Dies ist keine Tirade gegen Elektromärkte, sondern der Titel eines außergewöhnlichen US-amerikanischen Comicwerks, das wir heute als Graphic Novel bezeichnen würden. Sein Autor hat es seinerzeit einfach nur „book“ genannt.
1986 kreiert der gerade mal 26-jährige Kyle Baker diese Geschichte um zwei ungleiche Schwestern: Anne ist die hippe, aber neurotische New Yorkerin, die eine Glosse in einem Trendmagazin für Großstädter weniger schreibt als … vielmehr im Drogenrausch herunterpinnt.
Laura ist ihre durchgeknallte Schwester zu Besuch von der Westküste; sie trägt einen selbst entworfenen Raumanzug, nennt sich „Queen of the Leather-Astro-Girls of Saturn“ und möchte die Erde vor der ökologischen Katastrophe retten.
Dieses ungleiche Paar zieht kurzzeitig zusammen, streitet sich, trennt sich und ist am Schluss zusammen auf der Flucht vor Lauras gewalttätigem Exfreund Murphy, der über die Mittel verfügt, sie aufzuspüren.
WHY I HATE SATURN beginnt als ironische Abrechnung mit Großstadtmenschen, ihrer Attitüde, ihrem Lifestyle, wird dann zu einem Psychoduell der Schwestern (die sich zeitweise denselben Freund teilen) und mündet schließlich in ein chaotisches Road Movie. Baker schafft es nicht, den Band zufriedenstellend zu beenden.
Mit einer krassen Actionszene, die aus dem Nichts kommt, durchschlägt Baker den zu einem gordischen Knoten verklumpten Pseudo-Plot und gibt Anne ein kleines Nachspiel in New York. Nachdem er 160 Seiten lang mit originellen Einfällen jongliert hat, entgleiten ihm die Bälle und er verabschiedet sich hastig von der Bühne dieser Graphic Novel.
Zwei Dinge bewundere ich dennoch bis heute an WHY I HATE SATURN: Bakers Zeichnungen und Bakers Dialoge. Na gut, das ist so ziemlich alles, was einen Comic ausmacht … (wobei wir die Handlung schon ausgenommen haben, das wäre der dritte wichtige Bestandteil.)
Ich will meine Bewunderung mal aufdröseln, obwohl das Werk im Gesamten seine Schwächen hat. Dennoch halte ich es hoch, weil mir Baker seitdem ans Herz gewachsen ist, wenn auch auf zwiespältige Weise. (Wikipedia-Eintrag HIER.)
Auch das muss ich erklären, denn Baker zeichnet mit 19 Jahren schon für Marvel, hat mit 25 die Nase voll vom Superheldengeschäft und gestaltet SATURN in Eigenregie als Akt der Selbstverwirklichung.
Das bringt ihm einen Achtungserfolg und einen Eisner Award.
Im Folgenden darf Baker selbstbestimmter arbeiten und schaut sich auch im (Trick)-Filmgeschäft um.
Ebenfalls agiert er als gefragter Karikaturist für diverse Magazine und Zeitungen (s. den Wikipedia-Eintrag).
Er bleibt den Comics auf lange Sicht treu, doch er enttäuscht mich (ja, ich nehm’s persönlich), weil er nie wieder die Klasse von WHY I HATE SATURN erreicht (in meinen Augen, natürlich).
Dazu reden wir jetzt dezidiert über seine Kunst, die er hier ausstellt.
Betrachten wir die folgende Seite 71: Anne hat sich aufgebrezelt und versucht, ihr Selbstbewusstsein durch Schönheit und Kosmetik („Mousse“) zu stärken.
Vier Panels, in denen Baker meisterlich eine Szene kreiert, die sinnlich, lebendig und vielfältig funktioniert. Erst einmal die Körperhaltung der Figuren. Ricky ist zunächst überrascht (offene Arme), dann kennerhaft bewundernd (Hände in den Taschen), in Bild 4 dann besorgt in Nahaufnahme.
Anne schlendert damenhaft den Flur entlang und schwingt dabei eine schwarze Lederjacke. Ihr aufrechter Gang und das erhobene Haupt verleihen ihr den Look eines Laufstegmodels. In Bild 3 dreht sie uns einen balletthaft gestreckten Rücken zu, ihr Kopf pendelt exquisit leicht zur Seite, ihr hochgestecktes Haar strähnt mit gebremster Wildheit.
Im letzten Bild neigt sie sich huldvoll Ricky entgegen, ohne jedoch in Augenkontakt zu treten. Klassisches Werbebild der überlegenen Frau: arrogant, schön, geheimnisvoll!
Toller komischer Kontrast hierzu die cartoonesken Köpfe in Bild 3. Eine Galerie von Gaffern, die durch die kindliche Darstellung schon als ohnmächtige Teilnehmer der Szene diskreditiert werden.
Ich beschreibe das so literarisch, um Ihnen klarzumachen, dass diese grafischen Umsetzungen kein Zufall sind, sondern bewusst gestalterische Entscheidungen.
Baker inszeniert diesen Gang über den Flur mit ebendiesen Absichten. Hierin liegt nicht nur das Genie dieses Zeichners (der überdies mit spärlichsten Strichen auskommt), sondern auch der Zauber von Comics generell. Das kann Film nicht! Das Einfrieren des Moments.
Eine letzte Nuance, die mich begeistert: Bakers sublime Wischtechnik, wie sie im vierten Bild besonders deutlich wird. Die grauen Schatten auf Annes Hals, Augen und Nase wie auch die weißen Tupfer auf Rickys Gesicht, die eine staunenswerte Plastizität herausarbeiten.
Zu Bakers kreativem Artwork gesellt sich noch sein (erwähnte ich es schon?) Sitcom-reifer Humor, der so herrlich frech daherkommen kann. Anna (und Lauras) Freund Frank erinnert sich an sein erstes Rendezvous mit der verrückten Laura in einem Coffeeshop. Der Besitzer desselben will ihm gut zureden und schlägt vor, Frank könne sich einfach wieder verdrücken …
In Kapitel 7 gehen Ricky und Anne in eine hippe Bar, um gepflegt ein paar Drinks zu kippen. Die Bar ist aber auch sehr laut, was ein Gespräch nur mit Geschrei ermöglicht. Baker löst das Unvermögen von Bildern, Lautstärke darzustellen, clever und elegant, indem er nicht nur große, schreiende Münder zeichnet, sondern auch seine Kamera näher an die Gesichter heranrückt als sonst. Die angeschnittenen Gesichter transportieren sehr hübsch einen Effekt von Nähe und Gedrängtheit.
WHY I HATE SATURN ist voller solcher feiner Details. Jedes Gesicht spiegelt wundervolle Nuancen. Ich stifte noch Seite 78 mit einer meiner Lieblingsszenen:
Der Redakteur gibt Ricky eine Kolumne über ‚schwarzes Leben‘.
Verstehen Sie nun, dass ich für Kyle Baker schwärmen kann?
Gestalterisches Mysterium bleibt allerdings der aufdringliche Bilderrahmen, der sich um jede Seite spannt … Meine Scans sind aus der Erstauflage, weiß daher nicht, ob folgende Editionen diesen Missgriff beibehalten haben … Es waren die frühen Neunziger, die Gruseljahre von ClipArt und so …
(Entdecke soeben, dass die momentan im Internet verfügbare Gesamtausgabe von SATURN in Bakers Quality Jollity-Verlag auf den Rahmen verzichtet, dafür aber umgeschnitten ist!
Siehe das Screenshot-Beispiel rechts …
Die ursprünglichen Bilduntertexte sind nun zu Sprechblasen arrangiert, besser gesagt zu ‚Sprechblasen-Balken‘ der immergleichen Größe, die stur über die womöglich verkleinerten Bilder platziert sind.
Das sieht, mit Verlaub, falsch aus und arbeitet gegen den organischen Flow des Bildromans.)
Aber ein prima Beispiel dafür, was Kyle Baker für einen Unsinn produziert. Was reitet den Mann, sein frühes Meisterwerk so brachial zu sabotieren?!
Ich sagte vorhin „enttäuscht“, denn was nach 1990 kommt, ist immer wieder ein anderer Kyle Baker, der keinem Stil lange treu bleiben kann. Vielseitigkeit schön und gut, aber der Fan verliebt sich in einen bestimmten Stil, und wenn der nicht mehr bedient ist, schwindet die Liebe.
Wobei es vor SATURN schon die Graphic Novel THE COWBOY WALLY SHOW gab (1988), die mich aber nie angesprochen hat. Ein eigenartig statisch wirkendes Werk ohne jede Dynamik, fast nur ‚talking heads‘.
Möglicherweise ist dieses Buch (eine Parodie auf die Fernsehunterhaltung der USA) zum Teil in Stripfolgen erschienen, was diesen Look erklärt (bekomme diese Vermutung trotz Internet aber nicht ermittelt).
Anderer Verdacht: COWBOY WALLY ist zu speziell, zu sehr ‚Americana‘, um für uns Europäer goutierbar zu sein … (Dochdoch, solche Phänomene gibt es, sich sag nur ARCHIE.)
Nach WALLY hat Baker seine Finger am SHADOW, den DC in den Endachtzigern wiederbelebt. Er übernimmt von Bill Sienkiewicz und gestaltet einen kurzen Lauf.
(Davon zurzeit nichts zur Hand, sorry).
Zeitgleich zu SATURN entsteht der Comic zur DICK TRACY-Verfilmung, den ich noch schätze, auch wenn er die Chuzpe besitzt, mit nun allerflüchtigstem Strich auszukommen. Hier ist Baker nah an der Skizze – was auf manchen Seiten funktioniert, sich auf anderen rächt. Der Künstler hält sich offenbar für ein kleines Genie, das sich alles erlauben darf.
1992 entsteht für DC die komödiantische, albumlange Zombie-Apokalypse LESTER FENTON AND THE WALKNG DEAD: UNSETTLING ZOMBIE LOVE.
Von der höre ich durch die Recherche zu diesem Artikel zum ersten Mal!
(Ich hab es gleich bestellt und verschlungen, es ist nur 40-Seiten-Büchlein. Diese Fingerübung in Sachen Komik sieht sehr nach Bakers SATURN-Stil aus, kommt aber nicht ran an sein frühes Hauptwerk; eine Seite hat mich aber sehr zum Lachen gebracht. Es klopft an der Türe. Wer kann das sein? Die Zeugen Jehovas?)
Danach ist BENSONS LABYRINTH (im Original JUSTICE INC.) von 1992 einer der wenigen Baker-Werke, die ihren Weg nach Deutschland finden! Der Carlsen-Verlag kommt um Baker nicht mehr herum.
Hier arbeitet er offenbar mit einer Layer-Technik, die Tusche, Farben und Sprechblasen auf verschiedenen Ebenen arrangiert. Könnte schon Computer im Spiel sein, bin mir nicht sicher.
Ende der Neunziger folgen YOU ARE HERE und I DIE AT MIDNIGHT, zwei Projekte, die er anscheinend komplett am Computer gestaltet. Damit erfindet sich Baker neu. Leider.
Denn er schießt seine Meisterschaft mit Stift und Pinsel in den Wind! Finde ich fast schon unverzeihlich, grrrroooße Enttäuschung. Große Enttäuschung.
Ich habe Baker dann ziehen lassen und mir seine PLASTIC MAN-Neuerfindung Mitte der Nullerjahre entgehen lassen. Im Netz sieht das sehr cartoonig aus, zu cartoonig für meinen Geschmack. Computer-Artwork, das auch noch wirkt wie Zeichentrick der Sechzigerjahre.
Es gibt nichts Scheußlicheres! Brrrr.
2008 entwirft er die Sklavenaufstands-Historie NAT TURNER. Die könnte richtig interessant sein, habe ich seinerzeit verpasst. Weil ich auf Kylie schmollte, ist klar.
Diese Story kam zuerst in Einzelheften, dann als Tradepaperback bei Abrams ComicArt raus (Abb. daraus). Habe das Werk nachgeholt.
Baker schreibt im Vorwort, Turner erscheine in allen Geschichtsbüchern nur als Fußnote, deshalb habe er ihm eine Graphic Novel widmen wollen. Ob er ihm damit einen Gefallen getan hat, darf man diskutieren. Denn die Story ist dürftig, die Umsetzung fragwürdig.
Ehe man den Farmsklaven Nat Turner 1831 in Virginia erhängte, köpfte und häutete, hatte er eine Bande von einigen Dutzend weiteren Sklaven aufgestachelt, in einer Blutnacht mehrere Farmen zu überfallen und die weißen Herrschaften zu ermorden. Diese Morde sind brutal und treffen auch Frauen und Kinder; die Hautfarbe war der einzige Tötungsgrund.
Bakers Zeichnungen verströmen ein Pathos, das mir höchst unangebracht scheint. Turner ist kein Held und auch kein Befreier, er ist ein Psychotiker, der eines Tages durchdreht und zum Mörder wird. Meine Lesart.
Ja, Turner bringt sich das Lesen bei, aber er kriegt zur Lektüre nur die Bibel in die Finger. Die bringt ihn langsam um den Verstand, macht ihn zum religiösen Eiferer, der am Ende Visionen hat und Stimmen hört, die ihm das Schlachten befehlen.
Na, Hallelujah, Freunde.
Das passt wunderbar in mein Geschichtsbild der USA, aber verdient dieser Stoff eine Adaption? Und wenn ja, so eine beinahe exkulpierende Umsetzung?
Die ersten 100 Seiten (von 200) schildern drastisch das Leid der Schwarzen, dann folgen drastische Racheaktionen. Das hat seine Logik, aber mir ist nicht wohl dabei. Vielleicht, weil ein aufs Ernste ausgerichteter Baker für mich nicht vorstellbar ist. Ich finde, es steht ihm auch nicht, so kokett das jetzt klingt.
Hier erleben wir einen weiteren, neuen, letzten Stil von Kyle Baker. Ich vermute Computer-Hintergründe mit Bleistift-/Tusche-Vordergründen, aber auch das geht heute alles auf dem Grafik-Tablet. Jedenfalls sieht Baker größtenteils wieder nach klassischem Handwerk aus. Dem applaudiere ich, auch wenn ich seinen meisterlichen Minimalismus vermisse. Er könnte sich zurücknehmen und sähe womöglich spannender aus!
In den letzten fünf Jahren scheint es ruhig um Kyle Baker zu werden. Ich sehe nicht, dass er nach 2012 noch einen Comic illustriert hätte.
Halt: 2016 geht er mit BENEVOLENCE wieder unter die Selbstverleger. Der parodistische Science Fiction-Shooter erlebt jedoch verheerende Kritiken. Der Humor wirkt müde, die Handlung uninspiriert.
Eine Truppe Kopfgeldjäger (zwei Männer, zwei Frauen) legt sich mit den Autoritäten an. Es kommt zu einer 40 Seiten langen Verfolgungsjagd und Schießerei auf Reitsauriern, der nur schwer zu folgen ist (und die bei aller Unübersichtlichkeit und Redundanz noch langweilig ist).
In einer Nebenhandlung begegnen wir putzigen Aliens, die in Gefahr sind und sich als blinde Passagiere aufs Schiff der Söldner schmuggeln.
Interessant ist, dass Baker in BENEVOLENCE Sprechblasen wie in alten EC-Heften benutzt und auch grafisch an Jack Davis erinnert. Die Reihe soll angeblich fortgesetzt werden …
Eindeutiger Befund: Action ist nicht des Künstlers Metier.
Kyle Baker ist ein Clown.
Immer schon gewesen, das macht ihn mir als Zeichner so sympathisch.
Was er noch getan hat, um 2010 herum: Er hat eine DEADPOOL MAX-Serie auf dem Kerbholz. Die kenne ich gar nicht, die fehlt mir. Da bin ich nochmal neugierig. Die besorge ich mir. Der alten Zeiten wegen!
Nachtrag: Auch das ist schon passiert.
Eigentlich sind Kyle Baker und DEADPOOL die perfekte Mischung. Die austauschbaren, kessen Storys bekommen ihren Mehrwert durch Bakers absurde, unrealistische, slapstickartige Zeichnungen (hier operiert er auch wieder mit Computer-Backgrounds und einmontierten Fotos). Gefällt mir sehr gut!
(Ich hatte dieser Tage den Comichistoriker Jim Vadeboncoeur, Jr. zu Gast, der sich entsetzt über DEADPOOL MAX zeigte. Er erkenne Baker gar nicht wieder, die Zeichnungen seien unklar, die Farben täten noch ein weiteres Zerstörungswerk dazu, er finde es absolut falsch und scheußlich).
Gegenrede: Das ist alles so gewollt, ich erkenne genug und honoriere die schön krasse Sabotage der Sehgewohnheiten. Ich jedenfalls kann gut damit leben und spüre den Spaß, den das Team Baker und David Lapham (Text) hier gehabt hat. Das ist mein alter Kylie, der sich jetzt richtig im Superheldengenre austoben darf!
Den DEADPOOL-Fans wird es zu abstrakt gewesen sein. Obwohl mir Comicdealer Michael Heide versichert, die MAX-Reihe sei im Hause Marvel das Label für bewusst experimentelle und erwachsene Stoffe gewesen.
Tschä. Kyle Baker. Up and down. Mal isser top, mal isser flop.
Zum Schluss unserer Baker-Betrachtungen ein Bonusbildchen aus I HATE SATURN, in dem sich der Künstler schon damals über ‚Comics vs. Graphic Novels‘ lustig macht!