Ich konnte mich tagelang nicht entscheiden, diesen Comic aufzuschlagen – weil ich nicht wusste, wo! Der Clou an dieser Graphic Novel ist, dass man sie von zwei Seiten lesen kann!
MEDUSA UND PERSEUS lässt sich drehen und wenden – und bietet auf der einen Seite PERSEUS, auf der anderen MEDUSA. Sie können also wählen, welcher der beiden Figuren Sie den Vortritt lassen möchten. Perseus oder Medusa? Medusa oder Perseus?
Ich gab mir schließlich einen Ruck und habe mich für PERSEUS entschieden. Wollte mir „das Monster“ aufsparen. Im Nachhinein würde ich Ihnen sogar diese Reihenfolge empfehlen. Erst die konventionellere Heldenerzählung, dann die Introspektion des Scheusals.
Wobei gleich erwähnt sein soll, dass Autor und Zeichner André Breinbauer weder konventionell vorgeht noch Heldenbilder schmiedet. Der Künstler, ein Wahl-Wiener übrigens, beherrscht die Formalien der Standard-Comicseite, erfreut und überrascht aber auch mit stummen Rückblenden in Schwarzweiß, effektvoll aufgelockerten Layouts sowie mit beinahe abstrakten Einschüben.
Überaus spielerisch präsentiert sich das ganze Werk, und dazu passend auch mit viel Humor.
Wir beginnen mit PERSEUS, der bei Breinbauer kein strahlender Held, sondern ein junger Bursche auf einem Himmelfahrtskommando ist. Dieser Perseus ist völlig nass hinter den Ohren, soll seinem sadistischen Stiefvater Polydektes das Haupt der Medusa bringen, um seine Mutter Danae zu retten – verwickelt sich aber erst mal in ein Duell mit einem schwarzen Ziegenbock.
Der Hirt Dimos gewährt ihm Unterschlupf und schult den Jungen in Geschichte und Kampfkunst. Diese Szenen gestaltet Breinbauer mit viel Gefühl für das ungleiche Paar, mit herrlich lakonischen Dialogen und auch mal einem Ausritt in alberne Gefilde, wenn Dimos am Lagerfeuer gereimte Moritaten singt:
„Ganz leise und mit vorgehaltener Hand / Erzählt man sich im ganzen Land / Die Tragödie von Königin Arcanippe. / Ich mach’s kurz: Sie starb an einer Grippe. / Ihr Mann Akrisios stand erst mal unter Schock. / Auf Regieren hatte er keinen Bock …“
Doch das sind nur Schmankerl für Altertumskoryphäen, denn Breinbauer treibt seine Geschichte zielführend voran – und zeigt uns das Grauen der Medusa zunächst in der indirekten Dramatisierung durch Dimos:
Bald zieht Perseus hinaus in die Welt, auf der Suche nach der sagenumwobenen Medusa. Die Graien soll er finden, drei grauenvolle alte Weiber, die womöglich mit dem Monster verwandt sind. In einer grausen Höhle kommt es zum unheimlichen Showdown. Der Comic erlaubt sich eine Passage im Horrorstil, den Breinbauer ohne Probleme meistert.
Hier sehen wir, wie die Graien unseren Perseus begaffen – mit einem Auge. Einem Auge für alle drei, das von Hand zu Hand wandert.
Solche Szenen könnten sich auch in einem HELLBLAZER-Heft ereignen. Breinbauer aber beendet sein Genrezitat, indem er Perseus aus der Höhle flüchten lässt. Dann lockt er die Graien erst mit Essen hinaus, stiehlt ihnen dann das Auge und erpresst das Trio mit der Zerstörung desselben.
Jetzt höre ich aber mal auf, die Handlung zu spoilern, sondern verrate nur noch, dass sich eine Begegnung mit sechs Nymphen anschließt, die den sexuell noch unerfahrenen Perseus nach Strich und Faden veralbern. Wunderbarer Schlussgag: Die Damen statten den Helden mit phallischen Accessoires aus, die Perseus nicht als solche zu deuten versteht.
Ist das alles wirklich wahr?
Dieser Comic lädt natürlich zur Recherche ein. Sollten Sie den gelinkten Wikipedia-Artikel gelesen haben, werden Sie im Vergleich feststellen, dass sich Breinbauer Freiheiten genommen hat. Was völlig in Ordnung ist und seiner Interpretation erst den dramaturgischen Drive verleiht!
(Ich sag nur: Pegasus. Im Original tritt das geflügelte Pferd erst hinterher auf die Szene, bei Breinbauer schon sehr viel früher, womit es als Bindeglied zwischen Perseus und Medusa agieren kann.)
Gebraucht habe ich die Information, dass Athene die Medusa verwünscht, weil sie in ihrem geweihten Tempel das Liebesspiel mit Poseidon vollzieht. Aber was heißt hier „Liebesspiel“? Laut Ovid (und Breinbauer) ist es eine böse Vergewaltigung, die Athene komplett der armen Medusa anlastet, ein Fall von antiker Täter-Opfer-Umkehr.
MEDUSA UND PERSEUS fokussiert auf die im Titel genannten Charaktere – und Breinbauer gibt ihnen aus zwei Perspektiven Raum für ihre individuellen Geschichten und Entwicklungen.
Aus 2 mach 1
Hat man diese Graphic Novel von beiden Enden her gelesen, wird man befriedigt feststellen, dass sich die beiden vereinzelten Erzählungen „in der Mitte“ zu einer größeren Geschichte ergänzen. Die Handlungsstränge von PERSEUS und von MEDUSA verschränken sich zu MEDUSA UND PERSEUS – und wir können entlang der Geschehnisse noch einmal in Gedanken die Pfade zurückverfolgen.
Schlagen wir nochmal bei MEDUSA auf: Das bitter-tragische Leben der Medusa, das natürlich an sein Ende kommt. Hier weicht Breinbauer nicht von der Legende ab, verleiht ihr aber eine moderne Interpretation mit viel psychologischer Selbstbespiegelung. Medusa nämlich hält einen Monolog in der Icherzählung, präsentiert uns ein ironisches Resümee ihres verfluchten Daseins.
Die in ihren Inselhain verbannte Medusa muss sich an ihr Leben „als Monster“ erst gewöhnen. Die ersten Ankömmlinge betrachtet sie mit Neugier, ja trauert sogar um die versteinerten Männer.
Als sie schließlich begreift, dass man(n) sie als Freiwild ansieht (Breinbauer interpretiert den Mythos mit feministischer Note) und „heldenhafte Jagd“ auf sie macht, wandelt sie sich zur sarkastischen Spötterin, die über die Heerscharen immergleicher dumpfer Krieger nurmehr den Kopf schütteln kann. Bis Perseus die Szene betritt.
Schüttel dein Haar für mich
Übrigens musste Breinbauer noch das Kunststück vollbringen, beide Geschichten exakt auszutarieren: Sowohl PERSEUS wie auch MEDUSA laufen 143 Seiten lang, um dann auf der inneren Doppelseite dramatisch zu kulminieren. Wie viel Arbeit und Herumprobieren ihn das gekostet haben mag, darüber lässt sich nur spekulieren.
Beide Erzählstränge haben ihren eigenen Tonfall und können sehr gut für sich allein stehen. Daher ist es in der Tat egal, welchen Part Sie zuerst lesen. Ich war dennoch glücklich, zuerst PERSEUS gelesen zu haben, das spannt den Rahmen auf und verschafft Kontext. Mit MEDUSA konnte ich den Stoff danach vertiefen.
Der Endvierziger André Breinbauer liefert mit MEDUSA UND PERSEUS sein Comicdebüt ab – man darf dankbar dafür sein. Hier ist ein Comictalent am Werk, das mir vom Strich her erfrischend französisch vorkommt und dessen wunderbar lockere Kompositionen in der deutschsprachigen Szene echt gefehlt haben. Wo hast du gesteckt, Mensch?!
HIER noch der Link zur Verlagsseite und zur Produktinformation.
Schwingen auch Sie sich auf den Rücken des Pegasus zu Höhenflügen der Fantasie oder klicken Sie zumindest auf mein Vorstellvideo.