Beginnen wir mal mit dem Fazit: Diese Comicalbenreihe (nun abgeschlossen mit dem dritten Sammelband in der Neuedition bei schreiber&leser) beeindruckt mich weiterhin.
DJINN bietet Eskapismus im besten Sinne und ist dank des Zusammenspiels von Texter Dufaux und Zeichnerin Miralles ein singuläres Werk.
Der Comic qualifiziert sich nicht für mein „Quartett der Schweinepriester“, meine Analysen zu sexistischen Aspekten der Comicgeschichte.
Selbst wenn wir das Feigenblatt der Historie wegreißen, das diese Serie frech vor sich herträgt, ist DJINN zu schlau, zu elegant und zu künstlerisch, um schäbigen Chauvinismus zu propagieren.
Großes Kino im Comic
Ich fühle mich unaufdringlich und unweigerlich in exotische Welten entführt, wenn ich diese Seiten aufschlage. Indien ist für uns Europäer nicht zu begreifen, daher versucht der Comic auch gar nicht, uns die Realität zeigen zu wollen.
Das erste von vier Alben dieser Sammlung, „Der Palast der Lüste“, eröffnet deshalb im sagenhaften Eschnapur, circa 1919.
Jade ist mit den Nelsons an den Hof des Maharadschas gerufen worden, um dort dessen Braut Tamila in der Kunst der Liebe zu schulen.
Allerdings besteht DJINN auf historischem Kontext, denn Gandhis erste Auftritte und die Idee der Unabhängigkeit von den Briten bilden den Hintergrund dieses Abenteuers. Denn Tamila ist die Tochter des Rebellenführers Radscha Sing, ihre Verheiratung somit eine politische Angelegenheit.
Die Strippen im Hintergrund zieht des Maharadschas Mutter, die „Rani“ Gaya Bashodra. Hier instruiert sie Jade, Tamila zur Verführerin auszubilden, die ihren Mann für die Belange des Volkes erweichen soll:

Man bringt Tamila in den titelgebenden „Palast der Lüste“, das Haremsgebäude. Dort herrschen der Rasputin-Eunuch Sahib Benja und seine Favoritin, die wilde Französin Arbacane.
Das sind zwei herrlich bizarre Charaktere, die als Gegenspieler nicht zu unterschätzen sind. Letztere bekommt in folgender Sequenz eine Ansage vom Vertrauten der Rani und trifft sich anschließend mit dem gedemütigten Benja im Dampfbad:


Die Briten (in Gestalt von Offizier Willard und Lord Anthony, dem Vertreter des Empire) hoffen, während einer Tigerjagd den berüchtigten Radscha Sing dingfest machen zu können.
Doch der hat eine Ablenkung organisiert, die die Nelsons in Lebensgefahr bringt. Der Maharadscha selbst greift rettend mit einem gezielten Schuss ein:



Im allgemeinen Chaos kann Tamila unbemerkt zu ihrem Vater eilen. Radscha Sing versichert ihr, unter dem Schutz der Rani zu stehen. Die Ehe werde sie nutzen können, um die Geheimnisse des Palastes auszuspionieren.
Jade, unsere Djinn, pendelt erotisch zwischen Tamila, Miranda und Harold Nelson – und begegnet dem geheimnisvollen Mädchen Saru Rakti.
Saru ist mit einem Fluch belegt, der später noch erörtert wird.
Band 2, „Die Geheimnisse von Eschnapur“, vertieft die angelegten Handlungsstränge.
Tamila erzählt Jade vom Leid des indischen Volkes, Radscha Sing greift einen englischen Konvoi an, General Dyer übt Vergeltung mit einem Massaker an friedlichen Demonstranten und Arbacane und Sahib Benja setzen einen Attentäter auf Jade an.


Mit Hilfe von Miranda kann Jade den intriganten Sahib Benja enttarnen, der daraufhin aus dem Palast verstoßen wird.
Saru Rakti, das Mädchen, offenbart sich Jade als Tochter der Rani. Der Fluch des Gurus Archaka lässt sie nicht mehr altern.
Ihre Mutter hat vor 20 Jahren dessen Schüler Rakti verführt und sie geboren.


Archaka war so wütend über seinen abtrünnigen Jünger, dass er Rakti umgebracht hat und sein Leben der bösen Gottheit widmete und von dieser die beiden schwarzen Perlen erhielt (von denen wir im zweiten Zyklus gehört haben).
Der flüssige Inhalt der einen Perle hielt Sarus Alterungsprozess an. Nur der Inhalt der zweiten Perle kann sie vom Fluch erlösen und weiter altern lassen.
Damit erreichen wir unseren Anschluss an die Afrikageschichte!
Fortführung in Band 3.
„Der Fluch des Fakirs“ heißt er logischerweise, beinhaltet aber auch eine große Schlacht um den Palast von Eschnapur, den die Rebellen tatsächlich einnehmen können.

Radscha Sing kommt zu einer Übereinkunft mit dem Maharadscha, dessen Braut Tamila die Briten als Geisel genommen hatten.
Auch die Nelsons haben sich gegen ihre Landsleute gestellt und verlassen das Land mit Jade in Richtung Afrika.
Zuvor hat Arbacane versucht, Miranda Nelson auf ihre Seite zu ziehen. Ihr Plan, den Maharadscha zu vergiften, schlägt fehl. Auch sie wird verstoßen und den Soldaten von Radscha Sing überlassen.
Jade trifft Archaka, der sie mit der verbleibenden Perle nach Afrika schickt und ihr dort die Gottwerdung zu Anaktu verheißt.
Wiederum Verweis auf den zweiten Zyklus, in dem genau das geschehen wird / geschehen ist (wir haben es ja schon erlebt).

Dies ist Jades Abschied von Saru Rakti, die wir tatsächlich immer noch als Mädchen in Band 4 wiedersehen.
Und auch wir Leserinnen und Leser verabschieden uns damit von der ersten Zeitlinie und von der Figur der Jade …
Indien ist anders
Der dritte Zyklus unterscheidet sich von den beiden anderen durch fortlaufende Chronologie ohne Zeitsprünge in die Gegenwart zu Jades Enkelin Kim Nelson.
Diese Indien-Saga ist wohltuend leicht zu lesen, erst Band 4 (der auch „Kim Nelson“ heißt) widmet sich dieser Figur, die wir ja schon hinreichend kennen. Er dient als Epilog zur gesamten DJINN-Reihe und greift geschickt Elemente aus den früheren Alben auf.
Eine neue Figur übernimmt die Erzählstimme – Mr. Prim, der Privatsekretär der neuen Rani, Saru Rakti. Das Mädchen ist weiterhin nicht gealtert und hofft, durch Kim an die schwarze Perle zu gelangen.
Schauen wir uns das Zusammentreffen der Figuren und ihre Erzählung drei Seiten lang an:



Neben Kim und Mr. Prim sitzt Ebu Sarki in der Runde – der Mann, der in den osmanischen Abenteuern Kims Djinn-Werdung in Gang gebracht hat.
Für den empfindet Kim Verachtung, aber Ebu ist ein Abenteurer wie sie, der niemals die Suche nach dem Schatz des Sultans aufgegeben hat.
Jetzt vollführt DJINN seine chronologische Volte: Ebu und Kim brechen nach Afrika auf (was wir schon gelesen haben) und eine Seite später berichtet uns Mr. Prim, sie sei mit der Perle zurück in Indien.
Es folgt eine Einschubhandlung, in der Kim mit einem Arzt den Inhalt der Perle an einer kranken Frau ausprobiert: Mrs. Cartwill leidet an einer Demenz im Endstadium und wurde vergiftet von einem indischen Guru, der sie von ihrem Ehemann weglocken wollte.
Während sie auf das Resultat warten, wird Kim von Ebu Sarki und zwei Häschern angegriffen, die ihr die Perle entwenden können. Doch der Doktor, eine gesundete Mrs. Cartwill und eine von beiden mobilisierte Menschenmenge retten Kim das Leben.
Der schurkische Ebu Sarki wird von Saru Rakti (in einer Parallelführung zu früheren Figuren) aus dem Palast verstoßen und in einem Ritual gesteinigt:

Die Perle war zwar leer, doch Kim überreicht Saru eine vom Arzt kopierte Medizin. Tatsächlich wirkt die Flüssigkeit und eine sterbende Rani vermacht Kim ihre Reichtümer.
Was kann ich noch alles spoilern?!
Tschuldigung, ich bremse hier, doch ausklingend präsentiert der Comic noch einen interessanten Nachklapp, einen Epilog, der sich um Jade, Kim und das Dasein als Djinn dreht.

Ich finde, die Reihe kommt zu einem abgerundetem Schluss mit offenem Ende für Kim, das weitere Abenteuer denkbar sein ließe. Doch so, wie es ist, ist es auch gut.
Der weibliche Blick
Zeichnerin Miralles macht im Nachwort ihrem Unmut Luft, die Frauenfiguren seien ihr zu schematisiert angelegt, meist Liebesdienerinnen, deren „Bestrebungen die emotionale Ebene nicht verlassen. Wir bewegen uns in einem Rahmen aus Gefühlen, Beziehungen, Nähe und Distanz sowie Sinnlichkeit.“
Ihr sei bewusst, einen Genre-Comic illustriert zu haben, sei aber frustriert von der Eindimensionalität. „Wo aber verstecken sich die Frauen aus Fleisch und Blut, die Nachbarinnen, Freundinnen, Verwandten?“
Solche habe sie in die Hintergründe einzuarbeiten versucht, sei aber schockiert gewesen von Kim Nelsons Kaltblütigkeit, ihren Körper hinzugeben. Vor allem aber „haben unsere Heldinnen [Jade, Miranda Nelson und Kim] keinen Kontakt zu den anderen Frauen im Harem.“
Keinen Kontakt zu anderen Frauen überhaupt, möchte ich erweiternd ausführen. Das ist der Punkt, der verwerflich an DJINN sein mag: die fehlende Solidarität der Frauen untereinander.
Miralles hat 25 weibliche Charaktere entworfen, denen Namen zugeordnet sind. Die haben jedoch alle wenig miteinander zu schaffen, sondern agieren meist grausam gegeneinander, um sich Einflusssphären zu sichern.
Ist das latent frauenfeindlich? Wahrscheinlich.
Aber Miralles sagt es selber, ich zitiere nochmals aus dem Nachwort: „DJINN ist ein Genre-Comic und keine Doktorarbeit.“

Wir lassen uns ein auf diese Welt, die offensichtlich nicht die unsere ist. Was keine Entschuldigung für Sexismus sein darf.
Ich habe mich in meinem erwähnten „Quartett der Schweinepriester“ über etliche Serien lustig gemacht, die eine exotische Folie für ekelhafte Fantasien benutzen (bzw. DRUUNA oder SARVAN).
DJINN erfüllt diesen Tatbestand für mich nicht. Es mag wirklich daran liegen, dass eine Zeichnerin tatkräftig mitinszeniert.
Miralles weiß, was Bilder anrichten können – und sie lässt Nacktheit nicht voyeuristisch aussehen. Ihre Frauen sind keine „Püppchen“, „Schlampen“ oder „Luder“, sondern behalten immer eine Eleganz und eine würdevolle Ausstrahlung.
Eine letzte Anmerkung (in Sachen Solidarität):
Auch wenn männliche Charaktere mehr Raum bekommen und den Handlungsrahmen setzen, sind deren Bestrebungen ebenso unsolidarisch, denn sie verbreiten nichts als Krieg und Gewalt.
DJINN ist ein Mix aus Erotik, Abenteuer und Historie – und damit alles andere als eindimensional.
Ich stifte zum Schluss noch ein Durchblättern der indischen Seiten per Reel auf Instagram.