Westerncomics gibt es wie Sand am Meer, doch nur die allerwenigsten taugen was. Ich wage mal den Versuch eines höchst subjektiven und schwer pauschalisierten Abrisses, um Ihnen das Genre näherzubringen. Ich liebe Westerncomics und auch Westernfilme.
Obwohl sowohl der Westernfilm wie auch der Comic als US-amerikanische Medien betrachtet werden können, haben die USA kaum einen lesenswerten Westerncomic hervorgebracht!
Auf Ausnahmen (aus meist jüngerer Zeit) sei hier schnell verwiesen: Die JONAH-HEX-Serie brachte einige hübsche Resultate hervor, wie auch MANIFEST DESTINY, THE SIXTH GUN oder PRETTY DEADLY.
Allesamt, kein Zufall wahrscheinlich, Crossover-Werke in den Horrorbereich hinein.
Darin sind sie Weltmeister, die Amis …
Solider Westerncomic aus den USA ist und bleibt Fehlanzeige! Natürlich gab es massig Westernheftchen in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren, doch war dies Merchandising zur Kapitalisierung von TV-Darstellern (TOM MIX, HOPALONG CASSIDY, GUNSMOKE, ROY ROGERS, GABBY HAYES) bzw. formelhafte Fließbandprodukte von Zeichnern, die nebenher auch Romance, Crime und Horror gestalteten (LONE RANGER, RAWHIDE KID, DAVY CROCKETT).
Der amerikanische Westerncomic ist so fad und austauschbar, dass es meines Wissens nach nicht mal Fachliteratur darüber gibt (für alle anderen Genres hingegen schon!).
(Auch hier rasch eine Ausnahme: Alexander Brauns exzellenter Katalog zu seiner Ausstellung „Going West. Der Blick des Comics Richtung Westen“, der sich allerdings mehr dem frühen Comicstrip widmet.)
(Nachtrag Februar 2024: Und ich muss mich korrigieren! In Brauns Western-Folgebuch „Staying West! Comics vom Wilden Westen“ spricht der Autor von europäischen Westerncomics und betont die Bedeutung von Fred Harmans langjährigem US-Comicstrip RED RYDER, der bereits ab 1939 eine französische Lizenz im Magazin SPIROU fand – und dort den Hauszeichner Jijé inspirierte!
In Brauns deutlichen Worten: „Ohne RED RYDER von Fred Harman kein JERRY SPRING von Jijé und ohne JERRY SPRING kein BLUEBERRY von Jean Giraud.“
Dazu gleich mehr.)
Aber erst mal behaupte ich weiter frech: RED RYDER ist die singuläre Ausnahme, die doch auf Europa abgestrahlt hat, allerdings im deutschsprachigen Raum nie zu sehen gewesen ist!
Gute Westerncomics kommen aus Argentinien, Belgien und Frankreich.
José Luis Salinas und Arturo del Castillo gestalten die klassischen Strips CISCO KID bzw. KENDALL, die über ganz Europa vertrieben werden. Diese beiden sind allerdings ‚nur‘ stilsichere Illustratoren mit einem althergebrachten Verständnis von Comic als Bilderzählung.
Lebendig wird Western erst unter der Feder von Joseph Gillain, besser bekannt als Jijé, den ich als „Übervater des frankobelgischen Comics“ bezeichnen möchte. Er ist der Pionier der flüssigen Dynamik in Europa und bringt all den Großen das Zeichnen bei: André Franquin, Peyo, Jean-Claude Mézières, Jean Giraud, Hermann und Morris (LUCKY LUKE).
Sein Westernwerk beginnt 1954 mit der Serie JERRY SPRING, die es auf 21 Alben bringen wird. In Jijés Fußstapfen treten in den frühen 1960er-Jahren die erwähnten Zeichner Giraud und Hermann, die zu eigener Reife und eigenem Stil finden und die beiden maßgeblichen Westerncomics aller Zeiten schaffen: BLUEBERRY und COMANCHE.
An diesen beiden meisterhaften Serien arbeiten sich seit 50 Jahren Generationen von Zeichnern und Autoren ab (und beißen sich die Zähne aus) – ohne wirklich etwas Neues geschweige denn einen Mehrwert hinzubekommen.
Die bekanntesten Nachahmer sind JONATHAN CARTLAND, MC COY, DURANGO, UNDERTAKER, TEX, ETHAN RINGLER oder BOUNCER.
(Darunter krasseste und dreisteste Kopisten wie WANTED, dessen Zeichner sich noch frech „Girod“ nennt.)
(Auch hier mache ich eine Ausnahme für das eklektizistische DEAD HUNTER, hier besprochen, das ebenfalls in Kombination mit Horror immerhin noch Spaß macht.)
Kurz: Die Geschichte des Westerncomics ist ein Trauerspiel.
Ich persönlich falle immer wieder auf BLUEBERRY und COMANCHE zurück, geht einfach nix drüber – bis neulich!
Denn MARSHAL BASS ist da und hat mich total geflasht!
Endlich ein Westerncomic, der nicht nur grafisch anders aussieht, sondern auch inhaltlich eigene Wege geht.
Autor Darko Macan (ein Kroate) nimmt klugerweise Abstand von komplexen Abenteuerplots, langatmigen Bürgerkriegsdramen oder verschwafelten Rachefeldzügen, sondern präsentiert uns erfrischend bodenständige Geschichten:
Band 1 („Black & White“) dreht sich um die Zerschlagung einer Bande marodierender, ehemaliger Sklaven. Marshal Bass ist die logische Wahl zur Unterwanderung derselben, ist er doch ein Schwarzer. Welche Konflikte sich daraus ergeben und wie radikal diese gelöst werden, zeigt uns der Auftakt dieser Serie.
Band 2 („Familienmorde“) schildert, wie Bass einer Siedlerfamilie auf die Spur kommt, die vom Verkauf der Ausrüstung ermordeter Wanderer lebt. Solche Geschichten habe ich noch nie aus dem Westen gehört, aber ich glaube augenblicklich, dass sie wahr sein könnten.
Ein brutaler und erschreckender Subplot verfolgt den hitzköpfigen Sohn Janwillem, der die eigene Schwester zur Frau nimmt und ein Gangster werden will. MARSHAL BASS spart auch nicht aus, dass Hauptfigur River Bass Fantasien von der hübschen Pionierstochter Sabien hat und fast mit ihr ins Bett geht.
Überhaupt die Figuren, meine Fresse, die Figuren!
Ich habe ewig nicht mehr so clever gezeichnete, lebendige, glaubhafte, selbst witzige Charaktere im Comic gesehen. Ganz groß!
Vorneweg River Bass, unser Marshal. Basierend auf dem historisch verbürgten, ersten schwarzen Deputy US Marshal der Geschichte (s. Wikipedia-Eintrag), nimmt sich der Comic MARSHAL BASS jede Freiheit, den wackeren Gesetzeshüter als struppigen Streuner in schon fortgeschrittenem Alter zu zeigen, der den Job womöglich nur annimmt, um dem heimischen Herd zu entkommen und ein paar Abenteuer zu erleben. Auch wenn der Tod dabei an jeder Ecke lauert!
Bass ist cool und er ist frech und bauernschlau, alles andere als ein Held, allerdings auf seine jeweilige Mission eingeschworen – die er auch schon mal beendet, indem er einfach abdrückt, weil der Moment grad opportun ist, sein Gegner nicht damit rechnet und er so schnell zum Ziel kommt.
River Bass ist zäh und leidensfähig (genau solcher Eigenschaften will ich im Western porträtiert sehen): Nachdem ihn die mörderische Familie verwundet und der Stiefel beraubt hat, nimmt Bass barfuß die Verfolgung durch die Wüste auf:
„Ich hatte die meiste Zeit meines Lebens keine Schuhe an den Füßen … und der Stamm meiner ersten Frau hat mir das Laufen beigebracht.“
Und dann rennt er los, holt die Bande (gleichwohl sonnenverbrannt und erschöpft) im nächsten Ort ein, kann sie bloßstellen und schaut sich an, wie die Übeltäter gelyncht werden. Anschließend gönnt sich Bass ein heißes Bad im Hotel und ist zu müde, noch ein leichtes Mädchen mit aufs Zimmer zu nehmen.
Find ich wundervoll. Das sind Plots, die irgendwo zwischen Italo- und Neo-Western oszillieren und einen ganz eigenen, unaufgeregten ‚Sound‘, Look und Feel verbreiten.
Weiter im Ensemble:
Bass‘ tüchtige Frau Bathsheba, die die Farm in Schuss hält und von einer unübersichtlichen Kinderhorde umschwärmt wird.
Der schuftige Milord, der als Weißer eine Band schwarzer Banditen befehligt, dabei natürlich über Leichen geht, aber auf eine sardonische Weise, die mich an Henry Ford in SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD erinnert.
(Allein dass mir dieser Comics diesen Vergleich heraufbeschwört, ist schon eine Freude…)
Der aufrechte Colonel Terrence B. Helena, der Bass vertraut und ihm den Marshalsstern ansteckt. Ein Mann von trockenem Humor wie unbeirrbarer Dienstbeflissenheit, der Bass im ersten Band gleich zweimal vom Strick schneiden muss (weil es ein Schwarzer, Marshal hin oder her, im Westen schwer hat). Er tut dies ohne jede Eile und schenkt Bass noch einen schönen Hut (den das Einschussloch seines letzten Opfers ziert, s. oben).
(Auch die Klassiker hattten schöne Nebenfiguren: BLUEBERRY hatte Jimmy McClure, COMANCHE Ten Gallons – aber das waren bloß Transformierungen der Sidekick-Funktion des ‚alten Kauzes‘ aus Filmklassikern wie „El Dorado“ und „Rio Bravo“.)
MARSHAL BASS bietet erstaunlicherweise nur memorable Typen auf, ich hebe nochmal die Banditen Beef und Pork aus dem ersten Band hervor, die sich damit aufziehen, ob Rinder- oder Schweinefleisch von höherer Güte wäre.
Beide träumen vom Genuss dieser Delikatessen, ihr Zwist läuft wie ein running gag durchs Album und erhält zum Ende noch eine tragikomische Note. Wunderbar einfach und doch so kunstvoll.
Oder der verzweifelte Sklave Jonah (präsent nur auf 9 Seiten!), der seine weißen Herren ausgeliefert hat, jedoch um seinen Lohn betrogen wird … jede verdammte Figur in MARSHAL BASS hat eine klar umrissene Funktion – und ihr Schicksal lässt uns mitfühlen!
Ich weiß gar nicht, wie Macan, dieser Magier, das macht. Wir müssen mal in die Analyse einsteigen.
Ich denke, er verwendet erstens weder Helden noch sonstige Stereotypen, sondern Menschen mit Motivationen – und zweitens ‚besetzt‘ er jede Szene seiner Geschichte mit Charakteren, die ebendiese Szene befördern und authentisch wirken lassen.
Der Zauber von MARSHAL BASS liegt darin, dass er unkonventionelle Westernepisoden mit konventionellem Personal erzählt. Es treten auf: der Sklave, der Marshal, der Kopfgeldjäger, der Offizier, die Landschönheit, der Siedler, die Hure – aber die Rollen changieren, sind fluide und trügerisch. Obwohl wir uns auf vertrautem Terrain bewegen, zieht uns dieser Comic den Boden unter den Füßen weg. Darin liegt der Reiz dieser neuen Serie.
Ein Wort zum Artwork:
Zeichner Igor Kordey (auch ein Kroate) wird andauernd mit Richard Corben verglichen, was stimmt. Corbens Einfluss ist unübersehbar (die Komposition, die Lichtsetzung, die klumpigen Körper mit den grotesken Gesichtern, die windschiefe Dynamik), selbst die Farbgebung ist nahe an Corbens grelle Palette angelegt.
Der malerische Eindruck, den MARSHAL BASS damit kreiert, ist neu im Westerncomic.
Auf mich wirkt es sehr ungewohnt, fast unbehaglich – und das ist ein weiterer Faktor, der diese Serie so markant macht. Irgendetwas ist falsch an dieser Welt.
(Auch Corbens ‚Malereien‘ transportieren eine anderweltliche Qualität, die bei Corben jedoch durch die fantastischen Sujets aufgefangen werden.)
Hier im Western sind wir von diesem Artwork irritiert. Es arbeitet gegen den Realismus, den wir erwarten und aus anderen Serien gewohnt sind. Es erlaubt einen Hauch von Distanz, der uns MARSHAL BASS mit reflexiven Hintergedanken lesen lässt.
(Meint: Ich tauche nie ein in diesen Comic, sondern bin mir bewusst, dass man mir Westernhäppchen präsentiert – die ich mir feinschmeckerhaft auf der Großhirnrinde zergehen lasse!)
Kordeys Zeichnungen sind weder schön noch beeindruckend noch erstklassig.
Aber sie sind kompetent, dienstlich, atmosphärisch und im Zusammenspiel mit den fiesen Storys am Ende doch fulminant!
(Auch das ist eine der Mysterien der Comickunst: die magische Synergie von Text und Grafik.)
Danke, MARSHAL BASS!
Danke, Darko Macan und Igor Kordey – Danke auch, EU-Binnenmarkt!
Jetzt können Fachkräfte aus Osteuropa ran, um den dekadenten, westlichen Westerncomic zu sanieren!
MARSHAL BASS ist ein dreckiger, ein schwitziger, ein überraschender und unberechenbarer Westerncomic wie es noch keinen gab. Unvergleichlich!
Modernes Meisterwerk, ich stelle ihn neben BLUEBERRY und COMANCHE. Hat er sich verdient.
Zwei Alben sind erhältlich (jeweils 14,80 Euro, bei Splitter), im Sommer kommt das dritte.
(Die Pressevorschau sagt zu Band 3: „Auch ein Sheriff wie Marshal Bass ist vor schiefem Haussegen nicht gefeit! Während seine Frau sich um die Familienfarm und Bass‘ zahlreiche Kinder kümmert, macht ein mexikanischer Großgrundbesitzer ihr Avancen – aber sie ist dafür nicht wirklich in Stimmung. Denn eine ihrer Töchter ist mit einem durchreisenden Indianer durchgebrannt, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat. Weiß der Himmel, wo sie inzwischen steckt...“)
Da jubele ich jetzt schon! Das wird ja immer origineller …