Böser Pharma-Thriller: ICH, DER VERRÜCKTE

Eigentlich dreht dieser Comic seine Handlungsschraube einen Tacken zu weit. Dass hinter der Intrige eine weitere Intrige steckt, ist unnötig. Es stört allerdings auch nicht, sondern verstärkt und bekräftigt die paranoide Grundstimmung, mit der wir es seit der ersten Seite zu tun haben:

Die Äskulap-Schlange sucht unsere Hauptfigur Ángel im Traum heim.

 

Ángel Molinos hat seit einigen Wochen Alpträume. Die sind ihm unerklärlich, sie beunruhigen ihn. Er hat Angst, womöglich den Verstand zu verlieren.
Dazu hätte er allen Grund, denn Ángel entwickelt für den Pharmakonzern Pfizin psychologische Profile für Krankheiten, genauer: Seine Abteilung pathologisiert die Ticks normaler Menschen, um sie behandelbar zu machen und Medikamente verkaufen zu können.
Sein jüngster Coup soll die „Quantophrenie“ werden, eine Sucht nach Zahlen und Statistiken, nach einer Vermessbarkeit, nach der wir alle in gewisser Weise streben. Ángels unsympathischer Chef Martín und seine unsympathische Vorgesetzte Beatriz wollen dieses Profil auf einer Tagung in Paris vorstellen und beide für sich reklamieren.

So gerät Ángel in eine Bürointrige zwischen zwei Vorgesetzten, noch dazu macht ihm die schöne Begoña unerwünschte Avancen und sein neuer Kollege Narciso Hoyos offenbart ihm die Existenz einer geheimen Versuchsanlage im Keller der Firma: Dort malträtieren skrupellose Wissenschaftler gefangene Patienten mit experimentellen Drogen.

Beim Morgenmeeting präsentiert Ángel neue Ideen. Narciso, Beatriz und Martín hören ihm zu.

Na? Ahnen Sie, liebe Freundinnen und Freunde der gepflegten Neurose, wohin die Reise geht?

Abwärts natürlich, in eine Spirale aus Verdächtigungen, Halluzinationen, merkwürdigen Begegnungen, traumatischen Erinnerungen, gehässigen Konfrontationen  – letztlich sogar ins Verbrechen!

Ángel taumelt im Folgenden durch die Trümmer seines Lebens, kämpft um seinen bröckelnden Verstand, wird in eine Familienangelegenheit verwickelt, begegnet einem ehemaligen Liebhaber, steht unter Strom der wichtigen Tagung wegen und ringt mit seinen Gewissen, ob er seine Firma bei der Polizei anzeigen sollte – all ihrer üblen Machenschaften wegen.
Doch unsere Hauptfigur ist ein willenloser Mensch, der erst eine Menge Leidensdruck aufbauen muss, ehe er ans Handeln denkt.

Eine Meta-Ebene mit „Don Quijote“ wird auch noch eingezogen, allerdings ist sie der Figur bewusst!

 

Im Strudel des Wahnsinns

 

ICH, DER VERRÜCKTE ist wie elektrisch aufgeladen mit vibrierenden Spannungsfeldern, zwischen denen die Hauptfigur zerrissen wird: Gesundheit vs. Therapie, Sexus vs. Askese, Kunst vs. Karriere, Traum vs. Realität, Natur vs. Kultur, Loyalität vs. Verrat, Profit vs. Moral.

Ángel Molinos, der Ex-Schriftsteller, der sich an die Pharma-Industrie verkauft hat, ist uns nicht besonders sympathisch. Er ist ein Eigenbrötler ohne Freunde oder Partner, wir bekommen eine familiäre Missbrauchsvergangenheit geschildert, er lebt sehr in seinem Kopf und ist empfänglich für die Attacken des Wahns, die auf ihn eindringen.
Er ist ein Rad in der Geschichte, passiv den Hintergrundströmungen ausgeliefert. Als Ángel schließlich doch aktiv wird, läuft er nur noch gegen die Wand.
Auch das ein Kennzeichen von Paranoia-Thrillern, die ihre Figuren selten zum Mitleiden aufstellen, sondern um ein Exempel an ihnen zu statuieren. Um uns damit aufzurütteln.

Ein besonders brutaler Alptraum lässt Ángel erneut sein Kindheitstrauma durchleiden.

 

ICH, DER VERRÜCKTE ist ein kalter Comic, der mich frösteln macht. Die merkwürdige Zusatzfarbe Gelb springt meinem Dafürhalten nach völlig beliebig durch die Seiten, auch das eine weitere Irritation, die uns den surrealen Charakter des Werks bestätigt.

Ohne Kafka wäre das alles nicht möglich. ICH, DER VERRÜCKTE atmet allerdings mehr den Geist surrealistischer Filme. Das Traumhafte, Unwirkliche, Neurotische dieses Comics erinnert an die ganze seltsame Sippschaft von Buñuel und Jodorowsky über David Lynch und David Cronenberg bis hin zu Terry Gilliam.

Aber Respekt, kriegen Sie das erst mal in Comicform hin!
(Ich hebe nochmal hervor: eine geisterhafte Zusatzfarbe, käfigartig anmutende Architekturen, das Erscheinen von Tieren als willkürlicher Kontrast zum Geschehen.)

Per Post bekommt Ángel eine abgetrennte Hand zugestellt, eindeutig eine Warnung.

 

Zu wahr, um schön zu sein

 

Alle im Comic angesprochenen Themen sind übrigens recherchierbar, was der Sache einen bedrückenden Anstrich verleiht: spanische Kolonialverbrechen in Äquatorialguinea, der WHO-Leitfaden „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, das Rosenhan-Experiment.

Der im Comic präsente Pharmakonzern „Pfizin“ ist eine offensichtliche Anspielung auf den Industriegiganten Pfizer; so fantastisch die Figuren wirken mögen, der Background, vor dem sie agieren, existiert in unserer Welt!
(Es tritt sogar ein realer Künstler auf: Der Bildhauer Jeff Koons lässt sich anheuern und schämt sich nicht, seine Kunst in den schäbigen Dienst der Pharmalobby zu stellen.)

Autor Antonio Altarriba scheint mir mit ICH, DER VERRÜCKTE eine echte Anklage gegen Big Pharma erheben zu wollen. Das ist eine politische Graphic Novel in Gestalt einer Paranoia-Erzählung.

Hand in Hand arbeitet hier das Artwork von Keko zu: Der spanische Zeichner montiert reale Architekturen, Abbildungen und Fotografien in seine Illustrationen, für die er ein nahezu beißendes Schwarzweiß wählt – noch dazu in einem kantigen, holzschnittartigen Stil.
Das finde ich nicht schön, aber es betont natürlich die Zerrissenheit dieser Welt, das lagerhafte Denken, und auch den Schwung in die Apokalypse hinein, der Hauptfigur Ángel nicht entkommen kann.

Auftritt Jeff Koons, der Ángel von seinen Installationen erzählt.

ICH, DER VERRÜCKTE ist intelligent, unterhaltsam, eigensinnig und fällt auch nicht zu sehr mit der Tür ins Haus. Der Zeigefinger ist zwar moralisch erigiert, dabei jedoch in ständiger Bewegung: Folgen Sie dem Finger mit Ihren Augen!
Worauf zeigt er jetzt? Kommen Sie noch mit? Schwirrt Ihnen schon der Kopf?!

Mir hat diese Graphic Novel ein bisschen den Magen umgedreht: Dieser irre Stoff ist realer, als uns lieb sein kann. Sollten Sie nach Anzeichen dafür suchen, dass die Welt zum Teufel geht, so halten sie hier ein Comicargument in Händen …

Wie geht noch das schöne Zitat, das Terry Pratchett zugeschrieben wird?
Nur weil du paranoid bist, bedeutet das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“
Diese Graphic Novel ist die grafische Umsetzung dieser vergifteten Weisheit.

Verlagslink zu avant mit Leseprobe HIER, wir blättern aber auch noch ins Werk hinein.