Und ich sach noch in meiner Besprechung des zweiten Bandes (der mich enttäuscht hatte), dass ich für den dritten Teil „auf einen ergreifenden Abschlussband hoffe“.
Ich darf verraten: Das gelingt.
Zeit ist ins Land gegangen, ein volles Jahr vielleicht, und die Dinge nehmen ihren Lauf. Slava und Nina sind Eltern einer Tochter geworden. Mit ihrem Vater Wolodia führt Nina die Geschäfte des Bergwerks, das sich nach wie vor noch in Händen der Belegschaft befindet.
Die „Heuschrecken“ des neuen Oligarchen-Russlands greifen zwar weiterhin an, doch es besteht Hoffnung. Nina kann mit einem deutschen Investor einen langfristigen Vertrag abschließen, der Produktabnahme und einen neuen Maschinenpark garantiert.
Ihr Lebensgefährte Slava ringt weiter mit seiner Berufung zum Kunstmaler. Zwischenzeitlich ackert er auch im Bergwerk, um sich als fähiger Proletarier zu beweisen.
Parallel erfahren wir, dass Slavas alter Kumpel Lawrin vom Neokapitalisten zum Promi-Oligarchen geworden ist. Als er jedoch in einer Fernsehshow vom Moderator verspottet wird, schlägt Lawrin diesen vor laufenden Kameras zusammen.
Danach zieht sich Lawrin ins Privatleben zurück und wird erst zum Finale wieder im Comic auftauchen.
Eine Wendung nimmt die Handlung um Slava, als der sich einen Ruck gibt und eine Ausstellung seiner Gemälde erlaubt. Neureiche Russen kaufen seine Werke sämtlich auf, weil sie so authentisch proletarisch sind.
Slava fällt in die Hände des versierten Galeristen Lew, der ihn nach Moskau holt und dort am Fließband Kunst produzieren lässt.
Und schauen Sie, wie effizient Zeichner und Autor Pierry-Henry Gomont uns das ganze System auf schlanken zwei Seiten erläutert. Es spricht Slava, es sprechen die Bilder:
Natürlich hat das alles einen Haken. Das Bergwerk floriert, Slava reüssiert – zu schön, um wahr zu sein.
Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe
DIE NEUEN RUSSEN sind eine tragische Moritat vom Traum eines besseren Lebens. Slava, Nina, Wolodia und selbst Lawrin wollen sich nur eine Zukunft aufbauen (zugegeben mit jedweils anderen Ansprüchen).
Doch sie alle müssen lernen, dass höhere Mächte ihrer Selbstbestimmung im Weg stehen und sie jederzeit vom Spielfeld kegeln oder, schlimmer noch, vernichten können.
Verraten darf und will ich nur wenig. Mögen diese Fragen im Stil von Soap-Opera-Cliffhangern Ihr Interesse wecken:
Wird Slava sich von der Glitzerwelt der Kunst einfangen lassen? Wird Lawrin nach Jahren der Entfremdung sich seiner Freundschaft zu Slava erinnern? Wird Nina ihren Vater darin hindern können, sich zu Tode zu stressen? Und wird Wolodia sich von seiner Tochter irgendwelche Vorschriften machen lassen?
Preisen möchte ich zum Schluss nochmals das umwerfende Artwork von Pierry-Henry Gomont. Also, ICH finde es umwerfend.
Sein surrealistischer Ansatz mag viele auch verschrecken oder abstoßen, ich liebe seine bizarre Zeichenweise, die dem Sujet eigentlich konträr läuft.
Denn Gomonts schrullige, überzeichnete Charaktere sind beinahe Zeichentrickfiguren, die auch mal vor Wut schäumen und dabei den Voraussetzungen ihrer Anatomie spotten.
Das ist im weitesten Sinne die neue französische Schule, aber mir fällt niemand ein, der Gomont grafisch gleichkäme.
Seine Dynamik ist erstaunlich kratzig und wie flüchtig dahinschraffiert, sie sollte eigentlich nicht so wunderbar funktionieren, wie sie es tut.
Betrachten Sie die drei Panelreihen dieser Action-Seite, die auf den ersten Blick unglaublich roh entworfen wirkt:
Wenn Sie genauer hinschauen, werden Sie bemerken, dass Gomont diese fünf Panels vom Tod des Arbeiters Kostia genau komponiert hat.
Erst huschen schwarze Silhouetten vor brennenden Gebäuden von links nach rechts, nur ein kläffender Hund stellt sich ihnen entgegen. Dann zoomen wir näher heran auf die Gegner, wo Kostia das Feuer von rechts nach links erwidert.
Das Bild hält inne, drei Figuren legen gezielt an und scheinen in einer Pulverwolke zu verschwinden. Das Resultat folgt sogleich: Ein blutender Kostia fliegt förmlich nach rechts aus dem Bild. Zum Schluss eine Nahaufnahme des sterbendes Mannes, alle Aktion liegt für ihn in der Vergangenheit.
Und Wolodias Herzanfall vom Beginn des Bandes ist deutlich näher an ASTERIX als an L’Association.
Was haben wir gelernt?
DIE NEUEN RUSSEN sind eine Comic-Trilogie, die man sich durchaus geben kann. Generell denke ich weiterhin, dass dieses Werk zu spät kommt. Vor 20 Jahren wäre dieser Comic eine Sensation gewesen.
Heute muss man sich auf dieses Thema einlassen wollen und ein Interesse an russischer Historie aufbringen sowie Sympathie und Verständnis für die Gegebenheiten, was momentan schwer zu verlangen ist.
Band 3 trägt übrigens den Titel „Der mächt’gen Geier Fraß“, was ich für etwas überkandidelt halte. Im Original lautet es „Un enfer pour un autre“ („Eine Hölle nach der anderen“), was ich für schöner und inhaltlich richtiger halte.
Denn das Russland der 1990-er Jahre kippt von der kommunistischen in die kapitalistische Diktatur – und die Bevölkerung konnte nichts tun, um dieser fatalen Entwicklung zu entgehen.
Darum darf als Motto für DIE NEUEN RUSSEN ein Satz gelten, der auch (wieder) in Band 3 fällt: „Wir sind in Russland und hier gehen Geschichten nicht gut aus.“ Traurig, aber wahr.
Ich stifte noch den Link zur Verlagsseite bei schreiber&leser sowie einen Blick in den Band hinein. Klicken Sie auch mein Video, um gen Osten zu reisen.
Zudem poste ich noch den Link zur Besprechung des Comics bei „Splashcomics“. Kollege Uwe Roth findet dort ein schönes Fazit zur ganzen Serie, das ich Ihnen nicht enthalten möchte.