Alle Neune gegen Nazis: THE HOLY ROLLER

Wat? Schauspieler schreiben Comics? Muss das sein?

Übrigens im Genre der Supermenschen alles andere als nur eine Ausnahme: Einige Darsteller aus DC- und Marvel-Verfilmungen haben an den Comicadaptionen ihrer Figuren mitgeschrieben.
Und in dieser Listung finden Sie noch prominentere Namen, darunter Rashida Jones, Rosario Dawson, Mark Hamill, William Shatner und Samuel L. Jackson.

Aber kommen wir auf das aktuellste und prominenteste Beispiel zu sprechen. Keanu Reeves und BRZRKR, eine Kriegerserie, die er seit vier Jahren auf den Markt wirft.
Angeblich ist dieser Comic einer der größten Verkaufserfolge, jedenfalls in den USA. In Deutschland hält CrossCult die Lizenz.
Die Popularität hängt offenbar sehr an der Person von Reeves, der der Hauptfigur auch seinen Look leiht und von der Action her auch an seine beliebte „John Wick“-Filmreihe anknüpft.
Zudem holt sich Reeves Unterstützung vom erfahrenen Autor Matt Kindt. Warum also dieses Modell der Kooperation nicht nachbauen?!

Bei Image Comics erschien im Frühjahr die abgeschlossene Miniserie THE HOLY ROLLER, wo der Komiker Andy Samberg (bekannt aus der famosen Sitcom „Brooklyn Nine-Nine“) mit Starautor Rick Remender kooperiert.
Ihr Konzept: eine Superhelden-Parodie mit ernstem Anspruch.

Hauptfigur Levi Coen ist ein jüdischer Amerikaner, der in Ohio in einer bowlingbegeisterten Familie aufwächst, dann jedoch seiner Heimat den Rücken kehrt und sich als Aussteiger auf den Sieben Meeren herumtreibt (und als fauler Sympathisant auf „Greenpeace“-Schiffen den Schnorrer spielt).

Die Nachricht, dass sein Vater David tödlich erkrankt ist, lässt ihn zurückkehren. Schnell bemerkt Levi, dass sein Heimatstädtchen zur antisemitischen Redneck-Hochburg runtergekommen ist.

© für alle Abbildungen: Samberg, Remender, Boschi / Giant Generator, Image Comics

Diese Sequenz macht schon alles klar und wir notieren, dass auch Samberg seinem Levi etwas von seiner Physiognomie mitgibt.

Der Vater hat zwar Krebs, ist aber gut drauf und erstaunlich agil. Erst mal liest er seinem Sohn die Leviten: Er ist enttäuscht, dass er kein Profi-Bowler geworden ist und warnt ihn vor den aktuellen Entwicklungen in der Stadt.

Investoren kaufen Immobilien auf, vertreiben die Bewohner und schüren Hass auf Drogensüchtige, Minderheiten und inzwischen auch auf alle Menschen mit jüdischen Wurzeln.

Wie es das Skript will, gerät Levi sofort in eine Schlägerei mit Clyde Henry, dem „Bully“ aus Schulzeiten, der den jüdischen Jungen schon immer schikaniert hat.

Nun aber wehrt sich Levi, und zwar mit der Bowlingkugel, die er gerade bei sich trägt. Er vertreibt Clyde und verletzt drei seiner Kumpels schwer.

Die aber formieren sich neu und dringen nachts in Davids Haus ein. Levi attackiert sie erneut mit der Bowlingkugel als Waffe, diesmal zusätzlich mit einem Eishockey-Outfit geschützt.

Als die Polizei anrückt, nimmt diese nicht die Angreifer, sondern Levi ins Visier:

Let’s go bowling!

Sie ahnen vielleicht, was nun geschieht. Levi muss sich verstecken und beginnt ein „Batman“-Leben als nächtlicher Crimefighter.

Er findet Unterschlupf bei seinem Jugendfreund Jamal, der für ihn die Rolle des Lucius Fox übernimmt und ihm eine Rüstung schmiedet sowie jede Menge Bowling-Gimmicks (darunter explodierende Kugeln, Stachelkugeln, Blendkugeln etc.).

Sein Widersacher ist Boss Henry, Clydes Vater und heimlicher Herrscher über die Stadt, der einen perfiden Plan zur Unterwerfung der Bevölkerung verfolgt.

Mit einer Smartphone-App möchte man die Hirne vergiften und hat zu diesem Zweck (mit Hilfe von KI natürlich) einen Holo-Hitler entwickelt.
Der ist kein irrer Diktator mehr, sondern das freundliche Gesicht des Nationalsozialismus.

Davon haben wir in Deutschland schon gehört, im Comic sieht es so aus:

Diese Gesellschaft geht mit der Zeit, diese „New Neo-Nazi Party“ (die neuesten Nazis, sozusagen) präsentiert einen Hitler für alle – ob als Cowboy-Hitler, Hippie-Hitler oder Bikini-Hitler.

Ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann, oder? Levi, dem Holy Roller, schwirrt der Kopf. Im Finale des Comics muss er zum Bosskampf gegen Henry und seine technoiden Klone antreten.

Das ist der sachliche Handlungsbogen von THE HOLY ROLLER. Das ist die Bondschurken-Formel im Kleinformat, die müssen wir nicht ernst nehmen, das ist ja alles Quatsch.

Was das Werk auszeichnet, ist die Interaktion der Figuren, die einige Twists bereithält.
Da geht es nicht nur um Levi, der in seine Rolle als Rächer hineinwachsen muss, da geht es auch um Jamal, der ins Team drängt und mehr als nur Sidekick sein möchte.
Auch der Rüpel Clyde macht eine dramatische Wandlung durch – und dann ist da noch seine Schwester Amy.

Die war Levis Sandkastenliebe und ist die erste, die ihn vor ihrem machtbesessenen Vater warnt:

Die Serie gewinnt mein Herz, weil sie sich richtig Zeit für ihre Figuren nimmt.

Hier sehen wir David zu Besuch bei Jamal. Der lebt als Nerd in seiner Popkultur-Höhle und verstört den Senior nachhaltig mit seinem Lebensentwurf:

Kugeln werden Köpfe rollen lassen

Anhand der Bildbeispiele ist Ihnen sicher schon der sarkastische Humor aufgefallen, der den Comic durchzieht. Dazu darf ich Samberg und Remender gratulieren, denn er serviert die „Fight Antisemitism“-Message mit souveräner Haltung.

Das Artwork kommt von Roland Boschi, einem Franzosen, der für den amerikanischen Markt arbeitet. Das ist gewissermaßen der übliche Image-Housestyle (realistisch, glatt, gefällig), dennoch neigen seine Körper und Gesichter durch kleine Verzerrungen zum Karikaturhaften.

Das gefällt mir gut und  es passt auf die Atmosphäre der Serie.

Hier ein Protest von Jamal, der nicht der selbstlose Erfüllungsgehilfe des Helden sein will.

THE HOLY ROLLER nimmt sich auch volle neun Hefte lang Zeit, seine Story auszubreiten (nicht die üblichen vier oder sechs). Das englische Tradepaperback ist im März 2025 erschienen, ich habe leider keine Ahnung, ob eine deutsche Lizenz in Sicht ist.

Assoziation am Rande: Das provinzielle Setting, der raue Umgang und die patriarchalischen Strukturen erinnern an den wüsten Südstaatencomic SOUTHERN BASTARDS, der leider nie zu Ende geführt wurde.

THE HOLY ROLLER kommt städtischer und verständlicher daher und ist Superheldenstoff und Entwicklungsroman in einem: Der verlorene Sohn kehrt heim, stellt sich der Vergangenheit, formt eine neue Persönlichkeit aus und übernimmt Verantwortung.

Natürlich mit „more than just a little bit of help from his friends“. Jamal greift schließlich aktiv ins Geschehen ein und sticht den Holy Roller locker mit seiner Superrüstung aus!

Autor Remender hat bereits zuvor in seinen eigenen Serien FEAR AGENT und THE SCUMBAG erfolgreich mit satirischen Aspekten hantiert (sonst können seine Werke äußert düster und deprimierend sein!), in THE HOLY ROLLER befeuert ihn der Input von Komiker Samberg zu einer weiteren humoristischen Glanzleistung.

Doch kein Vertun, bitte: Es hagelt deftige Szenen der Gewalt und des Verrats, diese Serie ist nichts für die so genannten „zarten Gemüter“.
Aber Remender und Samberg wollen damit auch wachrütteln, die aktuelle Bedrohung der US-amerikanischen Gesellschaft durch reaktionäre Kräfte ist ihnen ein Graus.

Warum gibt es solche Comics nicht über Deutschland und die AfD?!

Sie können ja schon mal dieses leuchtende Vorbild studieren, ich habe dazu noch ein Reel auf Instagram rollen lassen.