Viele Menschen lieben diesen Comic (oder sogar alle?), denn man schwärmt vom atmosphärischen Setting, der filigranen Zeichenkunst und der lakonischen Kriminalhandlung. Alles korrekt. Was mich allerdings auf den ersten Blick begeisterte, ist das Licht.
Autor und Zeichner Joris Mertens setzt (natürlich am Computer) zaubrische Lichteffekte in seine Bleistiftseiten. Gelänge es ihm nicht so wundervoll, ich möchte es fast penetrant nennen.
Vielleicht glauben Sie mir das nicht, deshalb beginnen wir mit einer schwarzweißen Vorzeichnung, die sich im Anhang des Werks findet. Hauptfigur François genehmigt sich ein Bierchen im Bahnhofsrestaurant:
Das ist schon der Hammer und erinnert in seiner Kunstfertigkeit an die deutsche Zeichnerin Isabel Kreitz, die einen sehr ähnlichen Stil benutzt.
Aber jetzt fährt Joris Mertens seinen Rechner hoch, macht Photoshop auf und nimmt folgende Endgestaltung vor:
Er aquarelliert seine Zeichnung und legt dabei den Fokus auf das Licht: Unten im Bahnhof dämmern trübe die Fenster der Zugabteile, oben im Restaurant tauchen die Kugellampen an den Tischen die Szenerie in eine behagliche Wärme – und betonen die Wandtäfelung und reflektieren ihr Licht auf dem blanken Tresen sowie auf dem frisch geputzten Boden!
Und das tut Mertens nicht nur hier, sondern in jedem einzelnen verfluchten Bild!
Immer beherrscht die Beleuchtung seine Komposition. Das ist ungewöhnlich (wie gesagt: fast penetrant), aber er macht es nicht nur meisterlich, sondern auch zu seinem Markenzeichen.
Das ist für mich „der Comic mit dem Licht“. Ich zeige noch ein Beispiel, ehe wir uns der Handlung zuwenden. François irrt durch die Straßen und überlegt, ob er so spät bei seiner Angebeteten Maryvonne klingeln soll.
Die alleinerziehende Mutter Maryvonne betreibt den Lottokiosk um die Ecke, wo François regelmäßig seine Zahlen spielt. Beide treffen sich oft nach der Arbeit im „Monico“, der Stammkneipe der kleinen Leute, die hier vom großen Glück träumen.
Das wäre für François ein Lottogewinn, am liebsten in Kombination mit einer Familiengründung: Er macht nämlich Maryvonne und Tochter Romy bereits Versprechungen, ihnen ein Haus zu kaufen. Wie ernst die junge Frau den mittelalten Mann mit dem schütteren Haar nimmt, bleibt offen. Wahrscheinlich hält sie ihn für einen Träumer und Charmeur. Auch die anderen Bekannten von François sehen in ihm den gutmütigen Trottel, mit dem man einen Scherz machen kann.
Auch auf der Arbeit (François ist Fahrer für die Auslieferung frisch gereinigter Wäsche) wird er für einen schmalen Lohn ausgebeutet.
Dennoch respektiert man seine Erfahrung und Zuverlässigkeit – und vertraut ihm die Einweisung eines neuen Fahrers an: Alain ist der Neffe der Chefin, der im Betrieb untergebracht werden muss.
François tut sein Bestes, gerät aber an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, weil Alain wie ein Henker fährt und eine Gefährdung des Straßenverkehrs darstellt. Auf einer Tour in die Vororte fährt sich Alain noch einen Platten, und während François ihn zum Wechseln des Reifens verdonnert, bringt er einen gereinigten Anzug zu einer Villa im Wald.
Wir sind bereits über zwei Drittel weit im Album drin, dennoch darf man verraten, was der entscheidende Plotpoint ist: François findet eine Tasche voller Geld und nimmt sie einfach an sich! Was dann passiert, darf man allerdings keinesfalls verraten. Pscht!
Handlung nochmal in einem Satz:
Kleiner Mann hofft auf Geld, kleiner Mann findet Geld.
Erwähnt werden muss, dass DAS GROSSE LOS seine spärliche Handlung immer wieder unterbricht, um regnerische Stadtansichten zu präsentieren. Eine wimmelnde, dämmrige, neonbunte Metropole, in der François wie eine Ameise herumrennt.
Die vielen wortlosen Seiten dienen dazu, erstens diesen Kosmos zu etablieren und zweitens das Erzähltempo zu drosseln. Fielen François schon auf den ersten 20 Seiten Geldscheine in den Schoß, wären wir irritiert.
Erst muss die Hauptfigur tüchtig durch seinen Alltagssumpf waten und sich einregnen lassen, damit wir in diesen Nobody einfühlen können. Und macht der Regen nicht uns alle mürbe?!
Atmosphärisch ist dieses Buch wie das Prequel zu „Blade Runner“!
Mehr Film als Comic?
Natürlich ist DAS GROSSE LOS ein Comic, aber er verweigert sich der klassischen Form. Im normalen Raster von sechs bis neun Panels pro Seite erzählt Mertens so gut wie nie. Fast handabzählbar (30 von 130 Seiten) ist der übliche Look, viel lieber gestaltet der Künstler in kunstvoll arrangierten Vier-Bild-Layouts, wenn nicht gar in gesplitteten Seiten zu zwei Bildern. Auch spendiert Mertens etliche großformatige volle Seiten, sogar einige Doppelseiten, die nichts anderes zeigen als Stadtlandschaft im Regen (und Neonlicht!).
Und schauen Sie sich diese umwerfende Seite an, die mir das klassische James-Dean-Motiv assoziiert, hier in der Verlierer-Version:
Bleibt die Frage nach dem Wo der Handlung. Die meisten Rezensionen sehen Brüssel als Austragungsort dieses Dramas, was mich wundert. Es gibt Stellen, die derartig nach Paris und dem Seine-Ufer aussehen, dass ich daran festhalten möchte.
(Ich war öfters in Brüssel und hätte behauptet, in Brüssel gäbe es keinen Fluss. Halb und halb richtig: Im Zentrum ist die kleine Senne zubetoniert, im Norden der Stadt gibt es offenbar Uferstraßen.)
Bleiben wir bei Paris, bleiben wir in den 1970er-Jahren, das hat mehr Glamour!
(Joris Mertens übrigens lässt offen, welche Stadt gemeint ist.)
Der Schluss von DAS GROSSE LOS hat mich laut lachen lassen, denn der finale Gag war von langer Hand vorbereitet, doch durch die vorhergehende Szene so schön ausgeblendet, dass Mertens seinen Punch nun umso schöner landen kann. Frech!
Dieser Comic ist ein großer Wurf, er ist für alle verständlich, er braucht keine geschulten Augen, er läuft ab wie ein Film und hinterlässt das Gefühl, mit einer bittersüßen Geschichte perfekt unterhalten worden zu sein. Bravo, Joris Mertens!
Wenn das nicht einer der Comics des Jahres wird, lauf ich nackt durch den Regen.
Hier der Link zur Webseite beim Splitter-Verlag, da auch weitere Seiten als Leseproben einsehbar!
Dass Splitter ahnt, was sie an Joris Mertens haben, zeigt eine dort zu findende Ankündigung für dessen Vorgängerwerk, annonciert für September:
„Dass Joris Mertens vom Film kommt, aber auch Maler, Fotograf und Designer ist, merkt man jeder einzelnen Seite dieser Graphic Novel an: BEATRICE ist ein urbanes Märchen, das komplett ohne Text auskommt, weil Handlung, Szenerie und Komposition so nahtlos ineinanderfließen, dass man sich mit Freude von ihnen mitreißen lässt.“
Und hier bei mir wieder reinlesen, hier wieder gewinnen!