Undercover-Cop infiltriert Gesellschaft böser Buben: Haben wir diesen Stoff nicht schon in einer Fernsehserie, zwei Filmen und drei anderen Comics gesehen?!
Kommt einem so vor, aber dann überrascht mich dieser Comic doch alle paar Seiten mit unerwarteten Ereignissen, interessanten Figuren und schmissigen Dialogen.
Es beginnt mit dem Trauma der FBI-Agentin Sheila Curry: Ihr Partner Bernie Watson ist von Neonazis gelyncht worden und beim Versuch, einen Verdächtigen zu verhaften, ist Curry in eine Sprengfalle gelaufen, die sie verletzt und mögliche Beweise vernichtet hat.
Da sie überzeugt ist, der vermeintliche Philanthrop, Buchautor und angehende Senator Wynn Allen Morgan sei der Kopf einer arischen Verschwörung, sucht Curry einen Weg, um an ihn heranzukommen.
Also rekrutiert sie den beurlaubten Cop Richard Wright, der aus fehlgedeuteter Notwehr einen Jugendlichen erschossen hat und deswegen seines Lebens nicht mehr froh wird.


Achten Sie auf den geschliffenen Dialog, der den beiden Figuren jeweils eine starke Persönlichkeit zugesteht. Das ist hochpräzise, effiziente Charakterisierung.
Richard hat gemischte Eltern und geht als Weißer durch, deshalb vertraut ihm Sheila und deshalb könnte er sich bei Morgan in die Organisation schleusen.
Doch zunächst wird Richard von Jennifer, Morgans Tochter und rechter Hand, begutachtet. Die hegt Zweifel an seiner Geschichte vom traurigen Ex-Junkie, der nicht weiß, wo er hingehört.
Bei einem Treffen in Morgans Villa wimmelt es tatsächlich vor „White Supremacists“, angeführt durch den Neonazi Sheldon Toole und den Schläger Billy. Richard muss sich beweisen und kann Billy auf die Matte schicken, allerdings zum Verdruss von Jennifer:



Als Richard sich mit Billy aussöhnen soll, kommt es zu unerwarteten Komplikationen: In einer ungeplanten Schießerei tötet Richard wieder jemanden und Billy wird verletzt.
Jennifer schickt einen „Aufräumer“ zur Szene, der radikal zur Sache geht. Auch Billy verliert sein Leben und über seiner Leiche wird ein kompromittierendes Foto gemacht, das Richard zum Schuldigen stempelt. Nun haben Jennifer und ihr Vater Richard in der Hand.
Doch zunächst sorgt Sheldons Nazitruppe für Ärger und bedroht die Morgans. Richard verliert die Fassung und bedrängt Jennifer, ihm Morgans Pläne für ein weißes Amerika zu verraten:


Richard läuft mit dieser Strategie vor die Wand, denn Jennifer hat ihre eigenen Pläne – wie überhaupt in diesem Comic sich keine Figur so verhält, wie ich es mir ausgemalt hätte.
Expect the Unexpected
Um wieder näher an Morgan heranzukommen, erledigt Richard die Drecksarbeit in Sachen Toole für ihn. Zur Belohnung erhält er eine Predigt über den gottgewollten Führungsanspruch der Weißen und soll ihm helfen, seinen Wahlkampf als Senator zu unterstützen.


Zeitgleich drängt Agent Curry auf Resultate und erhöht den Druck auf ihren Undercover-Mann.
Richard lässt in der Tat nicht locker, selbst dann nicht, als ihm dämmert, dass seine Tarnung aufgeflogen sein könnte.
Und als sich Jennifer und Richard endlich näherkommen, darf man sich bald fragen, wer hier von wem profitiert und ob diese Nähe Sicherheit garantieren wird.

Ausgespart in meiner Beschreibung habe ich weitere, vertiefende Aspekte, die der Comic bietet: Jennifers Beziehung zu ihrem Vater wie auch zu ihrer Tochter; die Begegnung mit Jennifers Jugendfreund Frank sowie Currys Kompetenzrangeleien mit FBI-Vorgesetzten und –Kollegen.
Das alles steckt noch in diesem Werk, dessen Autor ich bislang nicht genannt habe: Bryan Hill heißt der Mann, der offenbar derzeit für Marvel an BLADE und BLACK PANTHER schreibt.
Schemenhafte Strategien
Das Artwork kommt vom argentinischen Zeichner Leandro Fernández, der visuell reduziert in Richtung Mike Mignola/ Eduardo Risso operiert, gerne auch mit Schwarzflächen, Silhouetten und Verschattungen sowie angeschnittenen Perspektiven.
Dieser Stil erzeugt einen Effekt des Unwägbaren, auch Geheimnisvollen, der die passende Atmosphäre der Paranoia erzeugt.
(Ich möchte bei der Gelegenheit auf ein anderes interessantes Fernández-Werk hinweisen: THE OLD GUARD, auf Deutsch bei Splitter.)
AMERICAN CARNAGE ist ein exzellenter Krimi mit originellen Figuren und Situationen, wie man sie noch nicht gesehen hat – noch dazu mit zwei schockierenden Twists in Folge zum Finale.

Das Werk ist bereits 2019 bei DC Vertigo erschienen, fand seltsamerweise keine ausländischen Lizenzen, ist jedoch auf einschlägigen Webseiten noch zu bestellen – und im Übrigen ein echtes Double Feature zum hier kürzlich vorgestellten THE HOLY ROLLER.
Der im August präsentierte Comic weist verblüffende Parallelen auf, so etwa den reichen weißen Mann, der die Macht an sich reißen will sowie seine kesse Tochter, die ihn noch übertreffen möchte.
AMERICAN CARNAGE begreift sich jedoch als die realistische Schilderung US-amerikanischer Missstände, HOLY ROLLER serviert uns dasselbe Thema in deutlich satirischer Verzerrung.
Sie bekommen den Comic von satten 220 Seiten (nicht verwechseln mit einem gleichnamigen Horrorfilm) im handlichen Tradepaperback teils unter 20 Euro, z. B. online bei einigen deutschen Comicläden.
Jetzt werde ich mal so explizit, Namen zu nennen: Andi’s Comicexpress, Bonner Comicladen, Medimops, Terminal Entertainment T3, Ultra Comix …
Generell Obacht bei Netzbestellungen: Sicherstellen, dass man das Paperback von mehreren Heften ordert und nicht versehentlich ein Einzelheft (die Nummer 1 hat meist dasselbe Cover!).
Wer Interesse hat, schaut mit mir noch hinein – per Reel auf Instagram.