COCCO BILL reitet wieder!

Ich bin so eitel anzunehmen, dass ich für diese Veröffentlichung mitverantwortlich bin. Im Frühjahr 2023 nämlich schrieb ich eine Hommage auf den Zeichenkünstler Jacovitti, die in „Comixene“ zu lesen war und auch hier auf diesen Seiten:

Darin plädierte ich für eine Wiederentdeckung des schrägen Italieners, jedoch ausdrücklich nicht für eine Wiederaufnahme seines Westerns COCCO BILL, im Wortlaut: „Nach drei Alben COCCOBILL haben Sie die Nase voll.“
Ich hätte seine grandiosen Wimmelbilder sehen mögen, aber nicht sein Comicserienschaffen.
Und was macht der avant-Verlag? Bringt einen Riesenband mit COCCO BILL raus!

Natürlich freue ich mich trotzdem über diesen Wurf. Jacovittis Kunst verdient am Leben gehalten zu werden. Schauen wir mal in die Bände hinein und überprüfen, ob ich meine harschen Worte fressen muss.

Das ist unser Held und so brät sich Cocco Bill einen Fisch (der zum Glück nicht verspeist wird).
© für alle Abbildungen: Benito Jacovitti / avant-Verlag

Vorausgeschickt sei der Hinweis, dass avant die chronologisch sieben ersten Alben (von insgesamt über 30) der Reihe druckt.

Positiv überrascht hat mich gleich das erste, in dem Jacovitti ein munteres Rollenverwechslungsspiel inszeniert: Cocco gibt den Ganoven, um eine Bande zu unterwandern, ehe sein Schwindel auffliegt und er sich dem Bösewicht zum Showdown stellen muss.

Der Finsterling heißt Callagan, trägt den größten Colt und einen zackigen Spitzbart zur Schau – mit dem sich die Kontrahenten zum Finale einen Messerkampf liefern!

Im zweiten Album gibt es wieder einen Schurken, der mit seinen Helfern eine Stadt in seine Gewalt bringen möchte. Hier heißt er Charleston und ist hauptberuflich Waffenhändler.

Und es gibt jede Menge Indianer, konkreter: tapfere Sioux gegen ängstliche Apachen. Die ersteren sind auf Charlestons Seite, die anderen auf Coccos. Der muss den Apachen erst mal Flötentöne beibringen, damit sie sich gegen den feindlichen Stamm wehren.

Es entspinnt sich ein Tohuwabohu aus Angriff und Gegenangriff, in dem viel geschossen, gestochen und skalpiert wird. Die Sioux tragen die Skalps der Apachen wie Perücken, um von den Weißen für Apachen gehalten zu werden.
Die Apachen wiederum schmücken ihre kahlen Schädel mit Grasbüscheln, um sich wieder wie Krieger zu fühlen.

In einem weiteren Duell kann Cocco den fiesen Charleston zur Strecke bringen und den Frieden im Ort wiederherstellen.

Im dritten Abenteuer tritt die Handlung auf der Stelle, wie ich finde.
Cocco verfolgt einen US-Gangster, der sich in Kanada versteckt. Erneut wird unser Held in ein Intrigenspiel des Schurken und seiner Gehilfen verstrickt.

Als ihm ein Mord in die Schuhe geschoben wird, wendet sich das Städtchen Saskatoon gegen Cocco und die kanadischen Mounties werfen ihn ins Gefängnis. Cocco entkommt, wird von den Mounties gejagt und kann sie schließlich überzeugen, der falsche Verdächtige zu sein.

Jacovitti füllt das Album mit einer Reprise des falschen Verdachts vom Anfang: In einer weiteren Intrige des Gangsters wird dem Stamm der Gimpelonen eingeredet, Cocco und die Mounties möchten das Kriegsbeil ausgraben.

Lustig ist allein, dass die Gimpelonen eine Schlumpfsprache sprechen und ihr Häuptling Cocco zum Duell mit Salamis herausfordert:

Immerhin glänzt der Band durchgehend mit dynamischen Aktionssequenzen, die generell den Reiz von COCCO BILL ausmachen – wie diese zwei Panels, in denen die Waffen nicht nur sprechen, sondern brüllen:

Das vierte Abenteuer handelt erneut von einem Örtchen, das von den Machenschaften rücksichtsloser Banditen heimgesucht wird. Diesmal ist es direkt eine ganze Hierarchie von Bösewichten: eine geheimnisvolle „Majestät“ im Hintergrund, dessen Capo Big Foot, dessen Handlanger Slim Pakula, dessen Auftragskiller Drakula Bob.

Das ist in seiner Bürokratie des Bösen schon lustig, hinzu stellt Jacovitti einen reisenden Schlawiner (einen Wunderdoktor, der seine Tinkturen verkauft) und dessen rechte Hand, den Assistenten Pepe, der auf der Bühne mithilft und in brenzligen Situationen in die Rolle eines alten Mütterchens schlüpft und als solche so viel Mitleid erregt, dass selbst Cocco Bill von seinen Verdächtigungen ablässt.

Das hat man im Western noch nicht gesehen!

Auch diese Geschichte ergeht sich wortreich darin, wer gerade losgeschickt wird, um Cocco „abzumurksen“, wie Cocco natürlich jeden Hinterhalt erkennt, welche Pläne die Bösen als nächstes aushecken und wie Cocco die Dinge wieder geraderücken muss.

Aber „Cocco contra Cocco“ brilliert im Mittelteil mit einem Doppelgänger-Plot, der die alte Marx-Brothers-Nummer vom Spiegel ohne Glas gekonnt aufwärmt.

Jacovitti toppt den Sketch noch, indem er verbal weitermacht: Der falsche Cocco versucht dem echten einzureden, er sei seine dunkle Seite, die sich von ihm abgespalten habe!

Pulverdampf liegt in der Luft

Jacovittis Western ist der Westen der willkürlichen Gewalt, auf jeder Seite fliegen blaue Bohnen oder zumindest Fäuste.
Das wird so exaltiert dargestellt, dass man es nicht ernst nehmen kann. Tödlich Getroffene beispielsweise gehen mit zum Gebet gefalteten Händen zu Boden.

Die Physiognomien aller Figuren sind generell „zum Schießen“: überdimensionierte Nasen, Hände und Füße; Münder mit gefletschten Zähnen (Cocco hat den seltsamen Fetisch, seinen Gegnern ins Zahnfleisch zu schießen);  wilde Bärte und Frisuren – und immer wieder herrlich prominente Kinnpartien!

Außerdem versteckt der Zeichner auf jeder Seite eine Salami im Bild und versieht die Panelzwischenräume oft mit absurden Miniaturen, die nicht den geringsten Sinn ergeben und überhaupt nicht zur Geschichte gehören.

Dieser Jacovitti-Look ist einzigartig und unverwechselbar und brennt sich jedem Bildermenschen ins Gedächtnis.
(Gestern fragte ich einen Bekannten, ob er COCCO BILL kenne. Erst verneinte er, dann sah er nur das Titelbild und ein großes „Ah!“ leuchtete in seinen Augen auf: „Irgendwoher doch“.)

Im fünften Album begegnet unser Cowboy in den Ozark-Mountains zwei verfeindeten Hinterwäldler-Familien, den Kapulas und den Muntek.

Im letzten Bildbeispiel sahen Sie Rhum Muntek und Giuly Kapula, mehr als deutlich eine „Romeo und Julia“-Anspielung.

Cocco macht es sich zur Aufgabe, Frieden zwischen den Parteien zu stiften. In die Suppe spuckt ihm wieder eine Intrige im Städtchen Ding-Dong-City: Don Burly-Dirlindon heißt nun der lokale Oligarch, der mit seinen Gehilfen die Hinterwäldler in Misskredit bringt.
Er schiebt ihnen Raubüberfälle und Morde in die Schuhe, um sie zu vertreiben und die in den Bergen lagernden Silbervorkommen ausbeuten zu können. 

Jacovitti kann offenbar keinen Western ohne diesen Plot gestalten. Das finde ich kurios und ermüdend. Nun gut, schön ist allerdings, wie antiklimaktisch simpel sich die Rivalität der Familien erledigt:

Im sechsten Abenteuer verblüfft mich ein Genrebruch: Cocco soll in Texas ein Spukhaus von Gespenstern säubern!

Dahinter steckt jedoch die übliche Intrige, diesmal des schurkischen Sheriffs höchstselbst. Der befehligt eine Räuberbande, die das leere Schloss als Unterschlupf benutzt.

Dieser Band hat außer dem Horror-Touch leider nichts Neues zu bieten.

Die abschließende Geschichte präsentiert Cocco auf See, wohin er gegen seinen Willen verschleppt wird. Als das Schiff von Piraten überfallen und die Besatzung zu Sklavenarbeit verdonnert wird, liefert Cocco den Seeräubern erbitterte Kämpfe, bis sich alle Matrosen anschließen und sich ihre Freiheit zurückerobern.

Für den Tapetenwechsel bin ich dankbar, denn wir erleben herrlichen Quatsch mit Haien und Kanonenkugeln. Wie überhaupt „Cocco Bill der Korsar“ jede Menge rabiater Gewaltkomik präsentiert – über, auf und unter Wasser.

Eine Knalleridee ist dieser Ritt auf der Kanonenkugel, der allerdings im nassen Element endet. Kein Problem für Cocco, denn seine Spezialpistolen haben den Extrawumms!

Wer zieht schneller: COCCO BILL oder LUCKY LUKE?

Ich nehme an, dass Jacovitti LUCKY LUKE gekannt hat, der Vetter aus Frankreich startete zehn Jahre früher. Die Parallelen sind nicht zu übersehen: ein Cowboy mit Fluppe im Mund, der irrwitzig treffsicher schießt,  auf Wanderschaft durch den wilden Westen, begleitet von einem intelligenten Pferd?

Das Pferd in Aktion: Es heißt übrigens nur „mein Pferd“, später taucht der Name „Trottalemme“ auf.

Das ist die Lucky-Formel, die allerdings noch nicht durch Autor Goscinny geprägt war. Der schreibt zwar ab 1955 die Skripte für  Zeichner Morris, findet aber erst zeitgleich mit Jacovitti zu seiner Form.

(Zum Beispiel mit „Am Missisippi“ 1959. Goscinnys Gag-Mechanismen habe ich diesen Sommer in einem großen Artikel behandelt.)

Wo Goscinny und Morris bald den Bogen raus haben und ihren Helden mit interessantem Personal konfrontieren (die Daltons, Jesse James, Calamity Jane, ein russischer Fürst, ein englischer Adliger, eine Schauspieltruppe …), da klebt Jacovitti noch am Film- und Fernsehwestern und versucht, seine Komik aus der Niederlage böser Waffenschieber und intriganter Rinderzüchter zu gewinnen.

Niemand erzählt Geschichten vom Pferd so gut wie das Pferd: Metahumor à la Jacovitti.

Manche Plots wirken austauschbar, auch wenn ihm hübsche Nebenfiguren wie die liebestolle Lehrerin Osusanna gelingen (im ersten Album), die auch die Handlung voranbringen.

Im zweiten Album erfüllt diese Funktion ein feiger (und feister) Apachenhäuptling, im dritten der findige Trapper Bing Crocky, in weiteren Alben erfreuen uns der schauspielbegabte Hochstapler Pepe, der clevere Sheriff Chewing Gum, der Hinterwäldler-König Kapula King, der Bestatter Cad Aver und der holzbeinige Pirat Käpt’n Smog, der mit seinem Kunstbein über Deck rollen kann.

Auch Pistolero-Bösewichte treten auf, die jedoch selten an Kontur gewinnen: Der grimmige Donky Puma trägt eine Augenklappe, der Big Boss aus Band 4 hat Riesenfüße, der Schurke aus den Ozarks hat als Gimmick eine Spazierstockwaffe.

Immerhin ist der bleiche Revolverheld Peter Zing (der nicht nur schießen, sondern auch gemein spucken kann) eine originelle Erfindung.

Hieran wird der Unterschied zum Humor im LUCKY-LUKE-Kosmos erkennbar.
Jacovitti arbeitet mit Äußerlichkeiten, mit dem Slapstick der Bewegungen und der Übersteigerung der Inszenierung.

Morris und Goscinny widmen sich dem Innenleben ihrer Figuren, ihrer Psychologie. Bei LUCKY LUKE kommt es nie zu Showdown-Duellen, weil Luke seine Gegner mit Psychotricks auskontert.

Was ist nun mein Resümee zu COCCO BILL, dem Comic, den ich nicht sehen wollte? ;- )

Die meisten meiner harschen Worte bin ich zu fressen bereit und brauche damit kein Abendessen mehr.
Diese avant-Ausgabe ist eine mustergültige Edition, mit viel Liebe (für Salami) gemacht. Lob an alle Beteiligten und vor allem an Übersetzerin Hannah Lisa Linsmaier, die eine forcierte Komik mit Kraftsprüchen aus den Siebzigerjahren vermieden hat, sondern hier und da mit feinem Dialogwitz punktet.

An LUCKY LUKE, dem übergroßen Vorbild und Inbegriff des Funny-Westerns, ist allerdings kein Vorbeikommen.
Wer jedoch Lust auf eine andere Ausprägung hat, dem kann ich COCCO BILL wärmstens empfehlen. Ihr Zahnfleisch wird es Ihnen danken.

Auf diesen Comicband habe ich übrigens anderthalb Jahre gewartet. Der avant-Verlag hatte das Werk schon im Sommer 2024 angekündigt, im Winter 2025 ist es endlich erschienen.
Die Verzögerung erklärt sich sofort bei Betrachtung der dicken Schwarte: Das breite Überformat enthält die ersten sieben COCCO-BILL-Alben (vormals noch nicht auf Deutsch publiziert), umfasst satte 224 Seiten und dürfte Übersetzerin Linsmaier lange Nächte bereitet haben.

Denn diese übermütigen Westernpersiflagen sind gespickt mit vielen, vielen Sprechblasen. Das würde man heute anders lösen, doch die Comics stammen aus den Jahren 1957–1964. Damals gehörte in jedes Bild automatisch eine Sprechblase. Was für eine Knochenarbeit!

Es folgt zum Abschluss der Link zur Seite beim avant-Verlag sowie mein übliches Wackelvideo auf Instagram!

(Die Leseprobe auf der Verlagsseite hat mich irritiert, weil dieses Breitformat online und in dieser minimierten Größe schwer verdaulich wirkt – im Print ist es dagegen völlig okay.)

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