Als Comicfreund Richard Corben nie begegnet zu sein, dürfte unmöglich sein. Der Amerikaner aus Missouri zeichnet seit 1969, feiert dieser Tage runden Geburtstag und ist heute noch aktiv!
Wer je Berührung mit dem Volksverlag hatte, ist Corben über den Weg gelaufen: SCHWERMETALL, DEN, BLOODSTAR usw. Auch als Illustrator von Edgar Allan Poe hat Corben Furore gemacht, als Kurzgeschichtenzeichner für die Warren-Magazine und später auch für Marvel.
Die deutsche Wikipedia-Seite listet Dutzende von Corbens Comics (und ist dabei noch unvollständig). Man lese und staune. Unmöglich auch, alles von Corben zu kennen. Deshalb habe ich für diesen Beitrag einfach ein Werk ausgesucht, was aus der Frühphase (1978) stammt, aber seinerzeit großen Eindruck auf mich machte. Ist heute noch schön.
Was kann der Mann?
Warum feiern wir Richard Corben? Ich fand im Netz ein Harvey-Kurtzman-Zitat:
„Corben’s technique introduced the airbrush to comics. His sophisticated knowledge of how color is printed allowed him to get fantastic results. His work has maintained a sense of humor and spectacle in tales of barbarians, time travelers and Arabian nights.“
Kurtzman fasst es zusammen: Das Besondere an Corbens Kunst ist sein Arbeiten auf Papier mit Airbrush und Farben, wie es sie zuvor im Comic noch nicht zu sehen gab.
Zudem hat er einen Sinn für Dramatik, der sich in griffigen Kompositionen niederschlägt (kein Wunder, denn Corben hat als junger Mann im Animationsbereich gearbeitet).
Es wäre verfehlt, Corbens Comics als „schön“ zu titulieren: Sein Artwork ist ruppig, klumpig, teilweise billig zu nennen – aber es hat einen umwerfenden Effekt!
Corben ist einer dieser Künstler, die so persönlich arbeiten, dass man ihren Stil augenblicklich wiedererkennt. Außerdem ist er niemals langweilig gewesen.
Aber schauen wir mal rein in den von mir ausgewählten Stoff: Beim erwähnten Volksverlag als NEUE GESCHICHTEN AUS 1001 NACH bereits 1981 veröffentlicht, habe ich mir die Carlsen-Neuausgabe von 1995 antiquarisch geholt: NEUE GESCHICHTEN AUS ARABISCHEN NÄCHTEN.
Auch wenn der Comic sich anfangs in Rahmenkonstruktionen verheddert (Erzählung in der Erzählung in der Erzählung), gerät er ab Seite 13 in sein Hauptfahrwasser und präsentiert ein orientalisches Abenteuer mit viel Schauwert (und sogar ein wenig Herz).
Auch enthält sich Corben hier einiger seiner Corben-Klischees, dem nackten kahlköpfigen Muskelmann etwa, des Weiteren sind die Frauenfiguren nicht übermäßig sexualisiert und werden auch nicht Opfer physischer Gewalt.
(Was in den Comics dieser Jahre leider oft Standard war.)
Mir gefällt ebenfalls die differenzierte Darstellung der Hauptfigur Sindbad, denn in den NEUE GESCHICHTEN AUS ARABISCHEN NÄCHTEN geht es um „Sindbads neue Abenteuer“, eingebettet in den bekannten Rahmen der „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“.
Ein blasierter, seiner Eheroutine überdrüssiger Sindbad läuft seiner Frau Suleika davon und gerät in den Gassen Bagdads in ein unglaubliches Abenteuer. Ein böser, formwandelnder Ifrit (hier in Gestalt eines Drachens) überfällt ihn und behauptet, Sindbad habe seine Frau getötet (was nicht stimmt). Der dämonische Al-Ra’ad al-Kasif zieht los, um im Gegenzug Suleika zu meucheln.
Doch Suleika ist fort, zu Sindbads eigenem Erstaunen. Er begibt sich mit seinen Freunden Judar und Behram sowie der schönen Akissa (der Braut des Ifrits!) auf die Suche. Sie erhoffen sich Hilfe vom König der Dschinns, dem mächtigen Zu’l Janahayn.
Verweilen wir einen Moment und betrachten Corbens Artwork genauer: Bemerkenswert ist die Darstellung des Drachens, der mit durchschlagenden Lichteffekten inszeniert wird. Anstelle von Augen malt ihm Corben glühende Pupillen; im ersten Panel verschwindet das halbe Gesicht in diesem hypnotischen Glanz, nur die zahnbewehrte Schnauze ragt hervor. Noch weiter im Vordergrund steht die Klaue des Biests, Sindbad umklammernd.
Eine interessante und gewagte perspektivische Verkürzung – nicht unbedingt elegant, aber drastisch in seiner Bedrohlichkeit.
Auch das Wüten des Ungeheuers in der Hausruine besticht durch den zentralen Helligkeits-Effekt, von dem völlig unklar ist, woher der eigentlich stammen soll. Wo ist hier die Lichtquelle? Aber er tut seinen Zweck! Schön auch der filmische Umschnitt auf den zeternden Sindbad, der vom roten Widerschein des Feuers angestrahlt erscheint.
Die Darstellung der Wüstendurchquerung fasziniert durch ein cinemaskopartiges Panorama: Im Zentrum der Seite bewegt sich eine winzige Karawane vor der übergroßen Reliefwand einer Wüstenstadt. Unklar ist, ob die dort auftauchenden Wesen in den Fels gehauen sind oder nur überlagernde Fata Morganas sein sollen. Eine seltsam daher staksende Echse im Bildvordergrund verstärkt den skurrilen Eindruck.
Unten schließlich ein lakonischer Dialog, der Akissa als kaltherzige, berechnende, pragmatisch denkende Frau charakterisiert.
Die Karawane kommt zur fliegenden Geisterfestung Ketra und wird sofort von reitenden Toten angegriffen (aus der Luft!): Wieder gestaltet Corben großformatige Panels, um der Phantastik Raum zu geben. Die kruden Zeichnungen werden wettgemacht durch halluzinatorische Farben.
Die Freunde geraten in Gefangenschaft und finden sich in den Kerkern Ketras wieder. Folgende Szene ist „Film auf Papier“ par excellence: Der aus dem Koma erwachende Sindbad adressiert Judar, von dem er eine Vision hatte. Corbens Kamera, die die Figuren im Halbschatten versteckt, fährt langsam auf Judar zu, im dritten Bild nimmt sie ihn zentral, wohingegen Sindbad und Behram plötzlich weit in den Hintergrund rücken (als seien sie vor Entsetzen zurückgewichen).
Alles für den Effekt: Man hat Judar die Zunge herausgeschnitten. Erst jetzt offenbart die Figur Schmerz und eine Blutspur am Kinn. Judar ist mit seinem Elend allein in diesem Panel. Plakativer kann man diese Tortur im Comic nicht darstellen. Ich bin bis heute von dieser Kamerafahrt und diesem Erkenntnis-Schock beeindruckt.
Sindbad ist im Folgenden unfreiwilliger Gast des Menschenfressers Ali Ben-Abda, dessen Auftritt wir hier erleben. Muss ich noch betonen, wie grausig-schön Corben diesem Charakter Leben einhaucht?
Riesenhaft thront der Kannibale mit absurd großem Nasenzinken und Hauern im Maul (dazu winzigen Äuglein) über dem im Schatten verlorenen Sindbad. Seine lockende Pranke verheißt zudem nichts Gutes.
Wie der tapfere Sindbad den unheimlichen Oger besiegt, was aus der geheimnisvollen Akissa geworden ist, ob der König der Dschinns auftaucht und ob es ein Wiedersehen mit Suleika gibt – all das verrate ich hier nicht.
Ich zeige weiter unten noch ein „Actionbild“ von einem Zombiekampf auf einem fliegenden Schiff und linke Ihnen noch drei YouTube-Clips sowie mein Instagram-Geblätter.
Ein Hoch auf Corben, der Richie ist 80. Still going strong.
Ich bin dankbar, dass sich dieser Irre in die Neunte Kunst verirrt hat.
Und mit mir danken ihm viele – für seine schrägen Kreationen (und Kreaturen!), seine wahrlich fantastischen Welten, seine knalligen Farborgien und seine stets unterhaltsamen Ausgeburten. Corben mag ab und an schief, falsch und verzerrt zeichnen – aber auf faszinierende Weise.
(Corben hat sogar Nachahmer in seinem Stil gefunden, man mag es kaum glauben, etwa den deutschen Zeichner Toni Greis oder den Kroaten Igor Kordey.)
Was lesen von Corben?
Ich möchte Ihnen abraten von seinen Hauptwerken DEN und MUTANTENWELT, das sind in meinen Augen recht eindimensionale, redundante und auch trübe Endzeitgeschichten mit klischeehaftem Fantasytouch.
Ich empfehle frühe Wildheiten wie ROWLF und DIE BESTIE VON WOLFTON sowie seine Arbeiten für Warrens CREEPY-Magazin (auf Englisch bei Dark Horse erschienen; die deutsche Ausgabe von Splitter ist sogar größer, allerdings auch fast doppelt so teuer), seine Beiträge für HELLBOY sowie die ARABISCHEN NÄCHTE.
Letzteres ist kein Meisterwerk der Comickunst, doch Corben ist hier perfekt aufgehoben: triste Phantastik, fiese Dämonen, ein Hauch von Erotik.
Das alles in seinen eigenartigen Farben! Diese von Jan Strnad geskriptete Geschichte verbreitet eine konsistente Atmosphäre des lauernd Übersinnlichen.
Die Franzosen haben Richard Corben im Jahr 2018 in Angoulême mit einer großen Ausstellung sowie dem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Folgendes Video ist seine Grußbotschaft.
Wie meistens habe ich einen Insta-Clip aus der Hüfte geschossen und blättere durch die ARABISCHEN NÄCHTE und zeige auch noch Pröbchen aus HELLBOY und den CREEPY TALES.
Wer noch mehr von Richard Corben online schauen möchte, sei auf zwei weitere Links hingewiesen:
Comicfan Richard Friend zeigt in einem langen Video auf YouTube einen Überriss über Corbens Artwork und diskutiert Bild für Bild die Machart der Zeichnungen.
Folgender deutscher Clip analysiert und empfiehlt auf fünf Minuten Werke von Corben: