SPIROU SPEZIAL von Yann & Schwartz

Nachdem ich auf dem Comicfestival München auf den exzellenten Oldschool-Zeichner Olivier Schwartz aufmerksam geworden bin, habe ich mir seine drei bei Carlsen erschienenen SPIROU-SPEZIAL-Alben zugelegt: „Operation Fledermaus“, „Die Leopardenfrau“ und „Der Meister der schwarzen Hostien“. Ich erwartete frischen Lesespaß – und war dann doch erschrocken, wie herb diese Werke sind.
Diese Semi-Funnies sind alles andere als lustig!

„Operation Fledermaus“

Ist der erste Band der Schwartz-Trilogie und müsste vielmehr „Spirou und Fantasio gegen die Nazis“ heißen. Dann genau darum geht es hier. Autor Yann verlagert die Handlung ins Brüssel der Jahre 1942-44, das zu dieser Zeit faschistisch besetzt ist.
Oberst von Knöchel und seine Mannen haben die Stadt fest im Griff und schikanieren, drohen und drangsalieren die Bevölkerung nicht nur, sondern nehmen auch Folterungen und Hinrichtungen vor.

Comiczitat: Der Folterknecht im Bild ist Dr. Müller aus Tim und Struppi.

Spirou arbeitet undercover als Hotelpage im von den Nazis belegten Hotel Moustic und belauscht deren Pläne. Er funkt seine Informationen an den belgischen Widerstand, gerät aber in eine Falle des Kommandanten. Die Nazis spielen ihm Informationen zu, die zur Dezimierung und Verhaftung der Widerständler führen.

Spirou gilt jetzt als Kollaborateur und versucht, auf eigene Faust seinen Ruf reinzuwaschen. Er entdeckt eine Wunderwaffe, die jedoch den Nazis in die Hände fällt. Bei einer Verfolgungsjagd lässt er eine Nazi-Motorradstaffel in eine tödliche Brandfalle fahren. Spirou kommentiert trocken: „Puahh! Das riecht nach angebranntem SS-Auflauf!“

Ein unerhörter Vorgang im Spirou-Kosmos, definitiv ein Tabubruch – womöglich ein Sündenfall. Die Grimmigkeit von „Operation Fledermaus“ erinnert sehr an die Haudrauf-Gewalt aus US-Kriegscomics der 1940er-Jahre. Dort wurden auch böse Herrenmenschen liquidiert, ohne dass einen Augenblick reflektiert wird, dass man sich solcherart auf eine Stufe stellt.
Na, gut, es sind NAZIS. Dennoch bleibt mir ein unwohles Gefühl im Magen zurück.

Ein „Blackhawk“-Comic von 1943.

Während Spirou  in Haft gerät, gewährt Fantasio alliierten Piloten Unterschlupf, hat aber auch eine Affäre mit einer heißen Nazi-Blondine. Dieses Album wirft gleich das nächste Tabu über Bord: In Funnies gibt es keinen Sex! Denkste, hier schon, wenn auch nicht explizit.

Dieser Comic ist erwachsen, wie man so schön sagt. In Kombination mit diesem Stil finde ich das allerdings irritierend. Hätte diese Handlung nicht besser auf eine realistische Umsetzung mit anderem Personal gepasst? Wäre gegangen, aber auch wurscht, denn wir reden hier von „Spirou SPEZIAL“, das man getrost großschreiben sollte.

Grafisch sind diese 62 Seiten von Olivier Schwartz umwerfend. Zudem beeindruckend, dass sich der Künstler eben nicht am Spirou von Franquin (60er- und 70er-Jahre) orientiert, sondern in der Erzählzeit bleibt und sich an den simplifizierten Stil von Spirou-Schöpfer Rob-Vel (Robert Velter) aus den 1940er-Jahren anlehnt! Obwohl … das gilt nur zu Bruchteilen. Vielmehr gibt Schwartz einen verdammt guten Yves Chaland! Der hatte ja auch mal seine Finger dran …

Großartige Seitenkomposition von Olivier Schwartz – mit Asterix-Anspielung oben link.

Dieser Band wimmelt vor Hommagen, Zitaten und Reminiszenzen auf Popkultur und Zeitgeschichte. Das kundige Nachwort von Volker Hamann weist auf Gastauftritte nahezu aller frankobelgischen Comicfiguren und –zeichner hin. Yann und Schwartz präsentieren uns die oppositionelle Swing-Bewegung Belgiens, stellen den berühmten Kameraschuss durch das bestrumpfte Bein aus „Die Reifeprüfung“ (s. oben) nach und erfinden sogar eine Brüsseler Version von Anne Frank.

„Operation Fledermaus“ endet mit der Befreiung Brüssels und auf weiteren herben Noten: das Anne-Frank-Mädchen (Audrey) ist deportiert worden, belgische Kollaborateure werden in Zookäfigen gefangen gehalten und Frauen, die sich mit Deutschen eingelassen haben, bekommen die Haare geschoren und ein Hakenkreuz auf die Stirn gemalt. Da ist man erst mal platt …

„Die Leopardenfrau“

Der zweite Titel schließt nicht nahtlos, aber doch im Jahre 1946 an „Operation Fledermaus“ an. Im befreiten Brüssel geben zunehmend die Amerikaner den Ton an. Ein neuer Hotelmanager feuert Spirou, der sowieso in einer depressiven Phase ist: Der Titelheld ist dem Alkohol verfallen (nächster Tabubruch), angeblich über dem Verschwinden Audreys.

Und diese Serie bleibt politisch, denn der sinistre Gestapo-Oberst von Knöchel bekommt von den Amis einen Deal präsentiert: Seine Dienste können den USA in der Konfrontation mit den Sowjets helfen.

Parallel passieren kuriose Ereignisse im Hotel Moustic: Eine geheimnisvolle „Leopardenfrau“ konfrontiert den kolonialistischen Afrika-Kämpfer van Praag wegen der Herausgabe eines mythischen Artifakts.

Die Kriegerin wird dabei verletzt, jedoch von Spirou gerettet, der sie in der Wohnung seines Freundes Fantasio versteckt. Zeitgleich suchen monströse Kreaturen (eine Art Roboter-Gorillas mit Suchscheinwerfer auf der Stirn) nach der Leopardenfrau und entführen die Altnazis, die in die USA verbracht werden sollten, nach Afrika.

Fantasio und Aniota (die Leopardenfrau) reisen auf der Suche nach dem Artefakt nach Paris, verfolgt von Spirou und Glu-Glu (Fantasios Freundin). Im existenzialistischen „Café de Flore“ kommt es zu seitenlangen verbalen Schlagabtäuschen zwischen Aniota und (Gastauftritt) Jean-Paul Sartre sowie Simone de Beauvoir – bezüglich der Rolle der Frau.


Das kann man charmant und historisch hübsch eingeflochten finden, mir war es zu aufgesetzt und auch zu aggressiv präsentiert. Auch die restlichen zehn Seiten passiert nichts Sinnvolles mehr: Der gefundene Fetisch fängt plötzlich an zu schweben, wird durch die Straßen gejagt und dann in Brüssel wiedergefunden. Hmmm. Ab Seite 40 drängt sich mir der Verdacht auf, dass hier Seiten geschunden werden. Denn „Die Leopardenfrau“ verabschiedet sich in ihre Fortsetzung, „Der Meister der schwarzen Hostien“. Dazu kommen wir gleich.

Die Handlung von Autor Yann ist (über zwei Drittel des Albums jedenfalls) dicht, wendungsreich, geschickt konstruiert und präsentiert sich mit dem Artwork von Schwartz als pralles Paket der Comickunst.
Wieder finden sich versteckte Hommagen, aber weitaus weniger als im Vorgängerband (so möchte ein entsetzter und verärgerter US-Soldat namens „Spiegelman“ den Nazis handgreiflich an den Kragen). Im Nachwort erläutert Volker Hamann Motivanleihen bei Hergé und Chaland (Leopardenmenschen, Kolonialismus).

„Der Meister der schwarzen Hostien“

Das im Auftaktdrittel zunächst konventionellste Album der drei führt uns 1947  in die belgische Kongo-Kolonie, in deren Hauptstadt Leopoldville. Der fast Bond-Schurken-reife Plan des schwarzen Despoten Tschumbu Lumba: eine Atombombe auf Brüssel, um die Unabhängigkeit zu erzwingen und Tschumbu zum Herrscher eines neuen Afrika zu machen. Die Bombe soll von den entführten Altnazis konstruiert werden, Tschumbu ist wohl eine verdeckte Anspielung auf den kongolesischen Politiker Patrice Lumumba, der den Kongo 1960 in die Unabhängigkeit von Belgien führte.
(Lumumba überlebte seinen Freiheitswillen kaum mehr als ein halbes Jahr. Der Mann war der Großindustrie sowie CIA und MI6 ein Dorn im Auge. Informieren Sie sich unter diesem erschütternden Wikipedia-Eintrag.)

Man wundert sich über die Grimmigkeit der Comicfigur, die höchst unpassend in einer Anspielung auf den Pas de deux mit der Weltkugel aus Chaplins „Der große Diktator“ illustriert wird – und schlimmer noch – in einer pervertierten Ich-habe-einen-Traum-Vision des Martin Luther King. Das ist keine lustige Persiflage mehr, das ist antefaktische Umdeutung zur „schwarzen Gefahr“. (Kings Rede fand 1963 statt und zielte auf Versöhnung.) Finde ich äußerst grenzwertig. Beim neuen Lucky-Luke-Album „Das gelobte Land“ gab es auch Diskussionen um schräge Anachronismen (nicht gelesen, aber es soll Anspielungen auf Gotham City und „Star Wars“ enthalten).

Die ersten 20 Seiten sind ansonsten nettes Exposé: Spirou, Fantasio, Aniota und ein jugendlicher Frechdachs namens Youma brechen in das geheimnisvolle und abgeriegelte Urugondolo auf, wo die Leopardenmenschen hausen (es sind übrigens nur Frauen, ein reines  Matriarchat).

Der pfiffige Youma dingt seine Dienste Fantasio an.

Dann geschieht wieder so ein herber Bruch, der den Dramaturgen in mir die Stirn runzeln lässt – Fantasio stößt Spirou in einen reißenden Fluss (nur weil er dessen geheime Kiste öffnen wollte) und beinahe in sein Verderben.

Offenbar geschieht dies nur, um noch einen kernigen, alten Dschungelmissionar in den Comic reinzuholen. Das ist zwar hübsches Lokalkolorit, aber handlungstechnisch nicht von Nöten. Der Missionar zieht Spirou aus dem Wasser und nimmt ihn in seinem fahrbaren Kino-Truck mit. Er zeigt im Dschungel komische Kurzfilme mit einem afrikanischen Laurel & Hardy-Duo.

Parallel laufen nun drei Handlungsstränge:
Fantasio, Aniota und Youma bringen den Fetisch zu den Leopardenfrauen, nachdem sie in Tschumbus Residenz eingedrungen sind und das Großmaul gedemütigt haben. (Ich habe die Passage gestern gelesen, bekomme heute aber nicht mehr auf die Kette, WESHALB sie das eigentlich getan haben … Ist aber auch ein Muster aus alten Superheldencomics: auf nach Berchtesgaden, Adolf besuchen, ihn in den Hintern treten und wieder verschwinden.)

Anyway: Spirou und der Priester treffen ebenfalls zum Showdown bei den Leopardenfrauen ein, während Tschumbu mit seinen Altnazis übereinkommt, statt einer Atombombe eine „schmutzige Bombe“ über Brüssel zu zünden. Da sie keine richtige Atombombe hinkriegen, wählen sie diese kleinere Variante. Was soll der Quatsch? Erstens hätte man gleich dahin steuern können, zweitens bezweifle ich sehr, dass 1947 das Konzept einer „schmutzigen Bombe“ schon existiert hat. Dazu sollen nun die Roboter-Gorillas die schweren Uranfässer ins Flugzeug laden, sind aber plötzlich verschwunden, weil sie auch auf dem Weg zu den Leopardenfrauen sind!

Der erwähnte Showdown findet statt zwischen der alten Zauberin der Leos (Aniotas Großmutter) und dem „Meister der schwarzen Hostien“. Da isser, der titelgebende Charakter des Albums. Der ist ein Verbündeter Tschumbus und gebiert mittels Magie über seine Gorillas, die sonst niemand steuern kann. Der Meister ist nur eine Randfigur in diesem Album und hätte dramaturgisch auch mit der Person Tschumbus (oder dessen militärischem Adlatus, offenbar Tschumbus Bruder, der auch noch mit im Bild steht) verschmolzen werden können.

Der Kampf huscht schnell und unblutig vorüber, endet in der Niederlage des Meisters und der Zerstörung der Gorillas. War es das alles wert? Die Biester waren doch reines Augenfutter, wie auch die halbnackten Leopardenfrauen, über die wir sonst nichts weiter erfahren, außer dass sie sich halbnackt in Felle kleiden und Marsupilami-slash-Wookiee-artig in Bäumen hausen.
Vielleicht sind das aber auch die grafischen Blendgranaten des Olivier Schwartz, der vom irrlichternden Skript ablenken will.

Ojemine. In diesem Band ist mindestens ein Bösewicht zu viel am Werke. Dieses Skript ist sperrig und schlägt Haken um Haken. Wieder mal ein überkomplexer Stoff aus Frankreich (s. auch meine Kritik zu EIN DIABOLISCHER SOMMER).

Und jetzt folgen noch zehn Seiten Abspann! Alle Action ist vorüber, und das Kreativteam Yann/Schwartz schiebt noch einige „Was-wurde-aus?“-Szenen hinterher. Die geraten teils tatsächlich originell, teils ungelenk. Hier kommen sie:
Der Meister der schwarzen Hostien wird als Albino-Afrikaner (sog. Ndundu) enttarnt. Spirou hört sich auf zwei Seiten dessen Lebenbeichte an. Autor Yann verarbeitet hier wahre Infos über Ausgrenzung unter Afrikanern. Ungelenk.


Aniota soll in die Fußstapfen ihrer Oma treten und neue Zauberin ihres Stammes werden. Dazu soll sie ihr Gift verabreichen und unfassliche, kannibalistische Rituale an ihrer Leiche vornehmen. Soll das komisch sein? Und wenn wir schon so achtsam mit Afrika und seinen Bewohnern umgehen, wieso fallen wir hier in finsterste Vorurteile über „Wilde“ zurück? Ungelenk hoch zwei.
Der Priester greift die geflüchteten Despoten (Tschumbu und seinen militärischen Bruder) auf. Er versohlt ihnen zuerst den Hintern und macht sie dann zu den neuen schwarzen Laurel & Hardy. Sie müssen als Trickfilmclowns agieren. Originell.


Der Junge Youma ist als blinder Passagier im Flugzeugbauch mit nach Brüssel gereist. Das kinderlose Kunstsammlerpärchen aus dem letzten Band nimmt ihn (hoffentlich adoptiv) auf und erfreut sich in seinem existenzialistischem Ennui an den Streichen des Schlingels. Originell.
Die Altnazis entkommen verkleidet und Spirou hat die Eingebung, nach seiner Audrey in deren altem Versteck zu suchen. Er trifft sie als traumatisierte junge Frau an, die im Dunkeln sitzt und ihm erklärt, dass sie erst wieder zu leben lernen muss. Audrey ist offensichtlich einem Vernichtungslager entkommen und erwähnt den „Schrecken des tausendfachen Sterbens“ durch „diese finsteren Männer in Schwarz mit den Totenköpfen“. Tja, das pendelt für mich jetzt tüchtig zwischen „ungelenk“ und „originell“. Schön und berührend, dass es ein Wiedersehen gibt, aber ist es nicht auch unglaubwürdig konstruiert und somit verfälschend?

Wenn man so ein Fass schon aufmacht, dann auch richtig. Der neue Anne-Frank-Comic („Das Tagebuch der Anne Frank“) von Ari Folman und Davod Polonsky (die Macher von „Waltz with Bashir“) zeigt, wie so was in frischer und kreativer Form gehen kann. Ich konnte in das Buch hineinlesen und war ziemlich angetan.
Hier die Besprechung von Andreas Platthaus in der FAZ.

Jetzt ganz zum Schluss müsste man wahrscheinlich noch dieses „Spirou und Fantasio im Kongo“ mit dem alten Hergé-Machwerk „Tim im Kongo“ abgleichen und nach Implikationen und Zitaten suchen. Ich hab keine Lust dazu. Diese Alben haben mich erschöpft. Ich empfehle aber zur Diskussion diesen 3SAT-Clip auf YouTube (5 Minuten), der bestens in die Materie einführt.

Mein Verdacht ist, dass Autor Yann ein Gegenbild entwerfen wollte. Was ihm mit den Figuren Aniota und Youma auch gelingt. Dann aber entwirft er (oder Zeichner Schwartz) doch Hampelmänner wie Tschumbu, Klischees wie dösende Wachen, die alte Medizinhexe sowie seinen „weißen Schwarzen“ Ndundu auf Rachemission.

„Whitefacing“? Die als Europäerin getarnte Aniota besticht korrumpierbare Afrikaner.

Aber „in Afrika, da ist der Teufel los“, wussten schon die „3 Colonias“ in ihrem „In Afrika ist Muttertag“. Holla, humba, humba, humba! Holla, humba, humba, humba!
Nahtlos daran an schließt sich Willems zauberhafte Performance-und-Playback-Katastrophe „Tarzan ist wieder da“, in der sich Weiße rückhaltslos zum Affen machen. Spült das Gehirn wieder frei, Anschau-Gebot!

Fazit:

Die drei Bände von SPIROU SPEZIAL von Yann & Schwartz sind, wie dargelegt, aus diversen Gründen hochinteressant. Aber was den puren Lesespaß betrifft, bekommen sie von mir den sauren Smiley. Ich habe kein Album (sind auch je 62 Seiten) in einem Rutsch geschafft, sondern brauchte mehrere Anläufe zur vollständigen Lektüre.
Das ist nicht die fluffige Franquin-Kunst aus unserer Jugend, liebe Kinder!

Pin-up-Bonusbildchen!