Willkommen beim kryptischsten Comic aller Zeiten!
Ich habe 15 Hefte (versammelt in drei Tradepaperbacks) gelesen – und keinen Schimmer, worum es geht oder wo das noch hinführen soll. Ich hoffe sehr, Autor Brian K. Vaughan hat ihn.
Nur eines hab ich begriffen: Jeweils fünf Hefte spielen in einer Zeitzone. So mehr oder weniger. Band 1 im Jahr 1988, Band 2 im Jahr 2016, Band 3 zu prähistorischen Zeiten (genau im Jahr 11.706 v.Chr.). Band 4, so lässt er der Cliffhanger erahnen, wirbelt uns Leser dann ins Jahr 2000.
PAPER GIRLS ist der neue Wurf von SAGA-Autor Brian K. Vaughan und Zeichner Cliff Chiang. Vier Schulmädchen von ca. 12 Jahren erleben Zeitreiseabenteuer, ohne wirklich zu begreifen, weshalb und warum. Der Leser checkt es auch nicht. Sie begegnen dabei diversen Wesen und sich bekriegenden Gruppen aus anderen Zeiten, womöglich Dimensionen, es ist alles höchst verwirrend.
Das flächige, halbrealistische Artwork von Cliff Chiang (übrigens brillant pastellig koloriert von Matt Wilson) ist dem Sujet angemessen und versöhnt mit dem chronischen Nichtverstehen.
Vaughan und Chiang operieren mit erstaunlich großformatigen Panels (meist nur vier pro Seite), gerne auch ganzseitige Darstellungen. Das verleiht PAPER GIRLS eine Sketchartigkeit und lässt die Serie fast wie ein Storyboard für eine Verfilmung wirken.
Das ist ein toller Abenteuercomic für Mädchen! Das klingt jetzt aber ultradoof:
„Das ist ein toller Abenteuercomic für Mädchen!“ Klingt sogar herablassend. Was ich sagen will: Ich kann mir vorstellen, dass junge Leserinnen genau so einen Spaß an PAPER GIRLS haben wie gealterte Comicexperten wie ich.
Denn Spaß macht es mir. Brian K. Vaughans pointierte, lakonische, stets ungekünstelt daherkommende Dialoge sind eine Freude. Seine Mädchenclique ist sympathisch, zupackend, hat das Herz auf dem rechten Fleck und ist brutal ehrlich zueinander. Jede für sich ist ein gebrochener Charakter:
Die wilde Mac raucht, hat Stress mit der alkoholkranken Stiefmutter und erfährt in der Zukunft, dass sie früh an Leukämie sterben wird.
Die sportive KJ ist ein Hockey-As, benutzt ihren Schläger als Waffe, hat lesbische Fantasien und bekommt mitten im Urzeitdschungel zum ersten Mal ihre Tage.
Die patente Erin wird angeschossen, trifft auf einen Klon ihrer selbst und im Jahre 2016 noch auf ihr desillusioniertes, älteres Ich, mit dem sie sich arrangieren muss.
Die logisch ausgerichtete Tiffany hat lateinamerikanische Wurzeln, wurde von ihrer Teenage-Mutter zur Adoption weggegeben, denkt am kreativsten und hat ein Talent für Wissenschaft.
Weiter treten auf: die Zeitreiseforscherin Qanta Braunstein aus dem Jahr 2050, die Urfrau Wari mit ihrem Säugling Jahpo, die Technokriegerin Cardinal, ein mysteriöser Grand Father (Gottesfigur?), Erins kleine Schwester Missy, fliegende Augen und Pyramiden, Höhlenmenschen und leprös wirkende Teenage-Rebellen aus der Zukunft.
Wie die alle miteinander zusammenhängen, was sie voneinander wollen, welche Motive sie für ihr Handeln haben, worauf die Dinge zusteuern – das bleibt komplett schleierhaft und muss man als Leser erdulden. Ich kann einem Comic auch mal folgen, wenn ich nicht alles verstehe.
Ich schätze eine Kultur, die ihre Konsumenten überfordert!
Es ist ein intellektuelles Abenteuer.
Sie haben gemerkt: Ich versuche erst gar nicht, eine Handlung beschreiben zu wollen. Auf jeder Seite kann etwas passieren (und tut es auch), das vollkommen neu und fremd und überraschend ist.
Mein Tipp: Lassen Sie sich einfach in diesen Erzählstrudel fallen und sich davon herumwirbeln. Irgendwann kommen Sie schon wieder ans rettende Ufer …
Go with the flow!
Wie immer lese ich englisch, aber CrossCult liefert zeitnah die deutsche Übersetzung. Erhältlich im Fachhandel! Hier noch ein paar Bilder in Galerie zur Ansicht, um einen besseren Eindruck zu erhalten.