Das ist eine Premiere in der Neunten Kunst: ein Horrorcomic mit Rezepten zum Nachkochen!
Das allerdings wird schwierig, denn die Hauptfigur ist ein Kannibale, der gerne mal Menschenfleisch als Zutat benutzt.
Aber lassen wir ihn sich doch selber vorstellen: Hier steht Rubin Baksh vor einem Gemälde, das ihn selber zeigt. Das heißt, wie er in früheren Zeiten ausgesehen hat. Da war er nämlich noch der menschenfressende Dämon Bakasura …
Der Held Bheema brach ihm das Rückgrat (so wie Bane es dereinst mit Batman tun wird), und Bakasura akzeptierte die Niederlage und zog sich ins Privatleben zurück.
Nun nennt er sich Rubin Baksh, ist fett geworden und ist als Hobbykoch in der Provinz untergetaucht. Er bereitet Speisen für ein lokales Café zu und pflegt mit der Restaurantchefin Mansi ein freundschaftliches Verhältnis.
Er begreift sich als kreativer Gourmet und Dienstleister für seine Kundschaft, nur ab und zu verspeist er heimlich einen armen Teufel, um seine spezielle Gier nach Nahrung zu befriedigen.
Doch eines Tages erreicht ihn die Nachricht vom Tode Anthony Bourdains. Der war ein real existierender Promi-Koch und „Foodfluencer“.
Rubin ist schockiert und aufgerüttelt und fasst einen Entschluss. Er verlässt seine Schutzgemeinde, geht wieder hinaus in die Welt und möchte der Menschheit sein kulinarisches Vermächtnis hinterlassen.
Dazu sucht er sich den gescheiterten Filmemacher Mohan alias Mo und kauft diesen für viel Geld als Dokumentarist seiner Kochkünste ein. Der ziert sich erst, weil er sich für einen Versager hält, der die Erwartungen seiner Eltern enttäuscht hat.
Die obige Szene charakterisiert nochmals Rubin (das Scheusal) mit seiner perfiden Mischung aus Charme und Drängeligkeit. Denn nach dem Genuss des Tees ist Mo doch bereit, den Auftrag anzunehmen – der von Rubin zubereitete Masala Chai war einfach zu gut!
Das ist das Erzählmuster von RARE FLAVOURS: Wir begegnen Menschen, wir schauen ihnen beim Kochen über die Schulter, wir spüren die Befriedigung, die gute Küche uns gibt, wir diskutieren die bestmögliche Zubereitung von vermeintlich simplen Gerichten – und sei es „nur“ ein Tee.
Jetzt zeige ich zur Untermalung tatsächlich noch zwei Seiten aus dem ersten Kapitel (von sechs): Das Rezept für originalen Masala-Chai wird uns erklärt, parallel erzählt uns Rubin vom Schicksal des jungen Inders Satish, der nur mit diesem Rezept „bewaffnet“ in die Großstadt zog, um dort sein Glück zu machen.
Satish wird im Folgenden eine gut laufende Teebude eröffnen und reich genug werden, um eine Familie zu gründen.
Die Corona-Pandemie aber wird sein Geschäft ruinieren und ihn wieder auf die Straße zurückwerfen, wo er wieder von vorn beginnt.
Das also erzählt uns Rubin nebenher, Geschichten von Kochkunst in der Geschichte des Dämons, der einen Dokumentarfilm dreht. Weshalb? Weil Rubin (das Monster) Nahrung liebt und Menschen liebt – manchmal sogar zugleich.
Denn wenn Mo nicht hinschaut, überkommt Rubin die Gier nach seinem Lieblingsessen, da kann er sich nicht beherrschen.
Die Küche und das Biest
Rubin und Mo gehen auf Recherchereise durch Indien, um die originären Schauplätze und besten Zutaten vor Ort aufzuspüren. Hier kommen wir in der rotgefärbten Chili-Wüste von Rajastan an:
Das Land glüht vor Hitze, die Einheimischen trotzen dem Boden die schärfsten Chilischoten der Welt ab. Das bringt Rubin ins Schwärmen, das bannt Mo auf seinen Film.
Und nun treten zwei weitere Figuren auf den Plan: Dilshan und Dilshuk sind zwei Dämonenjäger, die hinter Rubin her sind und ihm das Lebenslicht ausblasen möchten.
Es ist unklar, wie lange die beiden dem Kannibalen schon auf den Fersen sind, aber sie führen Buch über seine Opfer und sind entschlossen, dem Ungeheuer das Handwerk zu legen.
Eigentlich braucht der Comic diese Figuren gar nicht! Sie haben im Fortlauf der Handlung wenig Effekt auf das Geschehen und im Grunde geht es nicht um diesen Exorzisten-Plot.
Am Ende werden sie auch nicht viel bewirkt haben – außer der Tatsache, Rubin und Mo einander näher gebracht zu haben.
Das ist zwar ein wenig gespoilert, aber ich werde über Kapitel 2 hinaus nicht weiter über RARE FLAVOURS reden.
Vertrauen Sie mir, wenn ich sage, der Comic läuft perfekt balanciert bis an sein Ende und bleibt sich im Konzept treu: ein Bericht über Leidenschaften, Erfüllung, Alltagsschicksale, die Flüchtigkeit des Dasein, den Genuss.
Dilshan und Dilshuk dienen lediglich dazu, dem Werk mehr Würze zu verleihen – wie es auch die Zutaten beim Kochen tun!
Die Kopfgeldjäger bringen etwas Action in die Chose, das präsentiere ich mit einer Sequenz, die einem verblüffenden Geständnis eine Konfrontation folgen lässt, die wiederum mit einem Küchentrick aufgelöst wird!
Schauen Sie auf drei Seiten: Rubin offenbart Mo, dass er ein Dämon ist, der aber glaubt ihm nicht und muss laut lachen (Seite 1).
Rubin merkt, dass seine Verfolger anwesend sind – und verwickelt sie in einen Plausch (Seite 2).
Rubin entkommt, indem er wie ein Erdgeist die Landschaft (oder besser die Produkte des Landes) gegen seine Gegner einsetzt.
Drei Seiten, die übrigens eine Menge Komik transportieren:
Rubins Selbstentblößung, die in Mos Gelächter verpufft.
Der humorlose „tough talk“ der Jäger, den Rubin mit Hinweise auf Termindruck kontert.
Das unförmige Davonhüpfen seines Körpers, das hier wie in einem Funny-Comic inszeniert wird.
Delikates Artwork
Und damit sind wir bei der Bilderkunst des portugiesischen Zeichners Filipe Andrade, von dem Sie nun schon einiges gesehen haben.
RARE FLAVOURS hält eine exquisite Schwebe zwischen Funny-Stil und Graphic Novel. Andrade macht sein Hauptpersonal zu Karikaturen (nicht die Nebenfiguren!), was jedem Ernst den Zahn zieht. (Und ohne Zähne kann man nicht essen.)
Sein Dämon ist ein kolossaler Dandy, sein Filmemacher ein spirreliger Hippie, seine Kopfgeldjäger sind ein Komikerduo aus dem kleinen Nervösen und dem hageren Priester.
Das bedient auf subtile Weise unterschwellige Muster, die uns Zuneigung zu diesen Typen fassen lassen. Und uns signalisiert: Dies ist eben kein gängiger Horrorcomic, sondern vielmehr eine Graphic Novel über die Flüchtigkeit des Daseins und die Befriedigung, die aus liebevoller Handarbeit erwächst. Ich gebe volle Punktzahl dafür, dass dieses Werk andere Wege geht und kein geläufiges Muster bedient.
Nochmal betont: Man muss RARE FLAVOURS eigentlich als Koch-Comic rubrizieren. Dieses Werk ist nicht auf Spannung ausgerichtet, sondern auf Menschen mit ihren besonderen Bedürfnissen, auch auf deren Hintergrundgeschichten.
Hier beispielsweise eine Rückblende in Mos Zusammenleben mit seiner krebserkrankten Mutter. Auch hier gibt das Kochen dieser Figur Rückhalt und Trost.
Ram V und Filipe Andrade sind übrigens dasselbe Team, das 2023 einen Erfolg mit THE MANY DEATHS OF LEILA STARR feierte.
Dieser, sogar auf Deutsch bei CrossCult veröffentlichte Comic wurde von der Kritik hochgelobt. Ich hab ihn auf Englisch gelesen und war dermaßen enttäuscht, dass ich nicht mal ein Reel dazu auf Instagram erstellt habe.
THE MANY DEATHS OF LEILA STARR ist ein Werk, das mich nicht für seine Hauptfigur interessieren konnte und mich vollkommen kalt gelassen hat.
Allerdings gefiel mir das Artwork von Andrade so gut, dass ich den beiden eine zweite Chance geben wollte. Und die habe ich nicht bereut.
RARE FLAVORS ist stringent und originell und stützt sich auf die Dynamik der zwei völlig unterschiedlichen Hauptfiguren.
Großartig auch, dass sich der indische Autor auf seine Wurzeln verlässt und uns eine Tour de force der einheimischen Cuisine präsentiert, die niemand sonst liefern konnte.
Bemerkenswert ist auch, dass das Werk aus der Perspektive von Rubin Baksh (dem Scheusal) spricht. Das macht uns die Figur nicht direkt sympathisch, aber wir lassen uns ein auf dessen Sichtweise.
Mit dem Kochen können wir uns identifizieren, mit dem Kannibalismus sicher nicht. Das inhärente Paradox macht den unverwechselbaren Geschmack von RARE FLAVORS aus.
Ist nicht „alles Leben auch Leiden“ (wie der Buddhismus sagt)?
Ist nicht „jeder Bissen auch Brot für den Zahnarzt“ (wie ich letzte Woche beim Abbruch eines Backenzahns feststellen musste)?
So, ehe der Quatsch-Tilli wieder überhandnimmt, beende ich diese Analyse mit der kochendheißen Empfehlung, RARE FLAVOURS zu probieren, wenn Sie Interesse an indischer Küche haben und einen plauderhaften, lichten, aber nicht seichten Comic genießen möchten.
Stecken Sie doch Ihre Nase in meinen Instagram-Topf und schauen Sie zu, wie ich in dem Werk herumrühre:
https://www.instagram.com/p/DFfp4x_s8YF
Leider haben nur wenige Menschen diesen Comic von Boom-Studios wahrgenommen. Eine davon ist die Medienwissenschaftlerin Nathalie Veith, die in einer Kurzkritik urteilt:
„Eine wunderbare Parabel über die Rolle von Gier und Genuss in der kapitalistischen Massen- und Konsumgesellschaft, über die Wertschätzung von Geschmack und die Anerkennung von Geschichten und Schicksalen, die mit Essen verbunden sind.
Für Mo wird die Geschichte zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Einstellung zum Essen und Filmemachen, während anhand von Rubin die Frage nach Menschlichkeit und Monstrosität verhandelt wird.“
Das zitiere ich noch als ergänzende Stimme.
Auf Deutsch ist der Comic nicht in Sicht und ich bezweifle, dass er hierzulande erscheinen wird. Er passt in keine Schublade, das Küchenthema ist zu abseitig.