Das Wort „Blutbad“ ist leicht in den Mund genommen und niedergeschrieben, doch trifft es auf diese beiden Comics vollumfänglich zu. Sowohl WE STAND ON GUARD von 2015 wie auch LITTLE BIRD von 2019 sind ungewöhnlich gewalttätige und grausame Geschichten.
Beide Comics schildern einen zukünftigen Krieg der USA gegen den nördlichen Nachbarn Kanada so unerbittlich, dass ich beinahe einen Psychotherapeuten zu Rate ziehen möchte.
(Was ist denn hier kaputt? Zur Historie beider Länder weiter unten einige Anmerkungen.)
Nicht nur das Kriegsthema ist beiden Werken zu Eigen, auch sonst finden sich erstaunliche Parallelen:
WE STAND ON GUARD präsentiert uns das Mädchen Amber, dessen Eltern bei einem Angriff der USA ums Leben kommen. Amber wächst zur jungen Frau und Kriegerin heran, die sich dem kanadischen Widerstand anschließt und die Invasionsmacht USA in den kanadischen Wäldern bekämpft.
Dabei geht es derb zur Sache und Amber bezahlt einen hohen Preis.
LITTLE BIRD präsentiert uns das Mädchen Little Bird, dessen Mutter bei einem Angriff der USA verschleppt wird. Little Bird wächst zur jungen Frau und Kriegerin heran, die sich dem kanadischen Widerstand anschließt und die Invasionsmacht USA in den kanadischen Wäldern bekämpft.
Dabei geht es derb zur Sache und Little Bird bezahlt einen hohen Preis.
Es ist ein veritables Double Feature, auch wenn sich beide Werke ganz anders anfühlen – wofür allein schon das jeweilige Artwork sorgt: realistisch hier, surrealistisch dort.
Beide Comics sind auf Deutsch erschienen. LITTLE BIRD vor Kurzem in einer prächtigen Überformatausgabe bei CrossCult; WE STAND ON GUARD ist bereits vor Jahren ebendort erschienen und erwartet gerüchtehalber eine Neuauflage.
In WE STAND ON GUARD treffen sich die gegnerischen Seiten in der künstlerischen Zusammenarbeit: Autor Brian K. Vaughan ist Amerikaner, Zeichner Steve Skroce ist Kanadier kroatischer Abstammung.
Bei LITTLE BIRD ist es umgekehrt: Zeichner Ian Bertram ist Amerikaner, Autor Darcy Van Poelgeest ist Kanadier. (Darcy Van Poelgeest ist übrigens eigentlich Regisseur im Filmbereich und gibt mit LITTLE BIRD sein Debüt in der Neunten Kunst.)
Wir dürfen somit annehmen, dass die ausgestellten Feindlichkeiten in den Werken mit Distanz, schwarzer Ironie und einem popkulturellen Augenzwinkern zu betrachten sind. Dennoch sind beide Comics extrem roh, rücksichtslos wild und ja: auch kaltherzig.
Nach dem Motto „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ leben die Kreativen womöglich unterbewusste Traumata nach Herzenslust aus.
WE STAND ON GUARD ist eine technoide Fantasie, die als Motor der Handlung oft die Funktion der militärischen Gerätschaften benutzt. Vaughan und Skroce haben so viel Spaß an der Beschreibung zukünftiger Kriegstechnik, dass ich ihr Werk nicht als dystopische Science Fiction, sondern als Kriegscomic einstufen möchte.
Auch LITTLE BIRD prunkt mit der Vorführung erstaunlicher Waffen (vom Laser-Cutter bis zum Flammenwerfer), zieht jedoch zugleich eine nostalgische Ebene ein, in der auch Schwerter und Streitkolben noch etwas gelten. Nicht umsonst heißt eine der Figuren „Die Axt“ (und er weiß sie zu schwingen).
Dieser Comic ist zudem durchdrungen von einer Naturmystik bzw. einem dogmatisch-religiösen Überbau, was natürlich auch dem Zeichenstil Ian Bertrams zugutekommt. Der Zeichner, den wir hier bereits mit seinem Vorläuferwerk HOUSE OF PENANCE vorgestellt haben, bedient erneut exzessiv seine bekannten Manierismen wie Gedärme/ Tentakel, Rauch/ Nebel sowie Blätter/ Federn.
Das passt natürlich ins Bild und es sei erwähnt, dass Bertram den Stoff mitentwickelt hat. Ich wollte schon krähen: „Gebt Bertram mal ein Skript ohne Gewalt, ich halte ihn für so innovativ, dass er auch einen Liebescomic interessant umsetzen könnte“.
Aber der gute Mann steht augenscheinlich hinter seinen „blood an‘ guts“-Zeichnungen. Na gut, kann er aber auch nicht ewig machen.
Steve Skroce, der Zeichner von WE STAND ON GUARD, gestaltet seine Metzeleien sauber, detailliert, glaubwürdig, funktional und vor allem realistisch. Sein Artwork erinnert mich sehr an Geoff Darrow, der gerne mit penibel ausgemalten Wimmelbildern erfreut.
Natürlich sind beide Illustrationsweisen schick und ein Hingucker – man blättert gespannt, erstaunt, überrascht, etwas überwältigt durch diese Comics. Beide Werke haben ihren speziellen „Zauber“, aber erwähnte ich schon, dass sie auch wahnsinnig brutal sind?
Ich sage es zur Warnung nochmal, es macht mir nicht viel aus, aber es verlangt einen starken Magen und/oder ein akzeptierendes Verständnis einer „Splatter-Kultur“ (die vielleicht bei „Mad Max“ und „Robocop“ beginnt), die ihre Sujets durchaus ernst nimmt, in der Überhöhung der Gewalttätigkeit aber moralische Schocks kreieren will.
Meint: Wir bekommen unfassbare Gräuel präsentiert, aber der Tabubruch, die Grenzüberschreitung markiert einen Schritt weg aus der Alltagsrealität, hin zur Frage „Wofür kämpfen wir und wie weit würden wir dafür gehen“?
Deshalb sind beide Werke (solche Stoffe allgemein) ja auch in der Zukunft angesiedelt. WE STAND ON GUARD ganz konkret im Zeitraum 2112–2124, LITTLE BIRD unbenannt, doch wir schlussfolgern aus den Bildern, dass sich die USA offenbar zu einer fundamentalchristlichen Militärdiktatur entwickelt haben.
Die Dystopie ist der moderne dunkle Spiegel der frühen Science Fiction, die auch moralisch erziehen wollte, allerdings „blutarm“ (durchaus metaphorisch gemeint).
Die Psychologie der Figuren bleibt dabei größtenteils an der Oberfläche. In WE STAND ON GUARD gibt es nur Antagonismus: Amber für den Widerstand gegen die amerikanische Generalin für die Besatzer.
In LITTLE BIRD ist es ähnlich bilateral aufgestellt (Little Bird für den Widerstand gegen den Bischof als Vertreter der Besatzungsmacht), doch finden wir hier die Figur des Gabriel. Der entpuppt sich als Little Birds Bruder – und da er Sohn des Bischofs ist, erkennt Little Bird in ihrem Unterdrücker zugleich ihren Vater.
(Ein Widerhall des Vader-Skywalker-Themas, sicherlich, aber damit macht man seit „Star Wars“ nichts falsch.)
Ich will beide Handlungen nicht weiter ausführen, wollte nur sagen, dass in LITTLE BIRD noch ein Familiendrama eingesponnen ist.
US…Aggressor
Aus historischer Perspektive gab es nie einen Krieg zwischen den USA und Kanada – sieht man ab von einigen Scharmützeln im Britisch-Amerikanischen-Krieg, der in den Jahren 1812 bis 1814 auch entlang der kanadischen Grenze, im Süden Kanadas, geführt wurde. Mehrere Versuche US-amerikanischer Verbände, die Stadt Montreal einzunehmen, waren zum Scheitern verurteilt. Britisch-indianische Einheiten konnten (mit Unterstützung kanadischer Milizen!) Attacken aus dem Süden oft zurückschlagen.
Da lauert womöglich ein nationales Trauma (auf beiden Seiten), ein Grundtenor des Misstrauens. Sowohl WE STAND ON GUARD wie auch LITTLE BIRD spielen auf dem Gebiet des kanadischen Südwestens.
Mit Kenntnis dieser Fakten erklärt sich auch der tribalistische Aspekt in LITTLE BIRD, deren Protagonistin durchaus indianische Züge trägt und in einer Stammesgesellschaft aufgewachsen ist (sowie im Widerstand gegenüber dem christlich-missionarischen Aggressor aus dem Süden).
Die USA als „Bösewicht“ ist ein Topos, das äußerst gerne und dankbar in Comics Verwendung findet. Was die erfrischende Subversität dieses Mediums illustriert. Immer wieder sind die Vereinigten Staaten ein „Reich des Bösen“ bzw. ein Land der korrumpierten Werte, in dieser Weise oft und plakativ propagiert von niemand geringerem als Frank Miller in allen Ausprägungen und sämtlichen Facetten: siehe BATMAN: THE DARK KNIGHT RETURNS / DAREDIL & ELEKTRA / GIVE ME LIBERTY / RONIN / HARD BOILED / SIN CITY.
Dürfen wir die Vereinigten Staaten als fiktive Muster-Dystopie begreifen? Unter diesem Aspekt entfalten die USA tatsächlich „unbegrenzte Möglichkeiten“.
Doch genug meiner Spekulationen, kommen wir noch zur (subjektiven) Kritik an beiden Comics:
Mir imponiert die Geradlinigkeit von WE STAND ON GUARD: Die Handlung läuft wie am Schnürchen, erlaubt sich kein „narratives Fett“, macht wenige, dafür intelligente Rückblenden und ist im Ganzen eine atemlose Tour de Force.
Autor Brian K. Vaughan kann also auch unter Dampf erzählen und brilliert wie üblich mit beiläufig eingestreuten Innovationen (Laser- und Plasmawaffen, Hologrammtechniken, biologischen Abwehrmechanismen) – und es gelingt ihm die perfideste Folterszene nicht nur der Comicgeschichte! (Die entdecken Sie bitte für sich selber.)
Bleibt nur zu sagen, dass Steve Skroces Artwork kongenial imposant ist.
LITTLE BIRD wirkt auf mich befremdlich und bedrückend: Dieser Comic schildert ein endloses Massaker, das mich nur dank der kreativen Grafik am Ball hält. Wäre das nicht so „schön“ gezeichnet und wäre die fundamentalchristliche Ordnung nicht so interessant dargestellt, ich hätte dieses Buch nach dem ersten Drittel zugeklappt.
Dramaturgisch problematisch empfinde ich das „dreifache Finale“. Nach einem Paukenschlag (dem vermeintlichen Tod Little Birds) folgt eine Wiederaufnahme der Handlung und ein weiterer Paukenschlag (der vermeintliche Tod Little Birds).
Und dann geht es nochmal weiter – mit einem nächsten Paukenschlag!
(Und wer wäre ich, hier zu verspoilern, dass selbst dieses Ereignis nicht das Ende ist…)
Ian Bertrams Artwork, so genial ich das finde, ist in seiner Surrealität in diesem Genre nicht fehl am Platz, aber eventuell eine Spur übertrieben. Ich möchte ihn wirklich mal ein Skript ohne Gewalt illustrieren sehen.
Untergründig schwelt in WE STAND ON GUARD zudem ein grimmiger Humor, der LITTLE BIRD nur mit Maßen zuzuschreiben ist.
(Evt. in der Abb. oben: Die Ikonographie ist manchmal grausig-komisch.)
So dumm das in Kurzform klingt, aber WE STAND ON GUARD ist ein knackiger Kriegscomic, LITTLE BIRD hingegen ein klebriges Kampfdrama.
Übrigens geht „The Comics Journal“ den Comic LITTLE BIRD in einer Online-Rezension überraschend scharf an, auf kluge, kompetente und differenzierte Weise. Lesenswert!
Manchmal bin ich mit der Analyse von Comics auch überfordert – wovon mein Instagram-Video beredtes Zeugnis gibt: