt habe.
Bei der Lektüre schwirrt einem der Kopf, in Fahrt gebracht durch die kraftvolle Inszenierung von Zeichnerin Ana Miralles und das tatendurstige Skript von Autor Jean Dufaux.
Vor einem halben Jahr habe ich eine extensive Analyse zum ersten, „osmanischen Zyklus“ verfasst. Nun legt der Verlag schreiber&leser bereits den Folgeband vor.
Dieser zweite Integralband versammelt fünf Alben, die den sogenannten „afrikanischen Zyklus“ bilden, meint: Wir bewegen uns durch ein nicht näher lokalisiertes Schwarzafrika, in der ersten Zeitlinie (Jade) in den 1920er-Jahren, in der zweiten Zeitlinie (Kim) etwa in der Gegenwart.
Album Nr. 5 („Afrika“) spielt dabei komplett in der Vergangenheit, Album Nr. 6 („Die schwarze Perle“) ganz in der Gegenwart. Album Nr. 7 („Pipiktu“) ist erneut der Rückschau gewidmet, erst Album Nr. 8 („Fieber“) berichtet aus beiden Zeiten, um dann in Album Nr. 9 („Der Königsgorilla“) mit einem Abschied von Afrika zu kulminieren.
Ähnlich wie im ersten Zyklus geht es um Kims Nachforschungen zu ihrer Großmutter Jade – und erneut um einen Schatz, der von mehreren Parteien gejagt wird.
Hier ist es die schwarze Perle von Anaktu, in deren Besitz Jade gekommen war. Diese Perle ist Manifestation besagter Göttin Anaktu, die die Stämme Afrikas zur Revolte gegen den weißen Mann führen wird.
„Afrika“
Das Auftaktalbum beginnt mit einer neuen Figur, aus dessen Perspektive wir mitten in die Geschichte geworfen werden: Handelsvertreter Charles Augery stößt auf die Überreste eines Massakers, dass die einheimischen Orushi an einer Reisegesellschaft verübt haben.

Die Überlebende ist Lady Nelson, die Augery berichtet, dass die Orushi ihren Mann, Lord Nelson, sowie die gemeinsame Geliebte, Jade, in den Dschungel verschleppt haben.
Der Orushi-Zauberer Kemono will mithilfe der schwarzen Perle die Göttin Anaktu in Jade heraufbeschwören. Augery stellt Kemono zur Rede, doch der infiziert ihn mit einer Krankheit und verheißt ihm die Vertreibung aus Afrika.
Die Dienstmagd Ebony rettet Augery mit einem magischen Trank, während wir in einer Rückblende erfahren, wie die Orushi auf Jade aufmerksam werden und um sie zu werben beginnen.


In einer Einschubszene (ebenfalls Rückblende) lernen wir weiterhin den herrischen Großwildjäger „Tiger“ Thompson kennen, der mit einer beklemmend-kläglichen Tierschau durchs Land tingelt und von den Nelsons als Fremdenführer durch Afrika engagiert wird. Thompson aber spielt ein doppeltes Spiel und ist verantwortlich für den späteren Überfall.
Und während die entführte Jade im Dschungel dem Anaktu-Ritual entgegensieht, wird Augery von Ebonys Bruder Soyo damit konfrontiert, dass die Zeit der Weißen abläuft – denn „die Göttin des Fiebers und des Siechtums“ werde auferstehen. Gemeint ist Jade (alias Anaktu).

„Die schwarze Perle“
In der zweiten Zeitlinie beginnt Kim Nelson ihre Recherchen bei Mister Mo, der ihr davon abrät, eine Expedition ins ehemalige Stammesgebiet der Orushi zu unternehmen.
Tatkräftige Hilfe hingegen bietet Kim der Abenteurer Jagger an, der um den Mythos der schwarzen Perle weiß – und auch zwei Brüder kennt (die Kunawas), die ihnen den Weg ebnen können.

Die Brüder glauben, dass Kim in der Tat die Nachfahrin von Jade/ Anaktu ist und brechen mit ihr und Jagger ins Landesinnere auf. Derweil tauchen die Orushi auf und statuieren ein warnendes Exempel an Mister Mo.
Des Weiteren tritt die Figur des Kleptokraten Zymba Motta auf das Spielfeld. Der ist zwar gewalttätig, aber traditionsbewusst – und möchte nicht, dass eine weiße Frau afrikanische Schätze als Raubkunst außer Landes bringt:


Außerdem trachtet er Kim nach dem Leben, was weder Jagger noch die Kunawa-Brüder zulassen werden.
Ihre Expedition findet das alte Schiffswrack, auf dem damals die Nelsons und Jade von den Orushi überfallen wurden: Kim hat dort eine Vision von Jade und Anaktu.
In der Stadt Manokko, wo einst schon Jade ankam, begegnet Kim dem Nachfahren von Charles Augery und Ebony: Der freundliche Händler Millaro zeigt ihr im Urwald ein Grab, in dem Kim die Überreste ihres Großvaters, Lord Nelson, entdeckt.

Der war von den Orushi mit Jade entführt und als Anaktus Liebhaber gefoltert worden. Der Folklore nach wurde er Pipiktu genannt und durch das Abschlagen der rechten Hand verstümmelt.
„Pipiktu“
Hier nehmen wir den Erzählfaden um Charles Augery wieder auf, der einer Jade begegnet, die bereits zur Verkörperung von Anaktu geworden ist.


Ebenfalls trifft er auf Lord Nelson, der von den Orushi in einem Erdloch gefangen gehalten wird. Augery muss dem gebrochenen Mann berichten, wie der Suchtrupp nach ihm und Jade sein trauriges Ende fand.
König Kavi Mobo nämlich hatte sich den aufständischen Oruhsi verpflichtet und Augery und Lady Nelson überwältigt.


Nelson und Augery planen ihre Flucht und eine Konfrontation mit Jade/ Anaktu, um die Kriegskoalition der Stämme aufzuhalten.
In einem blutroten Finale verstößt Jade ihren ehemaligen Liebhaber, geht in der Rolle von Anaktu auf und bewirkt noch einen grausigen Zauber – der die Orushi von ihrer Magie überzeugt.

„Fieber“
Ich habe bereits Dinge ausgelassen, um allen, die DJINN noch lesen möchten, nicht zu viel zu verraten. Also fasse ich mich im Folgenden kurz.
Kim, Jagger und die Kunawa-Brüder reisen weiter ins Gebiet der Orushi. Von neuen Visionen gebeutelt, schaut Kim in die Vergangenheit und sieht, wie Jade ihre göttliche Herrschaft zementiert und eine Machtprobe mit Kavi Mobo meistert.
Parallel verfolgen wir die Geschichte des flüchtigen Charles Augery weiter, der sich zurück in die „Zivilisation“ retten kann, dort aber mit Tiger Thompson aneinandergerät und in ein frühes Konzentrationslager für afrikanische Menschen gesperrt wird.
Sein Wiedersehen mit Ebony mündet in eine schicksalhafte Liebesnacht, als der Aufstand der Orushi das Lager erreicht, wo ein wilder Kampf stattfindet.
In der Gegenwart hat Kim Nelson ein erotisches Stelldichein mit den Kunawa-Brüdern und besteht eine Giftprobe beim alten Mönch Ortegaz, der über die schwarze Perle Bescheid weiß.


„Der Königsgorilla“
Nahtlos schließt sich das letzte Album an, in dem Kim und Jagger mit leeren Händen nach Manokko zurückkehren.
Erst schildert uns DJINN das letzte Abenteuer von Jade, dann wird es vollends mystisch, als Kim durch Zymba Mottas Finsterlinge beseitigt werden soll.
Die Djinn, die bereits Anaktu war, paart sich mit der männlichen Legende vom Königsgorilla und wandelt sich zur Göttin ganz Afrikas, die dadurch eine dauerhafte Befriedung der Stämme garantiert.
Das hab ich offen gesagt nicht ganz geschnallt, auch Kims nächste Giftprobe ist nicht rational erklärbar.

Jagger kann die schwarze Perle sichern (wo sie war, verrate ich nicht) und Zymba Mottas Pläne einer Krönung mit Anaktus Segen werden vereitelt.
Kim sagt Afrika Adieu und macht sich auf nach Indien, in den dritten Zyklus …
Au revoir, Emmanuelle!
Ich habe ausgeführt, dass der erste Zyklus mit dem „Emmanuelle“-Franchise verglichen werden darf. Umso mehr wundere ich mich, dass wir nun in völlig anderem Fahrwasser unterwegs sind.
Dieser „Afrika“-Zyklus ist keineswegs die tropenbunte Neuauflage der osmanischen Abenteuer, sondern verfolgt andere Ziele, will andere Schwerpunkte setzen.
Die schwüle Erotik weicht geradezu aus diesen fünf Alben (einzige Reminiszenz ist Kims Liebesnacht am Fluss mit den Kunawa-Brüdern).
Ansonsten erleben wir Jade, die ihren Körper hergibt, um Macht zu gewinnen.
Autor Dufaux hat sein Konzept geändert und gesteht in einem seiner Vorworte, „hier gibt es weder Luxus noch erotische Spiele, hier wird Fleisch nicht liebkost, sondern verschlungen.“
DJNNs zweiter Zyklus stellt eine Menge Grausamkeiten aus und malt uns das ganz große Märchenbild von Afrika: Kolonialismus, Missionarswesen, Buschmagie, wilde Krieger, Menschenopfer, Korruption und Mythenglaube.
Das alles aufgehängt an etlichen Charakteren, die jedoch alle ihre Funktion bekommen. Leicht ist das nicht zu lesen, zumal der Comic nicht nur zwei Zeitlinien bedient, sondern sich in diesen nochmals vor- und zurückbewegt!
(Beim zweiten Durchschauen habe ich es einigermaßen begriffen, auch wenn mir Episoden schleierhaft bleiben.)


Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau
Und ob diese Frau (unsere Hauptfigur) nun Jade oder Kim Nelson heißt, sie ist kalt und gefühllos. So sind die Djinn nun mal definiert. Hatten sie jemals Empfindungen und sind im Prozess der Djinn-Werdung erkaltet?
Oder ist dieser Typ Frau von jeher durch Hochmut, Stolz und Arroganz bestimmt? Oder lag ihnen am Ende bloß die reine Gier zugrunde – nach Macht (Jade) oder Reichtum (Kim)?
Was ich nach neun Alben beobachte: Warm werde ich nicht mit den Frauen in DJINN.
Vielleicht soll ich das auch nicht. Zur Identifikation haben diese Figuren nie eingeladen. Für mich (als männlichen Leser) waren das eher die Begleiter von Jade und Kim.
Nicht unbedingt Lord Nelson, aber der elegante Kemal Amin im ersten Zyklus; in Afrika sicher Dschungel-Guide Jagger und die coolen Kunawa-Brüder.
DJINN lebt von seinen Nebenfiguren, so kurios das ist. Die Schicksale am Rande berühren (mich) mehr.
In der frühen Zeitlinie sind Charles Augery und Ebony das unmögliche Liebespaar, das uns bittersüßes Melodram bietet (und unsere Sympathien genießt):

Wie schon angedeutet: Ich habe bei der ersten Lektüre nicht alles intellektuell durchdrungen und verstanden, dafür schlägt die zeitversetzte Geschichte zu viele Haken – aber ist das relevant?
Zeichnerin Ana Miralles wirkt erneut ihr Wunderwerk und bettet selbst kurze Handlungssequenzen in berauschende Bilder und betörende Farben.
DJNNs zweiter Zyklus will uns (wieder) ein fiebriges Märchen erzählen. Von einem sagenhaften Kontinent mit fantastischer Folklore und willensstarken Menschen.
Dorthin geraten Europäer und ahnen nicht, worauf sie sich einlassen.
Diese Serie bleibt einzigartig, sowohl vom Handlungsverlauf wie auch von ihrer Atmosphäre und der grafischen Präsentation. Das beeindruckt mich weiterhin.
Wir sehen uns wieder in Indien, im dritten Zyklus!
(Verwirrend allerdings schon jetzt, dass diese Bände vor dem vorliegenden zweiten Zyklus spielen werden, das ist bereits so angesagt und angelegt. Wie das nun dramaturgisch gelöst wird, ist mir ein Rätsel – aber bei DJINN muss man das Rätselhafte zulassen.)
Ich stifte noch ein Reel auf Instagram, hauptsächlich um die Kompositionen und Farben von Ana Miralles zur Geltung zu bringen.