Im Herbst 2024 ist der französische Comicautor Pierre Christin verstorben, in Deutschland vor allem bekannt als Szenarist für die zahlreiche Alben um VALERIAN UND VERONIQUE, gezeichnet von Jean-Claude Mézières.
In Frankreich hat man ihm große Nachrufe gewidmet und ihn in den Rang eines Alan Moore gestellt. Christin war im frankophonen Raum ein womöglich größerer Einfluss als die Briten um Alan Moore und Neil Gaiman.
Denn während letzterer ab 1987 erste Skripte für Dave McKean liefert (VIOLENT CASES) und ersterer 1982 mit V FOR VENDETTA und 1984 mit THE SAGA OF THE SWAMP THING seine Karriere als bedeutender Comicautor beginnt, hat Pierre Christin bereits ein rundes Dutzend VALÉRIAN-Alben vorgelegt (seit 1967).
Dazu fünf Comicwerke mit Zeichner Enki Bilal, die wir heute als Graphic Novels einstufen würden: DIE KREUZFAHRT DER VERGESSENEN, DAS STEINERNE SCHIFF, DIE STADT DIE ES NICHT GAB, DER SCHLAF DER VERNUNFT sowie TREIBJAGD.
Aus aktuellem Anlass habe ich TREIBJAGD hervorgekramt und wiedergelesen. Er war mir im Gedächtnis als einer der besten Politcomics überhaupt, ein gesellschaftskritisches wie poetisches Werk.
PARTIE DE CHASSE heißt der 82-seitige Comic im Original und stammt aus dem Jahr 1983.
Der Comic beginnt so unterspannt wie möglich: Ein Zug pflügt durch verschneite Landschaften in Osteuropa. Darin unterhalten sich zwei Männer über einen dritten.
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Der altgediente Apparatschik Jewgenij erzählt einem namenlosen jungen Dolmetscher aus Frankreich die Lebensgeschichte von Wassili, dem legendären Präsidiumsmitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Der war von Anfang an dabei, ist Lenin noch persönlich begegnet, hat für die Revolution gekämpft, zaristische Milizen ausgeschaltet, den Zweiten Weltkrieg und alle Säuberungen überlebt, den Aufbau der Sowjetunion unter Stalin mitgestaltet, aber auch seine dissidentische Geliebte Vera geopfert.
Also ein mit allen Wassern gewaschener Machtpolitiker und Überlebensstratege.
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Dieser Wassili sitzt im Abteil nebenan und lässt sich zu einer Jagdgesellschaft nach Polen fahren, die er für mehrere Parteifunktionäre der sogenannten „Bruderstaaten“ organisiert hat.
Autor Christin und Zeichner Bilal präsentieren uns diese Figur als erstarrt und stumm. Sie hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen. Diese Inszenierung natürlich verleiht dem greisen Mann eine Aura von Gefährlichkeit.
Zugleich dürfen wir Wassili begreifen als fleischgewordene Paranoia eines totalitären Systems. Was darf man sagen? Was muss man sagen? Sagt man besser gar nichts?
Wie verhält man sich dieser schweigsamen Sphinx gegenüber?
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Wir kommen an in Polen, wir verlassen den Zug und begegnen auf den nächsten Seiten dem Rest der Jagdgesellschaft.
Gastgeber ist der Pole Tadeusz, der es sich in einem beschlagnahmten Schloss der „dekadenten und ausbeuterischen Aristokratie“ gemütlich gemacht hat, aber die „hatte nicht unbedingt einen schlechten Geschmack.“
Es treffen ein: der aufstrebende Georgier Sergej, der Ungar Janos, der rumänische Geheimdienstchef Ion, der jugoslawische Lebemann Basil, der tschechische Wendehals Pavel und der ostdeutsche Wirtschaftsfachmann Günther.
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Und ehe das Ganze zu einem Witz der Sorte „Treffen sich ein Pole, ein Tscheche und ein Russe“ gerinnen kann, gibt Tadeusz seinen Gästen eine Kostprobe seines Hobbys, der Falknerei.
Im Vorgeschmack auf die Jagd demonstriert der Pole die verschiedenen Tötungsarten seiner Raubvögel: Der Falke und der Sperber jagen anders.
Natürlich eine fette Allegorie auf unsere kommunistischen Herrschaften, die alle schon auf ihre Weise „gejagt“ haben.
Dazu arrangiert TREIBJAGD eine Rückblende ins Prag des Jahres 1968, dem kritischen Moment des Kommunismus, als die Sowjetunion demokratisches Aufbegehren brutal niederschlug.
In einer weiteren, surreal angelegten Rückblende erinnert der Ungar Janos Wassili daran, wie dieser 1956 den Funktionär Tibor abserviert hatte.
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So erleben wir 50 Seiten lang nichts als das Geschwafel alter Männer, die von den Taten ihrer Vergangenheit definiert werden.
Das alles müsste brachial langweilig sein, ist es aber nicht – wegen Bilals markanter Visagen, seiner eigenartigen Kolorierung in Erdtönen und seinem statischen Bilderarrangement, das so dokumentarisch wie traumhaft wirkt.
Bilal ist ein Meister der Stimmung (vgl. auch meine Analyse zu seiner NIKOPOL-Trilogie).
Auch wenn er nicht viel mit der Kamera macht, erzeugen seine Kompositionen stets eine gewisse Spannung, die Staunen und Neugier im Auge des Betrachtenden auslösen.
Bilals Seiten sind schick und unverwechselbar, beherrscht von illustrativer Poesie.
Und dann zieht man los, zum fröhlichen und tödlichen Jagen …
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Die Rechnung, bitte!
Und während wir noch die politischen Werdegänge von Tadeusz und Ion erfahren, wird uns klar, dass diese Treibjagd eine eingefädelte und durchgeplante Sache ist, um einen Mord zu begehen.
Alle Figuren stehen wie auf einem Schachbrett auf ihren Positionen. Sie alle sind geprägt durch jahrzehntelange Erfahrungen mit dem gelebten Sozialismus. Jeder für sich hat daraus seine Schlüsse gezogen – und alle gemeinsam morden sie für eine Zukunft, die ihnen besser erscheint.
Mehr will ich nicht zur Handlung sagen. In meinen Augen ist TREIBJAGD Christins Abgesang auf den Kommunismus. Er enttarnt ihn als Machterhaltungs- und Unterdrückungssystem gemeiner Kerle.
Die mögen zwar im Glauben an ein „höchstes Gut“ handeln, doch vergessen sie dabei den Preis, den es zu zahlen gilt.
So holen am Ende die Sünden der Vergangenheit auch unsere stumme Hauptfigur ein.
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Dieser Comic schildert uns den Anfang vom sogenannten „Ende der Geschichte“. Autor Christin nimmt hellsichtig die Gorbatschow-Ära vorweg, die ab 1986 mit „Glasnost“ und „Perestroika“ den Umbau der Sowjetunion einläutete.
Mag übrigens sein, dass Ihnen das Werk nichts gibt.
Falls Ihnen historische Erzählungen schnuppe sind oder falls Sie niemals über politische Systemfragen reflektiert haben oder falls Sie einfach zu jung sind.
Aber als älterer Mensch, der noch dabei gewesen ist, kann ich mich vor diesem gewaltigen Wurf nur verneigen.
Die Geschichte des Ostblocks mit an die Realität angelehnten Figuren in einem dicken Album zu verdichten, noch dazu einen kühlen Politthriller draus zu stricken – das ist ein Kunststück der besonderen Art.
Editorische Notiz:
TREIBJAGD ist übrigens nicht mehr verlagslieferbar. Carlsen hat drei Auflagen gebracht, die letzte vor 32 Jahren!
2008 veröffentlichte Ehapa unter dem Titel FINS DE SIÈCLE einen luxuriösen Doppelband mit TREIBJAGD und DER SCHLAF DER VERNUNFT. Auch dieser Comic ist nicht mehr verfügbar, selbst antiquarisch auf die Schnelle nicht zu finden.
Hier lauert eine willkommene Gelegenheit zur einer Neuauflage. Ein Meilenstein der „Bandes dessinées“ wäre wieder zu entdecken. Gerade TREIBJAGD wird in der frankophonen Szene als prägendes Werk beschrieben.
Nachfolgende Autoren wie Christophe Bec (CARTHAGO, OLYMPUS MONS, PROMETHEUS), Eric Corbeyran (METRONOM, UNTER SCHWARZER FLAGGE), Jean Dufaux (CONQUISTADOR, DJINN, MURENA, RITTER DES VERLORENEN LANDES), Mathieu Lauffray (LONG JOHN SILVER, RAVEN), Matz (TANGO, DER KILLER) oder Wilfrid Lupano (AZIMUT, DIE ALTEN KNACKER) berufen sich darauf.
Und wenn Sie kurz drüber nachdenken, erkennen Sie, dass ein moderner Erfolg wie DIE ALTEN KNACKER deutliche Anleihen bei der alten Gedankenschule Pierre Christins macht …
Schauen Sie mit mir hinein in den Band, den ich noch aus meiner Jugend gerettet habe. Sie werden ihn, wie gesagt, kaum im Handel finden: