Das wollte ich eigentlich auslassen, aber dann machte mir der Verlag ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte: die Einladung zu einem Pressegespräch mit Luz bei mir quasi um die Ecke!
Im noblen Museum Ludwig erlebte ich Ende April die Präsentation der kunsthistorischen Graphic Novel ZWEI WEIBLICHE HALBAKTE, frisch erschienen bei Reprodukt.
Durch die Literaturwissenschaftlerin Angela Spizig moderiert und gedolmetscht, offenbarte Luz die Motivation für seine Arbeit: Er habe sich für die Bilder der NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 interessiert und aus diesen Werken ein eher unscheinbares Gemälde gewählt.
Er habe sich das Werk „Zwei weibliche Halbakte“ von Otto Mueller ausgesucht, weil er sich dessen Strich verwandt fühle. In der Tat lassen sich bei beiden Künstlern kräftige Konturen und halbabstrakte Kompositionen finden.
Weiterhin habe ihn getriggert, dass die Exponate schief und teilweise zu tief gehängt wurden. Daraus schlägt Luz nun Funken, indem er sich in die Szenerie versetzt und die Historie lebendig werden lässt – wie auf folgenden beiden Seiten auch mit komischen Untertönen:


Biografie eines Bildes
Der Clou an ZWEI WEIBLICHE HALBAKTE besteht darin, dass wir beim Lesen die Perspektive des Bildes einnehmen!
Mit subjektiver Kamera blicken wir (als die beiden Frauen auf dem Gemälde) auf das Geschehen vor uns und erleben unsere Erschaffung, unsere Platzierung in Ateliers, Wohnungen und Museen und unsere Reise durch Deutschland im Laufe der Jahrzehnte.
Um das zu erklären, benötigen wir noch ein paar Beispiele.
In dieser Sequenz begleiten wir den ersten Käufer des Werks, den Kunstsammler Ismar Littmann, auf seinem Weg nach Hause. Er trägt das verschnürte Bild durch die Straßen, begrüßt seinen Nachbarn und zeigt seine Erwerbung stolz daheim seiner Familie:


Das Gemälde an sich bekommen wir nie zu sehen, aber als das Gemälde begegnen wir allen Personen, die damit zu tun haben.
Dem Kunstmaler Otto Mueller, der als Bohemien mehr schlecht als recht über die Runden kommt. Seiner Frau und Muse Maschka Meyerhofer, die seine Launen ertragen muss und ihn verlässt.
Dem kundigen Sammler Littmann, der von weiteren Sammlern zum Verkauf gedrängt wird. Littmann übrigens wird frühes Opfer nationalsozialistischer Säuberungen, wird mit Berufsverbot belegt und nimmt sich 1934 das Leben.
Betrachten Sie eine nächste Seite und schauen Sie, wie clever und filigran Luz die Nachricht vom Tode Otto Muellers mit Littmanns Alltag verwebt.

Nicht nur, dass Littmann Mueller Respekt zollt (indem er sich in dessen Bild versenkt), sondern im Hintergrund sehen wir Schupos Bettler drangsalieren und Nachbar Klein beobachtet ein vorbeiziehendes Nazi-Aufgebot.
Wenige Seiten später ist Hitler zum Reichskanzler gewählt und der Händler Klein nicht mehr im Bild zu sehen. Sein Geschäft steht zum Verkauf, er selber ist von einem Schlägertrupp misshandelt worden.
Es beginnt Deutschlands „lange Nacht“ und Luz illustriert passend dazu Littmanns leere, dunkle Wohnung, vor deren Fenster die neuen Machthaber defilieren, die im Kommenden bestimmen wollen, was Kunst ist und wie Kunst zu sein hat.

Das Bild sieht was, was du nicht siehst
Die „Halbakte“ geraten in Abstellräume und Depots und werden schließlich vom Nazi-Kunstrichter Adolf Ziegler (Präsident der Reichskammer der bildenden Künste) beurteilt.
Der ist Organisator der Ausstellung „Entartete Kunst“ und entdeckt Muellers „Zwei weibliche Halbakte“ in einem Depot. Ihm zur Seite stellt Luz den Propagandisten Wolfgang Willrich, der mit Schaum vor dem Mund sagen darf: „Widerlich, wie wunderbar“ (sinngemäß):


Ich hätte es vorab nicht für möglich gehalten, dass ein Comic aus subjektiver Kamera und mit einer passiven und stummen Hauptfigur auf 190 Seiten so flüssig funktioniert.
Hier beweist sich die Kunstfertigkeit von Luz, der sein Werk nicht nur unterhaltsam und griffig geskriptet hat, sondern es auch grafisch interessant macht – indem er tüchtig karikiert und das Zeitgeschehen salopp einfängt.
Luz hat die realen Figuren akribisch recherchiert, erlaubt sich hingegen einen legeren Umgang mit ihnen und verleiht ihnen glaubhaft Stimme.
Dazu bringt er Kontrast und Fallhöhe ins Spiel, etwa in dieser Sequenz, in der ein Lederhosen-Bub wie verloren in der berüchtigten Ausstellung steht – und das tut, was ein Kind instinktiv tut: Er korrigiert die entartete Hängung!


Dem strahlenden Jungen widmet Luz eine volle Seite, was im ganzen Buch nur ein anderes Mal vorkommt. Ich interpretiere, dass die Jugend noch frei von Ideologien ist und eine ungetrübten Blick auf die Welt hat.
Das Bild hängt schief
Ich will im Weiteren nicht die übrigen Stationen des Gemäldes aufzählen (wir springen von der Nachkriegszeit bis in unsere Gegenwart und ins Museum Ludwig, wo das Werk bekanntlich hängt) – sondern möchte lieber etwas darüber meditieren, was ich in dieser Graphic Novel noch sehe.

Ich bin ja „Mister Meta-Ebene“, unternehme gern analytische Exkurse und behaupte:
Auf einer übergeordneten Perspektive geht es in diesem Comic auch um die Fragen „Was ist Kunst?“ und „Wer bestimmt, was Kunst ist?“.
Das beginnt schon beim Titelbild, auf welchem Nazi-Finsterlinge in schwarzen Mänteln Kunst begutachten.
Das setzt sich fort in den Bewertungen diverser Sammler und Galeristen, durch deren Hände unser Bild wandert.
Schließlich präsentierte das NS-Regime seine Auswahl von Werken „jüdischer Verfallskünstler“ und „kulturzersetzerischen Ausgeburten des Wahnsinns“, die natürlich vollkommen willkürlich war (und durchaus nicht von allen geteilt wurde).
So gönnt uns Luz eine wundervolle Szene, die diese Ausstellung in anderem Licht sieht:

Kunst ist subjektiv, ihre Indienststellung für eine Ideologie ein fragwürdiges Unterfangen. Zeiten ändern sich, Moden kommen und gehen, Diktaturen stürzen. Das alles packt Luz in seine Graphic Novel.
Der Künstler offenbarte im Pressegespräch eine esoterische Einstellung zu Gemälden in Museen, als er sagte: „Vor einem Bild ist man nie allein, weil schon so viele andere Menschen davor gestanden haben.“
Das kann ich jetzt so nicht teilen, aber natürlich hat Kunst eine tröstliche Funktion, eine einigende und verbindende Eigenschaft.
Wer wüsste das besser als wir Comicmenschen, die wir auf Vernissagen und Festivals zusammenkommen, um unserer gemeinsamen Vorliebe zu huldigen?!
„Die Kunst für sich sprechen lassen“
ZWEI WEIBLICHE HALBAKTE ist einer dieser mustergültigen Graphic Novels, die jedes Publikum ansprechen: Hochkulturmenschen staunen, was man mit Comics alles vermitteln kann – und wir Comicfans freuen uns, dass ein Könner wie Luz ein sperriges Thema in berührende Bilder verwandeln kann.
Comichistorische Randbemerkung: Ungewöhnlicher als die subjektive Kamera scheint mir die passive Hauptfigur (das Bild) zu sein, für die mir kein weiteres Beispiel einfällt.
Präzedenz- und Vergleichsfälle für ersteres sind Sonntagsseiten bei Winsor McCay, frühe Horror-Kurzgeschichten, Richard McGuires HIER oder die Gott-Perspektive in Martin Panchauds DIE FARBE DER DINGE.
Wer mag, schaut sich ein nettes YouTube-Reel an, in dem der Künstler persönlich seinen Comic auf 85 Sekunden vorstellt und dabei über sein Konzept spricht:
Zum Schluss noch die Erklärung, weshalb ich den Comic auslassen wollte. Ich hatte vor, einen anderen Comic von Luz zu präsentieren, nämlich die überdrehte Gesellschaftssatire TESTOTERROR vom Herbst 2023 (nicht auf Deutsch erschienen).
Die hätte ich als knalligen Gegenpol zum seriösen ZWEI WEIBLICHE HALBAKTE präsentiert. Mach ich trotzdem noch, als nächsten Beitrag meiner Rubrik „France BD“.

Anbei schon mal das Titelbild als Teaserbildchen …
Auf eine deutsche Version angesprochen, sagt mir Filip Kolek von Reprodukt, sie kommen bei Luz nicht hinterher mit den Veröffentlichungen.
Kaum haben sie sein Monsterwerk VERNON SUBUTEX übersetzt und herausgebracht, da hat er schon zwei neue Comics draußen.
Der Mann produziert zu schnell, ist einfach zu kreativ.
Für den deutschen Markt war der aktuelle Band dann geeigneter als TESTOTERROR …
Achso, wie meistens habe ich ein Reel auf Instagram erstellt, wobei es dabei Probleme gab. Ich kann meine Reels nicht mehr aus der App erstellen, sondern muss den Umweg über Videoupload vom Smartphone nehmen. Mediaterror. Seufz.