Und ewig singen die Maden – BOB

Warnung vorab: Der hier vorgestellte Comic ist ekelhaft, pervers und widerlich.
Aber ich fand ihn auch originell, subversiv und faszinierend.
Denn BOB serviert uns in Gestalt von Bodyhorror im Mangastil einen Schnelldurchlauf durch biologische Evolution und menschliche Kulturgeschichte.

Die Handlung dieses ursprünglich italienischen Werks (mir liegt die englische Lizenzausgabe von Hollow Press vor) spaltet sich in zwei Perspektiven: Zum einen begegnen uns drei junge Menschen (eine Frau und zwei Männer), die in polyamouröser Gemeinschaft leben.

Die teilen sich eine Wohnung in der Stadt, haben Sex miteinander und treiben sich anfangs philosophierend auf dem Friedhof rum.
Die Frau tötet gedankenverloren eine Ameise mit ihrem Zeigefinder – nicht wissend, welche Bedeutung Ameisen im späteren Verlauf der Geschichte zukommen wird.

© für alle Abbildungen: Genchi, Marchetti / Hollow Press

Zum anderen begegnen wir BOB, einer unbekannten Lebensform, die plötzlich über der Erde schwebt.

BOB? Wer oder was ist BOB?

Wird nicht erklärt. Wie eine gigantische Fledermaus zieht dieses Alien seine Bahnen am Himmel und wird sofort zum Netzphänomen.

Blogger setzen ihre Theorien ins Web, Memes entstehen, Talkshows widmen sich dem Thema, der Präsident der USA ermahnt zur Ruhe, Satiren treiben ihre Blüten – und ein prominenter Wirtschaftsboss verpasst dem Wesen auf seinem Social-Media-Kanal den Namen „B.O.B.“ (oder BOB).

Und als die Menschheit sich achselzuckend mit dem Mysterium abzufinden scheint, geschieht das Unfassbare, der Horror bricht ein.

BOB sendet ein schauriges Signal um die Welt – und alle Menschen (nicht die Tierwelt) verlieren schlagartig ihre Geschlechtsteile!

Dieser Comic könnte nun zur Graphic Novel über eine geschlechtslose Gesellschaft werden. Sie wissen schon: Alle Menschen werden prüder, weil sexuell ausgebremst und biologisch angeglichen.
Welche Chancen eröffnen sich mit BOB als Guru einer endgültigen Gendergerechtigkeit?

Aber nein, dieser Comic schlägt eine andere Richtung ein.
Es kommt zu Massenpanik, Aufständen, Suizidwellen, Plünderungen und zum Einsatz der Atombombe gegen das feindliche Alien. Das alles präsentiert man uns kondensiert auf nur fünf Seiten!

Der Fokus liegt nun auf BOB, dem die Bombe nichts ausgemacht hat. BOB mutiert von der Fledermaus zu einer humanoideren Erscheinungsform. Das Wesen hat alle Sexualorgane der Welt in sich aufgenommen und baut sich nun ein Nest (wenn man so will).

Hier sehen wir das Superwesen seine „Festung der Einsamkeit“ in den Ozean pinkeln.
Ich entschuldige mich für die Formulierung und den Superman-Vergleich, aber so isses gewissermaßen.

Diese Insel, in deren oberstem Turm BOB fortan residiert, ist ein phallischer Alptraum der Architektur und erinnert an Pilzkulturen, die ja eine globale Lebensform sind (auf die der Comic auch noch zu sprechen kommen wird).

Vorgreifend möchte ich verraten, dass die Menschheit und BOB gegenläufige Entwicklungen durchmachen werden. BOB wird zum Schöpfer und Erbauer, die Menschen regredieren ins Tierische – doch zuerst macht sich das Werk beinahe pflichtschuldig noch über Religionen lustig.

Merke: Keine Kulturkritik ohne 15 Seiten (von 230) Sekten-Bashing!

Diese Passage steht für sich und erfreut mich durch ihre undergroundige Ausführung. Jemand schwingt sich zum Führer auf und errichtet einen militärisch anmutenden Gottesstaat.
Es finden sich Anspielungen auf Größenwahn und Inkompetenz, rigides Dogma und kirchliche Rituale (hier darf dem Pseudopapst der freiliegende Anus geküsst werden).

Sehr lustig (und aus historischem Vergleich bitterböse) finde ich die unterste Bildreihe mit der protestierenden Person vor dem Panzer – sie hat ihren Körper mit Beuteln behängt, die Brüste, Hintern und Penis symbolisieren.
Welch absurder Versuch, diesen nicht mehr existierenden Körperteilen erneut Geltung zu verschaffen.

Doch all das ist nur Exkurs, ist nur Nebenseminar in BOB, diesem monströsen Comic über Schrecken und Schönheit der Evolution.

Die Natur hat Hand und Fuß

Denn nun macht Bob, das Superwesen, weiter und entfernt allen Menschen Hände und Füße. Und erneut benutzt er diese Biomasse, um seine Wohnstatt zu erweitern.

Das phantasmagorische Gebilde wächst immer weiter – und BOB, der Comic, findet Bilder der Schönheit dafür (und verurteilt übrigens niemals, was da „mit uns“ geschieht, wenn wir die Ereignisse denn persönlich nähmen).

Ich habe sehr gelacht über BOB, aber ich verfüge auch über eine hartgesottene, sarkastische Grundeinstellung – nicht alle werden den Humor in diesem Werk erkennen.

Eine Idylle im Ozean: die Insel des Dr. Bob, unbehelligt von Touristen, nicht buchbar bei AirBnB.

Es geht oft auch um detailliert in Szene gesetzte Körperausscheidungen, Sexualakte und biologische Verfallsprozesse.
Das bräuchte es nicht für den Fortgang der Story, aber die beiden Macher (David Genchi und Michele Marchetti) möchten uns offenbar haarfein schildern, wie natürliche Prozesse ablaufen. Kann man fies finden, kann man fachlichen Respekt für zollen.

Ich biete diese Bildfolge als Beispiel: Nachdem die Menschen ihrer Hände und Füße beraubt wurden, müssen sie sich auf allen Vieren fortbewegen und können Nahrung nur noch mit den Zähnen zu sich nehmen.
Also reißen sie sich gegenseitig, so wie eine Gruppe Ratten (mittleres Panel) über ein verwundetes Exemplar herfällt:

Wenn Sie nun glauben, schlimmer könne es nicht mehr kommen, hamsesich geschnitten. BOB hat sich gerade warmgelaufen und wird im Folgenden zunächst Arme und Beine amputieren, hernach Zungen, Nasen, Münder und Augen.

Auch danach ist noch kein Halten, es geht weiter mit dem Knochengerüst und den inneren Organen, letztlich mit den Hirnen. Manche Menschen überleben manche Phase als Fleischwurst oder Hautsack – schließlich werden alle besiedelt von Ameisen, Maden und Pilzen!

Ich erspare Ihnen diese Darstellungen mal, zeige aber zwei Seiten, auf denen unsere drei Protagonisten (denen wir ab und zu weiterhin folgen) sich von Insekten zu ernähren versuchen.
Schwierig, denn momentan können sie sich nur hin und her wälzen und hoffen, dass ihnen eine leckere Fliege in den Mund krabbelt.

Tschuldigung, wenn ich’s lustig finde. Auch den verbalen Gag mag ich gern: „Bin fast durch mit dem Buch“.

Was vom Menschen übrig bleibt

Dieses Werk ist schwer zu kategorisieren.
Natürlich haben wir klassischen Horrormanga vor uns (Junji Ito und Hideshi Hino lassen grüßen, über beide habe ich hier mal geschrieben).

Dann aber ist es auch übertriebenster (weil zu Ende gedachter) Bodyhorror der westlichen Denkart (man darf an Filmer wie David Lynch oder David Cronenberg denken), Versatzstücke aus deren Schaffen finden sich einige.

Weiterhin ist es auch ein Spiel mit soziokulturellen Thesen von Nietzsche, Borges und Brecht. Ein Zitat des letzteren eröffnet den Comic und ist auf der hinteren Buchklappe vertreten: „There is a great deal to man. We say: So a great deal can be made out of him.“

Ich kenne das deutsche Original nicht und muss nun eine Übersetzung versuchen, die schief sein wird, denn der Satz ist doppeldeutig, aber so verstehe ich ihn: „Der Mensch ist eine tolle Sache. Also sagen wir: So viele tolle Sachen kann man aus ihm machen“.

Zum Beispiel eine Ameisenfarm!

Und damit komme ich zum Schlusspunkt: BOB ist ganz finstere Satire auf den Menschen als „great deal“, als „Krone der Schöpfung“. Denn das Wesen BOB dekonstruiert und destruiert die Gattung Mensch phasenweise in immer schwächere, immer hilflosere Lebensformen.

Das ist prinzipiell ein tolles Ding, was man hier „aus uns macht“ – und die Fantasie dafür zwingt mir Respekt ab. Das Kreativteam Marchetti und Genchi geht dahin, wo es weh tut und ihr Comic zeigt uns den Menschen beim Sturz in biblisches Verderben, in die tiefste Hölle.
Vom Atombombenbauer zum Pilzgeflecht!

Krassester Kommentar der Macher ist die Sequenz, in der die letzten Restmenschen (oder Menschenreste) mit denen von ihnen verursachten Plastikmüll eine Symbiose eingehen. Im vierten Bild erleben wir die Transformation in einen Mikroorganismus:

Ich halte das für den ultimativen Scherz in Sachen Nachhaltigkeit!

Ist BOB nicht der ideale Präsentcomic für SUV-fahrende Bekannte? Vielreisende Fernflugfreunde? Ramschkleidung tragende Modeopfer? Sozialmedienverseuchte Konsumgeier?

Rückt mal wieder den Kopf zurecht!

Ich rücke Ihnen zuletzt auf den (hoffentlich ganzen und gesunden) Leib mit einem Instagram-Reel sowie dem Link zur Netzpräsenz von Hollow Press. Auch dort findet sich ein Blättervideo zum Produkt, unterlegt mit einem creepy Soundtrack, der den Ruf des Aliens akustisch hörbar macht. Hoha!

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