Er lässt sich gut an, dieser moderne Politthriller um einen französischen Präsidentschaftswahlkampf. Jacques Dufell möchte Präsident der Republik werden. Der Mann war schon Premierminister, kennt das politische Geschäft in- und auswendig und hat beste Kontakte, auch in mafiöse Kreise hinein.
Das weiß Charles Weber, die Hauptfigur in ALPHATIERE, ein Ex-Geheimdienstler, der Dufell schon mal das Leben gerettet hat. Weber betreibt inzwischen eine Detektivagentur – und wird von Dufell angeheuert, weil ihm jemand den Mord an einem Callgirl in die Schuhe schieben will.
Daran ist Dufell tatsächlich unschuldig, aber alte Mafiakumpane klopfen beim Kandidaten an, um ihm einen ungeheuerlichen Deal anzubieten: Verschafft Dufell als nächster Präsident der Russenmafia Staatsaufträge in Milliardenhöhe, dann hält die Mafia mit ihren Methoden die Kriminalität in Frankreich auf kleinstem Niveau.
Mittelsmann ist der sadistische Lionel Alechinsky alias „Voyeur“, der Frauen umbringt und auch Weber aus dem Weg räumen möchte. Weber, dessen moralischer Kompass noch halbwegs intakt ist, gerät zwischen die Fronten:
Er hilft Dufell, möchte sich zugleich jedoch Alechinsky vorknöpfen.
Verkompliziert wird die Sache durch die Wahlkampfleiterin der Gegenseite, Mathilde Massen, die einen Rochus auf Dufell hat und belastendes Material gegen ihn. Was das ist, verrate ich hier nicht, am Ende jedoch fliegt natürlich alles auf.
ALPHATIERE ist ein Doppelalbum; der Verlag schreiber&leser komplettiert die Story dankenswerterweise in einem Band. Eine Story, in deren zweiten Teil die Puzzlestücke der Handlung herumgeschoben und zu einem Bild gelegt werden, das mir leider schemenhaft blieb.
Es ist nicht leicht nachzuvollziehen, wer jetzt gegen wen was in der Hand hat und weshalb gerade das relevant ist – weil doch jeder eigentlich eh alles gewusst hat. Wer hat wen wann kennengelernt, wer steckt hinter wem und wieso ist das noch wichtig?
Aus der Kurve getragen
Mich hat ALPHATIERE irgendwie frustriert. Nicht schlimm, aber es hat mich unbefriedigt zurückgelassen. Ich habe den Comic sogar ein zweites Mal gelesen, um ihm nicht Unrecht zu tun. Es bleibt ein schaler Nachgeschmack.
Autor Stephen Desberg (der hier mit Claude Moniquet als Ko-Autor verantwortlich zeichnet) ist ein ganz alter Hase im Geschäft, schreibt seit über 30 Jahren Comicskripte (darunter EMPIRE USA, ‚I.R.$.) – auch die ebenfalls bei schreiber&leser erhältliche Serie JACK WOLFGANG.
Ich präsentiere im Folgenden eine rein subjektive Verdächtigung gegen Desberg. Wenn man in seinem Autorenleben schon Dutzende Thrillerstoffe abgeliefert hat, ist man vielleicht in Versuchung, den vierundachtzigsten mit gewitzten Subplots zu würzen.
Damit komme ich zu Nebenhandlungssträngen, die ich noch gar nicht angesprochen habe: Dufell, der Politiker, der als Ehrgeizling und aalglatter Opportunist geschildert wird, hat einen kranken Sohn, um den er sich aufrichtig und warmherzig kümmert.
Das ist zwar schön, passt aber nicht wirklich ins Bild. Meiner Meinung nach.
Weber, der Agent, hegt Gefühle für seine Ärztin: Jeanne ist die Jugendfreundin, mit der er schon immer geliebäugelt hat. Das ist zwar auch schön, passt aber auch nicht wirklich ins Bild. Denn Weber ist verheiratet, mit einer Frau, die wir kaum zu sehen bekommen.
Warum keimen diese Gefühle gerade jetzt auf?
Wieso hat Desberg seinen Weber nicht als Single angelegt, dann wäre es doch leichter gewesen. Weil die handelnden Figuren Franzosen sind? ‚Cherchez la femme‘ und so? Weil die Liebe ein ‚seltsames Spiel‘ ist?
Schließlich heißt es ja: Liebe ist stärker als der Plot!
(Nein, wie war das noch, so ähnlich …)
Mach mich verletzlich
Vielleicht tut ein Autor dies auch bloß, um seinen Figuren Leben einzuhauchen.
Denn Agenten, die laufen, schießen, Türen eintreten sind ja nur Pappfiguren. Aus Sorge um Jeanne (die auch prompt zur Geisel genommen wird) muss Weber seine ganze Agentenkillerkunst unter Beweis stellen.
Aus Sorge um seinen Sohn kann Dufell sich alle Optionen (Präsident oder nicht) offenhalten.
Und jetzt kommt der Kicker: Weber erkrankt an derselben Krankheit wie der Sohn! Ein MS-artiges Nervenleiden lässt ihn zweimal zusammenbrechen.
Einmal in Gegenwart Dufells, der ihn daraufhin aus Mitleid weiterbeschäftigt, obwohl er ihn gerade feuern wollte. Das ist dramaturgisch okay.
Ein zweites Mal, als er Jeanne aus Lebensgefahr erretten muss. Das finde ich dramaturgisch billig, zumal die Szene im Timing nicht funktioniert. Ich zeig Sie Ihnen:
Ich finde diese Szene dumm. Da wäre ein packendes Gerangel drin gewesen (um die Spritze, um die Waffe) mit deutlich unsichererem Ausgang. Was soll der Quatsch mit der Peitsche? Solch vorgeschobene Originalität macht der Glaubwürdigkeit den Garaus.
Naja, meine Meinung. Ich bin mitunter überkritisch. Aber es sind diese dramaturgischen Unwuchten, diese Effekthascherei, diese Blendgranaten, die mich irritiert auf ALPHATIERE schauen lassen.
Denn eigentlich verpacken die Autoren ein hochaktuelles Thema in ihr Werk: die Zersetzung der westlichen Demokratie durch russische Einflussnahme und Manipulation! Das wird auch so gesagt.
Umso mehr bedaure ich es, dass diese Thematik untergeht zwischen romantischen Konflikten, Familienknatsch und den Egos der Hauptdarsteller.
Na gut, ALPHATIERE eben.
Ich kapituliere vor diesem Werk.
Denn man kann genauso gut dafür argumentieren: politische Problematik, spannend verpackt in romantische Konflikte, Familienknatsch und den Egos der Hauptdarsteller. Überraschend gestaltete Actionszenen wechseln ab mit clever inszenierten Geheimnissen: Wer hat gegen wen was in der Hand; wer steckt hinter wem und wieso wird das noch wichtig?
Sehense? Man kann das so oder so auslegen.
Schick schaut es aus
Positiv überrascht hat mich auf jeden Fall das atmosphärische Artwork des Zeichners Jef. Der Mann ist laut Verlagsinfo Autodidakt und scheint in den letzten Jahren einen guten Lauf in der frankobelgischen Szene hinzulegen.
Jef hat Sinn für Komposition und Dramatik, sein eigenartiger Stil geht zwar in Richtung Realismus, verweigert und unterläuft diesen jedoch durch eine ‚malerische Gestaltung‘ seiner Charaktere.
Seine schiefen, kurios konturierten Gesichter sind höchst markant.
Ich würde sogar behaupten, sie tendieren ins Überbetonte, fast Bildhauerische.
(Um mal einen Begriff zu präsentieren, der diese Ausgestelltheit greifbar macht.)
Jefs Männergesichter wirken wie zurechtgeschminkt und strahlen eine seltsam androgyne Qualität aus. Jedenfalls hat Jef eine Vorliebe für das Zeichnen kalter Blicke – was für einen Thriller ja wunderbar passt.
Ist das komplette Album jedoch voller kalter und harter Blicke, gerät es doch ein bisserl manieristisch.
(Beim Niederschreiben dieser Zeile schaute auch ich herrlich hart und kalkuliert kühl auf meinen Bildschirm.) Hättensemalsehensolln. Zwinker.
Auf insgesamt 115 Seiten lacht auch nie jemand auch nur ein einziges Mal. Es ist düster, Freunde, und zwar mit Ansage. Die Kolorierung ist gedeckt, es dominiert ein schräger Mix aus fahlem Gelb mit Beige und türkisem Grün. Hui.
Insgesamt aber finde ich das Artwork todschick.
Erwähnt sei noch, dass Desberg seinem Charles Weber noch eine Lisbeth-Salander-Figur an die Seite stellt: die schweigsame, taffe, kampferfahrene Wanda. Wanda ist jung, hat grün gefärbte Haare und spielt nebenher noch Bass in einer Frauenband. Sie gibt Charles bei seinen Recherchen Deckung, beschafft Informationen und ist eine Art Bodyguard für ihn.
Leider bleibt diese Figur kühl und emotionslos wie ein Androide. Vielleicht ist sie ein Androide. Träumen Androiden davon, Bass in einer Frauenband zu spielen?! Späßle.
Fazit:
Dieser Comic ist grafisch sehenswert, hat ein sauberes Timing und lässt sich flüssig lesen, auch wenn der Handlung nicht leicht zu folgen ist. Die Charaktere jedoch bleiben distanziert und steril. Vielleicht soll der ‚Feel‘ dieser Welt aber auch so nihilistisch sein; entsprechend frostig und nüchtern endet die Handlung.
Die Verlagsseite mit Infos über ALPHATIERE ist HIER einsehbar.
Anmahnen muss ich zum Schluss allerdings noch zwei Szenen, die man als frauenfeindlich einstufen könnte. Ich schaue in jedem Comic auch auf sexistische Aspekte: Hier geschehen zwei Morde an zwei Prostituierten.
Die sind für die Handlung nicht von Belang und hätten schon gar nicht auf diese Weise dargestellt werden müssen. Ein Ausrutscher in einem ansonsten ansprechendem Thrillercomic.
Auf meinem Instagram-Video blättere ich noch durch den Comic: