Als die Männer noch Fuchsschwänze hatten: 70 Jahre THE WILD ONE

Per Zufall fiel mir dieser Jubiläumsfilm in die Hände, den ich auch nur aus Verlegenheit anschaute. Aber dieses „Gucken ohne jede Erwartung“ ist oft das schönste. So auch hier. Die positive Überraschung motivierte mich zu ein paar schnellen Zeilen.

THE WILD ONE ist (aufgepasst) tatsächlich die „Mutter aller Biker-Filme“, für sein Erscheinen im Jahre 1953 wirklich wild zu nennen. Ich finde ihn selbst heute erstaunlich unterhaltsam, ausgestattet mit einer Menge memorabler Szenen und meiner Meinung nach besser als prätentiöser Rotz wie EASY RIDER.

Ich möchte an drei Überschriften exemplifizieren, was für mich die Faszination an diesem Werk ist.

Überschrift 1: Männer!

Biker-Filme handeln von Hippies, Rockern und Motorradgangs. Freigeister, die das Gesetz und die Konventionen der Gesellschaft nur am Rande tolerieren und lieber ihre Unabhängigkeit auf der Straße suchen. 

Und dann zeigt uns THE WILD ONE eine Bande von Rockern unter dem Kommando von Johnny (Marlon Brando), die sich wie ein Sack voll Flöhe verhält: mehr partysüchtige Halbstarke als harte Kerle. Diese seltsamen Vögel wollen nur am Wochenende einen draufmachen und tun das in einem motorisierten Betriebsausflug.

Wo sie auftauchen, stiften sie Unfug. Sie machen Musik, sie machen Quatsch, sie betrinken sich und schnappen sich Frauen, um mit ihnen zu tanzen. Diese Gruppe in ihren Einheitskostümen ließe sich problemlos in den Kölner Karneval integrieren.

Denn Johnny und seine Mannen tragen ein „Kostüm“, keine Kutten, mehr eine Uniform: Stiefel, Jeans und eine schwarze Lederjacke mit dem Aufdruck „BRMC“. Sie sind der „Black Rebels Motorcycle Club“ und rebellieren gegen die Langeweile, die sie zu „Spießern“ wie alle anderen zu machen droht.

Der berühmteste Dialog des Films lautet:

Hey Johnny, what are you rebelling against?
Whadda you got?

Das ist zugleich Programm wie auch dessen Entlarvung: Diese Typen (ich mag sie nicht Männer nennen) sind zwar unberechenbar und flexibel und brechen jede Regel. Doch diese Einstellung muss sich früher oder später erschöpfen. Nur die Pose zählt, und die kann anstrengend sein.
Siehe Johnny, der schweigsame Leader, wie er mit der Kleinstadt-Schranze Mary zu flirten versucht. Nicht nur ein „odd couple“, sondern auch ein grotesker Versuch, wieder in die die Gesellschaft einzubrechen. In anderen Szenen zeigt er nämlich der Rockerbraut Britches die kalte Schulter.

Diese Typen/Männer verhalten sich alle eigenartig und verdienen unseren Applaus für ihre Rollen-Fluidität! Das sind keine Machos, das sind aufgedrehte Kinder auf Exkursion im Menschenzoo. Sie probieren sich aus und kennen keine Konventionen.

In der Kleinstadt Wrightsville installieren sie weniger ein Terror-Regime als eine burleske Zirkusshow. Die Augen werden Ihnen übergehen, wenn die Konkurrenzgang unter Führung von Lee Marvin eintrifft. Diese Vögel in ihren schrägen, selbstdesignten Outfits (keine Uniformen mehr!) sind endgültig ein Diesel-Käfig voller Narren (und Marvin spielt die wortwörtlich tollste Rolle seines Lebens)!

Die Normalo-Typen sind die eigentlichen Machos in dieser Sozialparabel, exemplifiziert an der Figuren des alten Herrn, dessen Wagen von den Rockern bedrängt wird und des Mr. Thomas. Dieser rechtschaffene Bürger fühlt sich durch die „Fremden“ belästigt und will sie aus der Stadt haben.

Er redet auf den scheuen Kleinstadt-Sheriff Chief Bleeker ein, doch endlich mit harter Hand gegen diese Wilden vorzugehen. Der aber setzt auf Kommunikation und Verständnis für das partywillige Jungvolk. Lasst sie ihr Bierchen zischen, ihre Faxen machen, dann ziehen sie schon weiter. Doch Thomas und andere Spießer haben keine Geduld, formieren eine Bürgerwehr ein und machen Jagd auf Johnny.

Marlon Brando fühlt sich meines Erachtens für einen Rocker fehlbesetzt an, aber dieser immer irgendwie teigige Schauspieler ist eine dieser Persönlichkeiten, die keine Rolle brauchen, weil sie durch ihr Charisma Wirkung entfalten.

Überschrift 2: Maschinen!

Ich persönlich verstehe nichts von Motorrädern und habe auch nie eines gefahren, aber im Film kommen etliche authentische Oldtimer vor, die durchaus ihren Schauwert haben. Auch der Krach, den diese Maschinen machen, ist beeindruckend und schafft automatisch eine Atmosphäre der Beunruhigung.

In mehreren Szenen delektiert sich die Kamera an den daherbrausenden Formationen der dunkel gefärbten Motorräder, die (besetzt mit ihren uniformierten Fahrern) wirken wie eine Kavallerie des Teufels!
Die gewählten Bildwinkel betonen natürlich die Bedrohlichkeit; in diesen Fortbewegungsmitteln finden die Pferde des Wilden Westens ihre stählerne Modernisierung.

Sie finden den ganzen Film in bester Qualität auf YouTube – und er ist kaum 80 Minuten lang.

Schauen Sie mal ab Minute 9, wo die Gang ins Städtchen einfährt und damit auch das Genre des Westerns evoziert.

Eine Motorradgang ist ein Schwarm von Outlaws, der augenblicklich nicht nur die vormals herrschende Ruhe zerstört, sondern auch die bisher gültige Ordnung auf den Kopf stellt.

THE WILD ONE ist kein wirklich guter Film. Nach einer interessanten ersten Hälfte fällt er in sich zusammen und bedient die Elemente nicht mehr, die er zuvor aufgebaut hat.
Der scheue Kleinstadt-Sheriff (zugleich Marys Vater) gerät aus dem Fokus, der Konflikt mit der anderen Band ist offenbar still beigelegt worden (diese Konkurrenzgang um Lee Marvin ist aus dem Film verschwunden) – wie überhaupt alle Rocker sich plötzlich in Luft aufgelöst haben.

Der Film kreist nun einzig um die Figuren von Johnny und Mary. Er fühlt sich irgendwie zu ihr hingezogen, sie zu ihm. Eine Motorradfahrt durch die Nacht endet im Kuddelmuddel der Gefühle und mit Johnnys Gefangennahme durch die Bürgerwehr von Wrightsville. Das Finale kulminiert in einem absurden Motorradunfall, für den Johnny verantwortlich gemacht werden soll.

Der Schluss endet jedoch auf einer versöhnlichen Note: Die Ordnung ist wiederhergestellt, die Rocker ergeben sich lammfromm dem Gesetz, die braven Bürger haben Johnny in gewisser Weise den Kopf gewaschen. Ist „der Wilde“ jetzt ein wenig milde geworden?

Überschrift 3: Krisenexperimente!

Was mir an diesem Film gefällt, ist seine Sichtbarmachung der kommunikativen Krise. Es mag Ihnen nicht bewusst sein, aber unsere Gesellschaft und Umgangssitten sind eisern korsettiert in ungeschriebenen Verhaltensweisen. Jeden Tag da draußen befolgen wir strengste Richtlinien, ohne darüber nachzudenken. Wir alle sind Marionetten der Gewöhnung. Glauben Sie nicht?

Dann gehen Sie doch mal über die Straße und führen dabei ein lautes Selbstgespräch. Wie reagieren Ihre Mitmenschen?
(Gut, das war in analogen Zeiten deutlich verstörender; heute nehmen wir an, dass die betreffende Person einen Knopf im Ohr hat und per Bluetooth ein Telefonat führt.)

Aber gehen Sie doch mal beim Bäcker in den Laden und stellen sich rückwärts zur Theke auf. Überqueren Sie im Krebsgang den Zebrastreifen. Hüpfen Sie ein paar Schritte durch den Supermarkt. Markieren Sie danach Ihren Heimweg mit einer Spur aus Erbsen. Rülpsen Sie vernehmlich in der Straßenbahn. Singen Sie auf dem Bahngleis.
Sie werden augenblicklich für verrückt gehalten und ängstlich beobachtet werden.

THE WILD ONE ist ein Krisenexperiment. Eine Gruppe von Leuten verhält sich nicht, wie sie soll. Das sorgt sofort für Stress und Alarm bei all denen, die darauf nicht eingehen können. Man könnte sich auf diesen Rummel einlassen, ein bisschen mitspielen, die Grenzen der Konventionen ausloten und dabei Entdeckungen machen.
Aber (W)Rightsville (sic!) ist einfach nur fassungslos und erstarrt. Diese Hilflosigkeit muss mit dem Einschreiten der Ordnungsmacht (als Hüterin der gesellschaftlichen Norm) aufgebrochen werden. Diese Menschen wollen nur normal sein!
No fun, please, we’re squares.

Johnny und Mary klopfen sich gegenseitig darauf ab, ob sie kompatibel sind. Wer macht welchen Schritt in welche Richtung? Zwei Kleinstadtkönigskinder, die nicht zusammenkommen können. Das Wasser zwischen ihnen ist zu tief, oder sagen wir lieber: der US-amerikanische Gesellschaftskomplex zu rigide.

Ratlosigkeit im Film (oben), Entschlossenheit im Comic (unten)

Comic? Was für ein Comic?

THE WILD ONE ist 70 Jahre alt und damit alt genug, schon 1954 von MAD veralbert worden zu sein! Die Parodie unter dem Titel WILD ½ war seinerzeit die vierte Spielfilmpersiflage der Redaktion (nach den Western „High Noon“ und „Shane“ sowie dem Militärdrama „Verdammt in alle Ewigkeit“).

Auch dieser Comic ist keine gute Parodie, denn er stützt sich lediglich auf eine Handvoll Szenen, ohne die Handlung schlüssig wiederzugeben. Bezeichnenderweise pickt Zeichner Wally Wood solche Bilder heraus, die beweisen, wie memorabel und markant Benedek/Mohr inszeniert haben.

Das ist die Auftaktsequenz mit den aus der Ferne heranrollenden und dann an der Kamera vorbeibrausenden Motorrädern, gefolgt vom Porträtschuss des Anführers Johnny, flankiert von zwei „Jüngern“.

Weiter finden sich die „Ich mag keine Bullen“-Schlüsselszene, das Erspähen der hübschen Mary und der gescheiterte Flirt im Café – hier überhöht durch das kühle Verschmähen, weil Johnny kein Geld zu bieten hat.


Nicht fehlen darf zum Finale das Anrücken des Polizeiaufgebots und Johnnys Läuterung, interessanterweise gestaltet als Regression in die Kindheit!

Regie beim Film führte übrigens ein gewisser Laslo Benedek (auf den Sie nicht gekommen wären), ein vergessener Exilregisseur, der sich außer THE WILD ONE und einer frühen Verfilmung von DEATH OF A SALESMAN nur sporadische Fernseharbeiten auf die Fahne schreiben kann.

Dieser Benedek allerdings macht seine Sache äußerst gut, nicht unbedingt in Sachen Schauspielführung (da agiert der Cast oft wie besseres Laientheater), aber Timing, Inszenierung und Bildauswahl sind beachtlich und mehr als kompetent.
(Mag sein, dass das Lob auch dem Kameraveteranen Hal Mohr gebührt, der hier nach Klassikern wie „The Jazz Singer“ und „Destry Rides Again“ ein Spätwerk abliefert.)

Sie sehen, es gibt viele gute Gründe, in diesen Film mal reinzuschauen: schöne Schwarzweiß-Fotografie; ein blutjung wirkender Marlon Brando (der aber schon 29 Jahre alt war und seine eigene Maschine fuhr, eine Triumph Thunderbird 6T); ein freakiger Lee Marvin (der übrigens ein paar Wochen jünger als Brando ist, aber nie jung gewirkt hat); sowie ein krasses Spektrum an kaputten Typen und öligen Feuerstühlen (beziehungsweise umgekehrt).

Tanken Sie Ihr Internet auf und knattern Sie los!