Welch sturzlangweiliger Titel!
DER GROSSE SCHWINDEL, Herrjeh, das rangiert für mich in einer Reihe mit „Eine tolle Überraschung“ und „Mein schönstes Ferienerlebnis“ ganz oben in der Hitparade der Schnarchnasigkeiten!
Welch sturzlangweiliges Titelbild!
Hat der Bürobote hier aus drei Panels eine Collage basteln dürfen?! Das ist aber schön geworden, Torben. Schade nur, dass drei Bilder nicht recht zusammenpassen.
Aber … welch wundersamer Comic!
Irgendwo in Lateinamerika. Eine vornehme Dame marschiert in eine verrufene Bar, das „El Rey Mago“. Sie hat ein Problem und ist auf der Suche nach dem Privatdetektiv Donald Reynoso.
Der hockt zerlumpt und betrunken an einem Ecktisch und erkennt in der Dame niemand geringeren als Melinda Centurion, die sogenannte „Heilige Jungfrau“, einen Medienstar, der der Öffentlichkeit die mustergültige Erscheinung einer „Sauberfrau“ vorlebt. Die Chefin der Pinte räumt für die Dame und Donald ein Zimmer frei.
So weit, so konventionell. Doch schon auf Seite 6 geschieht im letzten Bild ein verstörender Bruch: Eine Dandygestalt in weißem Anzug sitzt plötzlich ohne jede Vorankündigung vor uns – und adressiert die Leser des Comics!
Im Film würde man von einem extremen „Jump Cut“ sprechen oder richtiger noch: eine veritable Unterbrechung der bisherigen Handlung. DER GROSSE SCHWINDEL hält an und präsentiert mittendrin eine Erzählerfigur.
Der Dandy, Milton Bates, reißt auch frech den Comic an sich und spreizt sich über die gesamte Seite 7:
In der im letzten Bild beginnenden Rückblende begegnen wir der nächsten Hauptperson: der „Großen Marionette“ alias El Presidente, dem selbstherrlichen Herrscher des Staates La Colonia, der sich Sorgen um sein Volk macht.
Er fordert seinen „Redenschreiber“ Bates, seinen Spin-Doktoren, auf, ein Narrativ gegen die allgegenwärtige Promiskuität zu entwickeln.
Ironie pur, dass dieser Plan nach dem Beischlaf des Präsidenten mit seiner „Nichte“ Melinda Form annimmt. (Ebenjene Melinda Centurion, die bald zur „Heiligen Jungfrau“ stilisiert werden wird!)
Rückblenden werden uns in DER GROSSE SCHWINDEL noch öfter begegnen, die grafischen Marker dafür sind die sepiafarbene Kolorierung und ein eigenartige, doppelte Umrisslinie (erkennen Sie das?). Ich frage mich, ob der Zeichner tatsächlich so illustriert, oder es sich um einen Photoshop-Filtereffekt handelt.
Und somit endet die Origin Story von Melinda Centurion, der Heiligen Jungfrau, uns brühwarm aus erster Hand berichtet vom Erfinder derselben (der aber weiterhin nur eine Figur in diesem Comic ist).
Will sagen: Handlungstechnisch hätte es Milton Bates nicht gebraucht!
Das alles hätte uns auch Melinda erzählen können, doch DER GROSSE SCHWINDEL ergeht sich in dem Vergnügen, uns mit Erzählperspektiven zu verwirren.
Das wird gleich noch wilder, bleiben Sie dran!
Doch fürs Erste entlässt Milton uns wieder gnädig in die (lange!) unterbrochene Haupthandlung:
Das letzte Panel auf dieser Seite ist ein Noir-Klischee, wie es nicht mehr zu toppen ist: Halbschatten, ein unrasierter kerniger Typ macht sich eine Zigarette an, hinter ihm schwebt verheißungsvoll ein blonder Engel mit feuchten Augen und roten Lippen.
Melinda gesteht Donald, dass dessen Halbbruder Pedro sie schicke. Doch Donald ist nicht gut auf Pedro zu sprechen und stürmt hinaus. Und wieder geschieht im letzten Bild ein Bruch!
Nun ist es die Barchefin Trópico, die uns Leser in direkter Weise adressiert!
Auch die nimmt sich jetzt alle Zeit der Welt, den Comic zu unterbrechen, um uns weitere Informationen zu geben.
Im dritten Bild sogar noch mit verbitterter Attitüde uns gegenüber: „Du“ willst Rückblendenbilder, oder? Schöne Panels „passend zur Geschichte“ und keine unpassenden Panels, die eine verlebte Sängerin zeigen, was?
(Hey, ich hab doch gar nichts gesagt.)
Ich hoffe, Sie folgen mir in meiner Analyse, dass dieser Comic spätestens jetzt nicht mehr ernst zu nehmen ist. DER GROSSE SCHWINDEL will uns vielleicht eine Geschichte erzählen, aber genauso sehr will er unsere Lesegewohnheiten düpieren und durcheinanderbringen.
Hier kann offenbar jede Figur nach Belieben die Story zur Geisel nehmen und sich in den Vordergrund spielen!
Auch Trópico entlässt uns wieder in die Geschichte, nachdem sie uns noch erklärt hat, dass Pedro (Donalds Bruder) der Innenminister ist und Donald (damals ein eifriger Polizei-Ermittler) fallengelassen und vom Dienst suspendiert hat, als der Beweise gegen einen Senator gesammelt hatte. Außerdem hatte Trópico mal was mit Donald, der eigentlich auch Sänger werden wollte.
Donald aber lässt sich schließlich von Melindas Tränen erweichen und nimmt sich ihrer Sache an.
Bemerken Sie bitte, dass in dieser Sequenz ebenfalls eine Unterbrechung stattfindet. Trópico funkt als Erzählerinstanz dazwischen und schüttelt den Kopf über Donald.
Dabei kann sie nicht wissen, was draußen auf der Straße geredet wird!
Auch dieses Bild ist ein „Meta-Torpedo“, den Autor und Zeichner auf die eigene Handlung abfeuern.
DER GROSSE SCHWINDEL packt uns förmlich beim Kragen und schüttelt uns: Dieser Stoff ist eine narrative Konstruktion! Versinke nicht in dieser formelhaften Geschichte! Glaube nichts, hinterfrage alles!
Zur weiteren Handlung nur so viel: Melinda wird mit Sexfotos erpresst, die sie beim Liebesspiel mit Pedro zeigen. Donald gerät in die Zwickmühle zwischen Familienzugehörigkeiten und einer entflammenden Leidenschaft für Melinda.
Ich könnte jetzt so weitermachen und Ihnen den halben Comic solcherart vorführen. Da dies zu weit ginge, möchte ich mich beschränken auf einige andere Beobachtungen.
Zum Beispiel die grandiose Figurenzeichnung, die ohne Bremse auf die Klischee-Tube drückt.
Dieser Comic ist eine Operette
Der Detektiv ist der verlotterte, vom Liebestrauma gezeichnete harte Bursche mit dem Herz aus Gold. Attraktiver Mann in den besten Jahren. Kann ebenso gut austeilen wie einstecken.
Die Dame ist die engelsgleiche Femme fatale mit der dunklen Vergangenheit und dem schmutzigen Geheimnis. Manipuliert Männer nach Belieben und bleibt doch ewig das beschützenswerte Opfer.
Der Präsident ist der feiste, schnauzbärtige, mit Orden behangene Despot, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, der seine Macht in vollen Zügen auskostet.
Der Schriftsteller ist der effeminierte Dandy mit Lippenstift und Kajal unter den Augen. Ein homosexuell wirkender Intellektueller mit wachem Geist, gewandet in den weißen Dreiteiler, komplett mit schwarzer Fliege und roter Nelke im Knopfloch. An den Füßen trägt er garantiert Gamaschen.
Die Barfrau ist die vom Leben gezeichnete, aber bauernschlaue Frau mit Erfahrung. Nichts entgeht ihrem Blick. Ihre immer noch attraktive Erscheinung bei verhärmtem Gesicht ist ihr Restkapital.
Der Nazi ist die monokeltragende, sadistische Bestie mit dem blonden Bürstenhaarschnitt, von stattlicher, doch stämmiger Figur und mit eiskaltem Blick. Als Herrenmensch von Natur glaubt er, ein Anrecht auf alles zu haben.
Milton Bates taucht immer wieder auf. Ich zeige noch eine Stelle, wo der gerade von mir gezeigte Nazi das erste Mal erwähnt wird. Melinda sagt Donald, sie kenne Reiner von Fritz (allein der Name ist eine Lachnummer).
Wieder einmal reißt Bates das Skript an sich und prahlt damit, was gleich für eine tolle Personenbeschreibung auf uns zukäme. Er, Bates, sei ja schließlich „Experte“ (für Superklischees, wie es scheint), aber dieser Nazi sei „der schlimmste von allen“.
Soso. Aha. Das war das Schlimmste von allen? Das schlimmste Klischee auf jeden Fall (wie wir oben gesehen haben).
DER GROSSE SCHWINDEL behauptet, ein Meisterwerk mit Meisterfiguren zu sein, windet sich jedoch im Sumpf der Genre-Archetypen.
(„Sumpf“ übrigens ist auch der ins Deutsche übersetzte Name des Motels, wo sich Melinda und Pedro vergnügt haben: „Ciénaga“.)
(Ja, ich wollte meinen eigenen Artikel unterbrechen, um auch mal mit einem interessanten Detail zu prahlen.)
Ich wiederhole: Dieser Comic ist eine Operette, der lustvoll die Arie der Konvention schmettert. Nichts daran ist originell, doch gerade im Overkill der Klischees (und dem Gedrängel konkurrierender „Voice-overs“) gewinnt dieses Werk eine faszinierende Originalität auf der Meta-Ebene.
Der Killer
Der Killer? Es gibt noch einen Killer? Ja, über den müssen wir noch separat reden. Denn der Killer ist natürlich auch eine Überzeichnung (nämlich ein echtes Monster) UND er bekommt einen eigenen Comic. Das aber ist das Sequel zum GROSSEN SCHWINDEL und heißt DER LEGUAN.
So heißt auch der Killer, denn er ist ein Leguan. Ein menschlicher. Völlig grotesk, aber schauen Sie mal.
Mit dem Auftritt des Leguans auf Seite 52 (von 124) wandelt sich der Comic: Er wird geradliniger, verfolgt nun konsequenter seine Krimihandlung. Wie können Donald und Melinda dem Verfolger entkommen (der den Auftrag hat, die Heilige Jungfrau umzulegen) und welche Intrigen lassen sich spinnen, um am Ende doch noch Oberwasser zu behalten?
Doch weiterhin treten Kommentatoren des Geschehens auf, teils sogar dramatisch überhöht wie ein griechischer Chor der Freudenmädchen, der Donald vor dem Besuch des Präsidenten warnen will.
Auch muss Milton Bates noch mal ran, um der streikenden Realität einen schmissigen Anstrich zu verpassen: Denn am Ende spielt noch die Natur verrückt, als sich eine über 40 Stunden dauernde Nacht über La Colonia senkt.
Eine Nacht der langen Messer, in der der Leguan umgeht.
Als der Tag schließlich wieder anbricht, bringt er Veränderungen vielfältiger Art mit sich – und doch endet dieser Comic da, wo er begonnen hat. Auch das ein kunstvoller Kniff, uns zu zeigen, dass Genre-Erzählungen niemals wirklich enden, sondern stets von vorne und im Kreis wieder aufzunehmen sind.
Man darf sich fragen, was uns dieses Werk eigentlich sagen will.
Das Epos von Vertrauen kontra Verrat? Die Romanze der zwei Königskinder? Ein Freiheitskampf gegen den Despotismus?
Und welches Personal wird dafür aufgestellt? Wird das Elend der Welt nicht meistens auf dem Rücken der Frauen ausgetragen?
All das lässt sich finden auf diesen Seiten. Aber das ist DER GROSSE SCHWINDEL ja: Eine Geschichte, die Geschichten in Frage stellt.
(An der Stelle eine Warnung: Dieser Comic geizt bei aller Ironie nicht mit Gewalt gegen Frauen. Das sind die unschönen Szenen, auf die ich hätte verzichten können, doch die spanisch-lateinamerikanische Comichistorie ist leider durchsetzt davon.)
Autor Carlos Trillo ist der wohl prominenteste argentinische Comicschreiber und hat oft mit Künstlern wie Alberto Breccia, Eduardo Risso und Jordi Bernet kollaboriert. Trillos Spektrum reicht von brutalen Kriminalgeschichten über rabiate Endzeit-Action bis hin zu zynischer Pornografie.
In Zusammenarbeit mit Domingo Mandrafina schuf er unser heutiges Double Feature: DER GROSSE SCHWINDEL & DER LEGUAN.
(Ein weiteres Werk der beiden ist noch die Noir-Serie SPAGHETI BROS.)
Dieser Zeichner, Domingo Mandrafina, war mir übrigens völlig unbekannt.
Einer dieser argentinischen Veteranen (geb. 1945), die „ihr Handwerk von der Pike auf gelernt haben und einfach großartig aussehen“ – wie der Comichändler meines Vertrauens (Jörg S. aus B.) schwärmt.
Im Netz nachschauen können Sie diese Werke übrigens nicht.
Herausgeber ERKO ist das Phantom der deutschen Verlagsszene und verfügt
weder über eine Online-Präsenz noch über eine Pressestelle.
Sie finden die Produkte von ERKO indirekt über den Vertrieb.
Ein bisschen rätselhaft, denn ERKO ist nicht nur der aktive deutsche Verlag von Altmeister Hermann, sondern hat auch sonst echte Leckerchen im Programm:
Alfonso Font, Joe Kubert, Vicente Cifuentes.
Wie geht es weiter?
Wird weiter „geschwindelt“, im großen Stil? Weniger, ich muss sagen: weniger – und anders.
Und ehe Sie fragen: In diesem Band finden wir keine internen Erzählstimmen!
DER LEGUAN ist ein traditionell gemachter Comic mit auktorialem Erzähler, also der standardmäßigen, allwissenden Perspektive, die keinen Einzug ins Geschehen findet. Niemals spricht eine Figur uns Leser an. Milton Bates ist zwar wieder mit von der Partie, aber nur als Zeuge der Ereignisse.
Im Sequel DER LEGUAN geht es um die Macht von Gefühlen, die Macht der Fantasie und die Macht von Geschichten. Doch zäumen wir das Pferd von vorne auf und beginnen mit der Handlung dieses Nachfolgebandes.
Der Leguan ist tot, das Volk jubelt – und der Normalbürger Almendrino wagt es sogar, die Leiche des Killers mit Füßen zu treten.
Almendrino jedoch hat in der Folge Alpträume (in welchen ihn der Leguan aus der Hölle grüßt) und erleidet anderntags in der örtlichen Pinte einen Nervenzusammenbruch – gerade als Besuch aus dem Ausland eintrifft.
Die Ermittlerfigur in diesem Band ist die mit allen Wassern gewaschen Reporterin Susan Ling, eine ehrgeizige US-Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln und auf der Suche nach dem journalistischen Coup.
Die Figur der Susan Ling eröffnet das „Thema der zwei Welten“, wie ich es nennen will. Denn somit trifft die USA auf die traumatisierte Ex-Diktatur. Die Westler wollen das Trauma (verkörpert durch den Leguan) vermarkten, die Bevölkerung von La Colonia ringt sehr individuell mit den Spätfolgen.
Diese Frau ist ein ganzer Kerl
Eine Story über den sagenhaften Leguan könnte ihr den Pulitzer-Preis bescheren. Susan wird begleitet von ihrem Chauffeur und Assistenten Bill. Auf der Recherche für ihr Feature über den Killer reisen die beiden durchs Land und interviewen Menschen, die mit dem Leguan Berührung hatten: eine Frau, die Anwesenheit des Leguans ihr Kind gebar; Colonel Pardal, der mit dem Killer auf Patrouille war; die Garderobiere des Leguans, die bei seinen Folterungen zugegen war; Bordellchefin Beremba, in dessen Etablissement der Killer Stammgast war; Doña Leonor, die Frau, die in den Leguan verliebt war – schließlich auch Milton Bates, der dem Killer eine sympathische Legende zuschustern sollte.
Die dabei ermittelten Geschichten sind allesamt grotesk:
Das Kind der Frau kam vor Schreck erblindet auf die Welt; auf Patrouille hat sich ein Mann, der aus Versehen seine Schildkröte zertreten hat, dem Leguan ausgeliefert; die Garderobiere verbrennt jedes Mal die Kleidung, die sich der Täter angezogen hat; der sprachbegabte Papagei der Bordellchefin ist vom Leguan zu Tode angestarrt worden; der verliebten Frau hat der Leguan die Mundwinkel zerschnitten wie es der Joker in „Dark Knight“ zur Schau trägt – und Milton Bates ist gescheitert mit dem Versuch, aus dem Killer den Superhelden Iguana-Man zu machen!
Erstaunlich, dass Trillo und Mandrafina so viel schwarzen Humor aufbringen, denn wir dürfen annehmen, dass der Leguan eine Allegorie, eine grafische Verkörperung, auf das argentinische Folterregime der späten 1970er-Jahre darstellt.
Die haarsträubenden Geschichten von Leid, Tod und Wahnsinn im Gepäck, treten Susan und Bill die Heimreise an. Auf Seite 68 (von 80) kommt es zu einer interessanten Gegenüberstellung:
Milton Bates hat im Zusammenspiel mit der Garderobiere den Geist des Leguans endgültig vertreiben können. Er ist einerseits erleichtert, andererseits schwant ihm, dass seine Zeit vorüber ist. Die klassische lateinamerikanische Literatur (der magische Realismus) hat ausgedient.
Jetzt übernimmt das US-amerikanische Showbusiness das Regime (im doppelten Wortsinn). In Gestalt von Susan Ling, die tatsächlich ihren Coup landen und sogar einen Spielfilm daraus realisieren kann – mit prominenter Beteiligung.
Angesichts des Leguans (vertreten durch eine Maske desselben) gehen den beiden Herren ausschließlich produktionstechnische Aspekte durch den Kopf.
DER LEGUAN endet mit einer bitter-ironischen Szene in La Colonia:
Der absurd betitelte Film („Iguana Rock“, Hollywood lässt grüßen!) wird vor den Opfern des Folterregimes in einem dortigen Filmtheater vorgeführt.
Die reagieren mit Verstörung und einer möglichen Re-Traumatisierung.
Hier stößt die Macht der Fantasie an ihren Widerspruch.
Milton Bates, der magische Romancier, versuchte den Terror der Regierung in altmodischen Hörspielen und käsigen Groschenheften zu transzendieren. Es war schlimm, aber die Fluchtwelten der Fantasie blendeten das Grauen teilweise aus.
Bates jedoch, wir deuteten es an, ist ein Mann von gestern. Susan und ihr US-amerikanischer Kulturimperialismus überrollen das nun demokratisch gewandelte La Colonia („die Kolonie“, sic!).
Hollywood und sein Blockbuster-Kino drängen Bates aus dem Geschäft (auf der letzten Seite sitzt er mit einem Brandy im Straßencafé und beobachtet, wie die Menschen aus dem Kino strömen).
Das Leid der Bevölkerung wird umgemünzt in reißerische Unterhaltung für Menschen, die keine echten Sorgen haben. Die Fantasie ist nicht nur Fluchtpunkt der Hoffnung, sondern auch Popcorn für Wohlstandsmenschen.
Ich sagte oben, in diesem Band ginge es neben der Macht der Fantasie auch um die Macht von Gefühlen und die Macht von Geschichten.
Die Macht der Gefühle ist ein Sub-Thema im LEGUAN, das die sexuelle Attraktion der Macht und die Angstlust in Gefahr aufgreift.
Während die meisten Frauen den Leguan fürchten (da er reihenweise Vergewaltigungen vornimmt), ist da auch besagte Doña Leonor, die vom abartigen Wesen dieser Bestie angezogen wird. Vielleicht eine Parabel auf das Arrangement mit Unrechtsstaaten, das viele Individuen eingehen.
Susan Ling entdeckt diesen „Thrill“, als sie im Gespräch mit Milton Bates den Leguan kennenlernt.
Die Fratze des Bösen wird für Ling zum Fetisch, denn dieser „Blick in den Abgrund“ erregt sie sexuell. Sie nimmt die Maske mit, wird sie später ihrem Assistenten Bill aufsetzen, der sie daraufhin vögeln darf und ihr den Orgasmus ihres Lebens beschert.
Warum ich das erwähne?
Zurück in New York versucht sie das Fetisch-Erlebnis zu wiederholen, doch es kommt nicht die rechte Stimmung auf. Beim Beischlaf schleichen sich Bilder von außen in ihren Kopf. Das symbolisiert uns Mandrafina in einer Straßenszene, in der ein ordinärer Handtaschenraub geschildert wird.
Meine Interpretation: In der Geborgenheit New Yorks ist ein kleinkrimineller Akt „das Höchste der Gefühle“ an Verbrechensangst. Susan aber war in La Colonia und hat dort echten Schrecken gespürt. Der Nervenkitzel ist weg.
Natürlich hätten Trillo und Mandrafina das Gefühls- bzw. Sexualthema komplett ausklammern können. Die Hereinnahme desselben mag in manchen Köpfen eine dramaturgische Schieflage verursachen:
Warum dieser Sexkram, wenn es doch um Terror und Psychoterror geht?
So haben sie es eben angelegt, diesen Teil vom Menü servieren sie uns noch obendrauf. Eine Frage des Geschmacks! Für mich hätte es das nicht gebraucht, hier tritt wieder dieser Hang zum Pornografischen zu Tage.
(Viele männliche Produzenten glaubten oder glauben, ein Comicstoff für Erwachsene müsse irgendwie mit Sex gewürzt sein, um Absatz zu finden. Kann auch sein.)
Die Macht der Geschichten dürfte uns inzwischen mehr als klargeworden sein. Auch DER LEGUAN steckt voller Geschichten; Einzelschicksale wie denen von Susan und Bill (gefangen in ihrer westlichen Weltsicht) werden kontrastiert mit dem Kollektivschicksal der Bevölkerung, deren Summe die schaurige Geschichte des Leguans ergibt.
Ein Schicksal ist ein zu Geschichte geronnenes Leben. Denn wir alle existieren dank Geschichten und konstruieren uns erzählend in die Welt hinein.
„Narrative“, wie man heute sagt.
Der tote Leguan lebt weiter als Narrativ, das die Menschen für sich beenden müssen. Um davon loszukommen und eine neue Geschichte für sich beginnen zu können.
Almendrino, der Bürger, der es wagte, die Leiche des Killers mit Füßen zu treten, beging einen physischen Akt der Befreiung, doch psychisch befand er sich weiter in der Gewalt des Leguans:
Die Hölle, apropos, bereiten wir uns selber. Mit Geschichten, die uns nicht gut tun.
Bannen wir solche lieber in einen Comic! :- )
Joi! Diese Präsentation von DER GROSSE SCHWINDEL & DER LEGUAN war ein analytischer Stiefel, wie ich noch keinen vom Stapel gelassen habe.
Freut mich, wenn Sie noch da sind …
Fragt sich zum Schluss, was Trillo und Mandrafina hier mit den Frauenfiguren anstellen. Die Frauen von La Colonia sind passiv und bleiben Opfer des Leguans; die Amerikanerin im Kontrast ist „tough“, weiß was sie will und wie sie es bekommt, bestimmt über ihr Sexualleben – bleibt jedoch gefühllos und unsympathisch.
Starke Frau, ja, aber Susan ist ein Kotzbrocken.
Zumal sie Bill, der sich stets korrekt und dienstbar verhält, gerne schikaniert, herumkommandiert und am Schluss sogar feuern lässt. Der nette Mann kommt unter die Räder, wenn eine Chefin am Steuer sitzt?
Hat für mich den Ruch der Frauenfeindlichkeit …
(Und wieder ritze ich eine Kerbe in meinen Schreibtisch als Memento wider den spanischsprachigen Machismo!)
Bezüglich des Mysteriums der „doppelten Umrisslinie“ in den Rückblenden:
Ich fragte mich, ob der Zeichner tatsächlich so illustriert, oder es sich um einen Photoshop-Filtereffekt handelt.
Der Illustrator und Comiczeichner Jurek Malottke (DAS FLEISCH DER VIELEN) hat meine Scans untersucht und kommt zum Schluss:
Der Zeichner erreicht die „doppelte Umrisslinie“ dadurch, dass er mit einem dünnen weißen Stift (oder weißer Tusche + Feder) über seine schwarzen Linien drüberzeichnet. Auf den großen Schwarzflächen sieht man die weißen Linien (vor der Kolorierung) ganz deutlich. Eine kreative Idee, klug eingesetzt. Hab ich so auch noch nicht gesehen.
Tatsächlich offenbart sich beim Studium der Panels, dass Mandrafina nochmal mit einem Weiß über die fertige Zeichnung geht. Daher auch der verwaschene Effekt, der manche Bilder so seltsam blass wirken lässt.