MS. MARVEL – junge Heldin par excellence

Groß war das Geschrei damals, in den USA, dem Land des unbegrenzten Großgeschreis: Eine muslimische Superheldin, eine starke Frau und Muslima – WTF?!

Inzwischen sind über sechs Jahre vergangen, die Schreihälse sind verstummt (nicht aus Einsicht, sondern weil sie sich im Keller verbarrikadiert haben) und MS. MARVEL hat ihren Lauf genommen, sich am Markt etabliert und letzten Sommer eine dritte Reihe begonnen.
Wenn ich die Dinge recht verstehe, legt Panini gerade auf Deutsch einen dickeren Sammelband (12 Hefte) der ersten Serie von 2014 neu auf. MS. MARVEL KAMALA KHAN.

Was bei MS. MARVEL SUPERBERÜHMT loslief, war die neue (zweite) Serie von 2016, allerdings von denselben Kreativen gemacht. Zumindest schrieb dort nach wie vor die G. Willow Wilson, deren Lob man nicht hoch genug anstimmen kann. Die noch nicht einmal 40 Jahre alte Autorin weiß zudem, wovon sie schreibt. Sie ist nämlich zum Islam konvertiert.
Die dritte Reihe seit 2019 (MAGNIFICENT MS. MARVEL) schreibt inzwischen Saladin Ahmed, ich habe sie noch nicht gesehen, die scheint auch auf Deutsch noch nicht in Sicht zu sein.

Ich hatte vor zwei Jahren den deutschen Band SUPERBERÜHMT gelesen, war sehr begeistert und habe nun mal (auf Englisch) von vorne angefangen: MS. MARVEL NO NORMAL. Ein umwerfend origineller, warmherziger und amüsanter Jugendcomic, an dem auch alte weiße Männer wie ich ihre Freude haben können.

2014 lebt der Teenager Kamala in Jersey City und geht zur Highschool. Ihre Familie ist muslimisch orientiert, aber nicht strenggläubig. Diese Seite stellt uns die Figuren vor:

Sehr kompakt und auch lustig macht die Szene klar, dass Spannungen herrschen:
Die Eltern haben sich in Amerika integriert, doch die Tochter ist rebellisch (zu amerikanisch-freiheitsliebend in den Augen ihrer Erzieher) und Sohn Aamir ist der orthodoxe Muslim. So stellt G. Willow Wilson auf wenigen Bildern die ganze Bandbreite von „Menschen mit Migrationshintergrund“ auf.

Kamala schleicht sich nachts raus auf eine Party und gerät in einen seltsamen Nebel, der bei ihr eine „Mutation“ bewirkt. Sie entwickelt die Fähigkeit des Formwandelns (shape-shifting). Da ihr erklärtes Vorbild (Kamala ist auch ein Superhelden-Geek und schreibt Avengers-Fanfiction!) die strahlende CAPTAIN MARVEL ist, formwandelt sie sich zunächst in eine hagere Blondine, kann dergestalt eine Klassenkameradin vor dem Ertrinken retten, stolpert dann jedoch ratlos und verwirrt durch die Nacht – und wird auf der Straße noch von einem Obdachlosen dumm angemacht:

Kamala geht in sich und grübelt, ob und was sie mit ihren eigenartigen Fähigkeiten anfangen will. Es sticht sie der Hafer, weitere Abenteuer versuchen zu wollen. Auf dieser Seite reckt sie schwurartig eine Riesenfaust in die Luft.

Damit komme ich zwischendrin mal auf das Artwork von Adrian Alphona zu sprechen (kongenial koloriert von Ian Herring). Alphona gestaltet MS. MARVEL in halb-karikatureskem Stil und nimmt dem Stoff damit jegliche Schwere und eigentlich auch jeden Ernst.
MS. MARVEL ist eine Superheldenerzählung, jedoch auf beinahe parodistisch zu nennendem Fundament angelegt.

Betrachten wir ein nächstes Beispiel. Kamala trainiert ihre Fähigkeiten, hier beim Sprinten. Ihr bester Freund und Vertrauter Bruno ist als einziger Mensch eingeweiht in ihre Geheimidentität und nimmt die Zeit – mit lakonischen Kommentaren.
Beachten sie, was Alphona hier tut: Im Vordergrund sehen wir einen fast realistisch gezeichneten Bruno, im Hintergrund ein groteskes Kamala-Strichmännchen. Ist das Formwandelei oder karikaturistische Verzerrung?
(Ich halte beides für denkbar, damit entfaltet dieser Comic eine grafische Schwerelosigkeit, die mich fasziniert.)

 

Spider-Man (weiblich)?

 

Mein Freund, der Autor und Übersetzer Josef Rother, bemerkt scharfsinnig wie immer, dass sich MS. MARVEL auf die Spider-Man-Formel beruft: Jugendlicher Mensch erhält per Zufall Superkräfte und muss erst mal lernen, damit umzugehen und einen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Im Falle von Kamala Khan läuft das auf eine Geheimidentität hinaus, rein schon ihrer Familie wegen. Vater, Mutter und Bruder dürfen nicht mitkriegen, dass sie sich nachts hinausschleicht und als Superheldin MS. MARVEL durch die Gegend springt. Kamala darf ja schon als Kamala nicht raus, weil sie noch Teenager ist und von den verderblichen Einflüssen der Außenwelt (Jungs, Alkohol, Rockmusik) verschont bleiben soll.

Dass sich MS. MARVEL nur durch eine dünne Augenmaske von Kamala unterscheidet, ist natürlich Quatsch und nicht besonders glaubwürdig. Aber, hey, es sind Superheldencomics!
Zudem kann man es als charmante Hommage verbuchen an brillante Verkleidungen wie Clark Kents Brille oder die Augenmaske von Denny Colt alias The Spirit.

MS. MARVELs Kostüm besteht ansonsten aus einem umfunktionierten Burkini, was ich sehr lustig finde. Statt in Spandex kleidet sich Kamala in einen flexiblen Ganzkörper-Badeanzug, den ihr Kumpel Bruno noch mit einer Chemikalie behandelt, damit er „mitwachsen“ kann.
(Der alte Gag über Formwandler geht ja dahin, dass die eigentlich mit jeder Wandlung ihre Klamotten zerfetzen müssten.)

Bei einem nächsten Einsatz als MS. MARVEL gerät Kamala in einen Überfall (der kaum einer ist, aber das lesen Sie bitte selber) im Kiosk, in dem Bruno arbeitet: Es kommt zu einem Handgemenge, es löst sich ein Schuss, MS. MARVEL geht blutend zu Boden.
Sie wandelt sich zurück in Kamala, denn nur als normaler Mensch kann sie regenerieren!

Schauen Sie mal, welch hübsche Komik Wilson und Alphona aus dieser dramatischen Szene schlagen. Die Kugel steckt noch in Kamalas Körper – oder nicht?

Auch begeistert mich an dieser Serie, dass sie nicht vor Skurrilitäten zurückschreckt, im Gegenteil: Der Superschurke des ersten Handlungsbogens ist ein Vogelmensch (in den man offenbar den erfinderischen Geist von Thomas Alva Edison hineingeklont hat).
Der „Birdman“ trägt nicht nur spinnerte Klamotten, sondern hält sich noch für einen Wohltäter der Menschheit. Er entzieht Menschen, die er gefangenhält, ihre Körper-Elektrizität, um so den CO2-Fußabdruck der Menschheit zu senken.

Das Dollste ist dabei noch, dass die meist jugendlichen Opfer sich freiwillig ausnutzen lassen! Sie haben noch keinen Plan für ihr Leben, daher können sie doch aus was für die Umwelt tun, oder?
(Klingt wie ein sarkastischer Seitenhieb auf „Fridays for Future“, doch die Bewegung gab es zum Entstehungszeitpunkt des Comics noch nicht.)
Zum Showdown erscheint der Birdman mit einem Exoskelett-Kampfroboter (dem ein keckes Hütchen aufgesetzt ist)!

Abschließend zeige ich noch zwei Seiten, um zu demonstrieren, wie kunstvoll Wilson und Alphona zu Werke gehen. Szene ist folgende: Kamala bekommt ihren Hund.
Den ihr die Inhumans (erkläre ich jetzt nicht) zur Seite stellen. Das Riesenviech hört auf den Namen „Lockjaw“ und hat Teleportations-Fähigkeit.

Auf Seite 1 folgen wir (mit der Kamera) einem Paar, das seinen Mops ausführt. Das Thema Hund ist somit elegant aufgemacht. Die Kamera rückt näher, das Paar und der Gassihund schauen sich erschrocken um. Wer ist ihnen da im Nacken?
Nun sehen wir auch Kamala im MS. MARVEL-Outfit, die auf der Straße Befragungen durchführt. Was da die Straße entlangkommt, stürzt offenbaur auf unsere Heldin zu!

Näher und näher schieben wir uns an Kamala, die noch gar nicht mitbekommen hat, dass da was auf sie zukommt. Alle Menschen rennen entsetzt aus dem Bild, erst jetzt wendet Kamala ihren Kopf (Moment der Double-Take-Komik) und erkennt den Riesenhund – und zwar mit Begeisterung.

MS. MARVEL hat ein Herz für Freaks, sie umarmt ihren Gefährten Lockjaw, als sei er bereits ein guter Freund. Das verdeutlicht noch einmal den Spirit dieser Serie, die offen mit allen Erscheinungen und Konzepten umgeht.
Mit Abwehrhaltungen kommt man im Leben nicht weiter. Auch das vermittelt uns unterschwellig die wunderbare MS. MARVEL alias Kamala Khan.

Aus dem Panini-Band SUPERBERÜHMT habe ich noch tolle Szenen im Gedächtnis, von denen ich noch schwärmen könnte, doch ich lade Sie ein, MS. MARVEL selber zu entdecken.
Ich halte es weniger für einen Superheldencomic, sondern eher für eine Coming-of-Age-Komödie mit skurrilem Touch.

Und wie immer können Sie auf Instagram (oder hier natürlich, per Klick) ein kurzes Video abrufen, in dem ich durch den Comic blättere: