Was vom Kriege übrig blieb: AALE UND GESPENSTER

Ferien an der Ostsee – und dann stößt man überall auf Leichenteile?!
Das ist nicht der Plot für einen Splatterfilm, sondern deutsche Realität.

Bei Neustadt in Holstein ereignet sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs eine Tragödie, als alliierte Bomber zwei Schiffe vor der Küste versenken und Tausende Passagiere ums Leben kommen.
Noch Jahrzehnte später finden sich in der Bucht verstreute Knochen und menschliche Überreste, die damals nur hastig verscharrt wurden.

© für alle Abbildungen: Marius Schmidt / avant-verlag

Sie sahen den Campingplatzbetreiber Casimir, der wieder mal die Polizei rufen musste.
Diese Episode aus dem Jahr 1987 dient dem Comicdebütanten Marius Schmidt als Ausgangspunkt für großzügige Rückblenden in die Monate nach dem erwähnten Unglück.

Zahlreiche Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten treffen in Holstein aufeinander und versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen.
Darunter Casimir, der Fischfang betreibt, und der entflohene polnische Zwangsarbeiter Rimsky, der bei den britischen Befreiern als „Displaced Person“ Schutz genießt.

Rimsky jedoch hat es faustdick hinter den Ohren und schlägt Casimir ein einträglicheres Geschäft als Fischfang vor: Gemeinsam plündern sie die Wracks und verhökern Wertgegenstände und Nazi-Devotionalien an eine (ausgerechnet polnische) Hehlerin.

Zwischen Casimir und Rimsky entwickelt sich eine Männerfreundschaft, die den zweiten Nachkriegssommer an der Ostsee so idyllisch wie einen „Raffaello“-Werbespot aussehen lässt.

Nein, ich übertreibe. Aber Autor Schmidt rückt die Schrecken des Krieges in weite Ferne. Lieber schildert er uns Picknickfreuden am Strand, auch wenn diese dadurch getrübt werden, dass der Inhalt des Picknickkorbs anderen Flüchtlingen gestohlen wurde.

Wir sehen Casimir, Rimsky, Kumpel Horst und die Damen Anna und Margot.

Zwischen Rimsky und Anna kracht es tüchtig, denn der Pole bezichtigt sie, eine ewiggestrige Faschistin zu sein – und sie (tatsächlich Tochter des NSDAP-Ortsgruppenleiters) droht ihm mit Ärger, wenn die Deutschen wieder das Sagen haben.

Aale und Kritiker

Ich bin verblüfft, wie luftig und leicht Schmidt erzählt.
AALE UND GESPENSTER ist ein Reigen unaufgeregter Szenen, auch wenn der Inhalt derselben dramatisch sein kann.

Etwa der kurze Vorsetzer, der sich erst spät im Buch mit der Handlung verknüpft. Er dient Schmidt als atmosphärischer Aufmacher: Zwei altgediente Nazis wollen sich vor den anrückenden Briten verstecken, ein dritter staucht sie zusammen und befiehlt ihnen, weiter ihre schmutzige Pflicht zu tun.

Könnte eine krasse Konfrontation sein, doch die Lethargie der beiden Resignierten erlaubt keine Eskalation – und vor allem nicht Schmidts fluider Strich und seine hingetupfte Aquarellierung.

Diese Art der Illustration ist minimalistich (teils expressionistisch) und übrigens anatomisch nie korrekt. Auch wenn ich nicht immer sofort begreife, was ich da vor mir sehe, schlägt mich Schmidt in seinen Zeichenbann.

Sein Erzählrhythmus mit wechselnder Bilderanzahl pro Seite taktet wunderbar, zumal der Künstler auf sperrige Textbrocken zu verzichten weiß.
Es spült mich mit guter Laune (dank freundlicher Farben) durch diese Nachkriegsgeschichte, die sich zwar langsam, aber logisch entfaltet.

Britische Soldaten nehmen Rimsky in die Zange: Als sie erfahren, dass er „Displaced Person“ aus dem Osten ist, schwenken sie auf Sarkasmus um.

Aale und Historiker

Beachtlich ist, wie Schmidt uns sein ausgewähltes Kapitel der Zeitgeschichte näherbringt. Das Schicksal der „Cap Arcona“ ist ein toller Aufhänger für eine Graphic Novel.

Die erschütternde Episode aus den letzten Kriegstagen ist dennoch nur fernes Echo, denn die Figuren in AALE UND GESPENSTER denken in Richtung Zukunft.

Bis auf Faschisten-Tochter Anna, die noch an einen unentdeckten Schatz im Wrack glaubt. Sie ist der metaphorische Anker in die Vergangenheit und somit der personifizierte Gegenpol, der für Fallhöhe und Reibung sorgt.

Und dann flicht Schmidt diese Miniatur in sein Werk: Annas Bruder Adolf, der Augapfel seines Vaters (und stolz nach dem „Führer“ benannt), sollte zum Volkssturm eingezogen werden. Doch der Vater versteckte ihn im Keller, damit ihm nichts geschehen konnte.

Doch das Schicksal wird ihn am Tag der Schiffsbombardierung mit den letzten Nazis konfrontieren (siehe meine Bemerkung zum Vorsetzer des Comics) und auf eine grausige Mission schicken, die den jungen Mann für immer aus der Bahn werfen wird.

Dieser Adolf kommt nur auf 8 von 230 Seiten vor, aber dieses biografische Blitzlicht dient als eindrückliches Symbol für die Entmenschlichung des NS-Regimes.

Diesen Exkurs hätte Schmidt nicht einbauen müssen, doch er verleiht seinem Werk den nötigen Ernst, der ansonsten in der entspannten Urlaubsatmosphäre untergegangen wäre.

Mit AALE UND GESPENSTER ist Marius Schmidt ein organischer Comic gelungen. Und damit meine ich das Zusammenspiel aus grafischer Vision und narrativem Fluss.
Originell im Setting, sparsam im Personal, geschmeidig in der Ausführung.

Zum Schluss noch Links zur Webseite des avant-Verlags und zu meinem Instagram-Reel.

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