Frischer Wind aus Frankreich: INITIAL_A

Eine Art Urknall geschieht und eine Stimme aus dem Off (schwarz auf weißem Grund) spricht zu uns. Oder spricht sie zu der jungen Frau, die sich auf der sonnigen Ebene materialisiert hat?

Sie begreift nicht, wo sie ist und wozu man sie dorthin gebracht hat. Es erscheint eine fliegende Robot-Drohne, die sich jedoch auf kein Gespräch einlassen will und die es überhaupt viel zu eilig hat.
Denn sie ist „viel zu früh dran in dieser frühen Zukunft“.

Die Stimme fordert die Frau auf, sich „auf die Erzählung zu fokussieren.“ Sie möge sich der Geschichte(n) erinnern, denn ohne Geschichte(n) sei sie nicht existent. Sie sei die Seele der Menschheit, angewiesen auf Geschichte(n) – und sie, die Stimme, versuche einen Reset, eine Neu-Initialsierung nach einer Katastrophe.

Die Menschheit habe die Fähigkeit verloren, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Kollektive Paranoia und emotionale Abstumpfung seien alltäglich geworden. Die Welt sei in einem programmierten Chaos falscher Informationen untergegangen.

Wir lernen, dass die junge Frau „Alice“ heißt bzw. die Stimme sie so nennt. Die Drohne kehrt zurück und lässt sich auf ein Gespräch über Lewis Carroll ein. Der habe übrigens Geschichten erfunden und somit Realität gestaltet.

Und wir bemerken, dass die Drohne ein technoider Wiedergänger des weißen Kaninchens ist, mit dem der Roman „Alice im  Wunderland“ beginnt. In diesen Comic implementiert, um eine Referenz zu einer der wirkmächtigsten Erzählungen der Menschheit herzustellen.

Doch wo das weiße Kaninchen im Original immer zu spät dran ist, ist die Drohne hier stets zu früh … weil ihre Erzählung in dieser Tabula-Rasa-Parallelwelt noch nicht erfunden wurde?!

INITIAL_A gibt einem intellektuell schön was zu knacken.
Andererseits buchstabiert uns die Stimme aus, was mit Alices voriger Welt passiert ist: Künstliche Intelligenz habe das Internet und die sozialen Medien mit Abermilliarden erfundenen Zufallserzählungen geflutet und die Gehirne der Menschen verwirrt.

Die Stimme beschwört Alice, sich zu erinnern. Das pure Konsumieren abzuschütteln und eine neue, eigene Erzählung in Gang zu setzen, um die Kreativität der Menschheit zu retten.

In einer weiteren Begegnung sucht Alice die Hilfe der Drohne. Die soll ihr Starthilfe mit einer Geschichte geben. Die Drohne sondert ein paar lyrische Sätze ab, gesteht aber gleich, das sei keine Poesie, sondern bloß Wörter aneinandergereiht in algorithmischer Wahrscheinlichkeit. Und schon ist sie wieder weg, unser kleines Teufelchen aus der Zukunft

Am Ende bleibt die Frage, ob diese philosophische Phantasmagorie ein innerer Monolog zwischen der Stimme und Alice ist. Das Selbstgespräch einer ausgebrannten Menschheit, die keine Geschichten mehr erfinden will – sondern sich in individuelle Traumwelten flüchtet. Das metaphorische innere Exil?!

Alles nur Daten-geklaut?

Es gibt wenig Handlung in INITIAL_A, was dem Werk die Anmutung eines bebilderten Dialogs verleiht. Die Bilder sind auf ihre Weise „schön“, allerdings oft redundant und erstarrt: Alice beispielsweise steht auf ca. 45 von 150 Seiten bewegungslos in einer Art sandiger Steppenlandschaft herum.
Auch das mehrfache Auftreten der „Kaninchen-Drohne“ gestaltet sich immer gleich und darf durchaus für einen Running Gag gehalten werden.

In der Gegenrede könnte man argumentieren, dass der Kosmos von INITIAL_A konsistent bleibt und sich weder Ausreißer noch wilde, unverständliche Sprünge leistet. Die Grafik ändert sich markant nur dort, wo Alice in Träume versinkt. Geht es um Technologie, werden diese Passagen mit Kollagen von Fabriken, Werkräumen und Bildschirmen hinterlegt.

Und jetzt kommt der Clou, den manche von Ihnen vielleicht schon erahnt haben: Dieser Comic ist komplett computergeneriert. Also die Bildwelten, das Skript war schon vorher da.

Der Autor und Zeichner Thierry Murat hat INITIAL_A in fünf Monaten mit der KI-Software Midjourney illustriert. Das war für ihn a) ein Experiment und b) seine gewagte künstlerische Entscheidung, ein Werk über die Zerstörungskraft künstlicher Intelligenz mit ebendieser zu erzeugen!

Murat ist bei uns unveröffentlicht, in Frankreich aber alles andere als ein Unbekannter.
Etwa ein Dutzend originäre Werke gehen dort auf seine Kappe, meist beim Starverlag Futuropolis.

Was allerdings geschah, als INITIAL_A in den Druck gehen sollte, werden manche als künstlerische Notbremse, manche als Zensurskandal werten: Künstlerkollegen von Murat haben auf den Verlag eingewirkt, die Veröffentlichung zu stornieren!

KI-Bilder seien Datendiebstahl und der Tod der Neunten Kunst.
Ist das so? Find ich zumindest diskutabel.

Ich betrachte die Entwicklung mit pragmatischem Fatalismus: Was der Mensch erschaffen kann, das setzt er früher oder später in die Tat um – seien das die Wasserstoffbombe, Klon-Tiere oder KI-Comics. Ich glaube nicht an Verbote im Kreativprozess.

Zunächst mal sei schnell geblättert, wer weiter scrollt, kann Thierry Murat noch kennenlernen. Als Bonus und Vertiefung hänge ich unter das Instagram-Reel noch ein langes Gespräch an: Murat in einem lesenswerten Interview mit Didier Pasamonik, erschienen in „ActuaBD“ Juni 2023.

Achtung: Das auf Französisch abgedruckte Gespräch habe ich mit der Übersetzungs-KI „deepL“ ins Deutsche übertragen lassen. Danach wurde es von mir sprachlich überarbeitet, geglättet und eingekürzt.

Introtext: Wer fürchtet sich vor Künstlicher Intelligenz (KI)?

Alle fürchten sich, angefangen bei denjenigen, die den Algorithmus entwickelt haben, der KI möglich gemacht hat. Natürlich ist auch der Bereich der Comics von dieser zeitgenössischen Fragestellung betroffen. Auf „ActuaBD.com“ haben wir immer wieder über die Ankunft der künstlichen Intelligenz in unseren Berufen berichtet und uns sogar darüber lustig gemacht. Doch heute ist Schluss mit lustig.
Thierry Murat, ein anerkannter Autor, der seit über zwanzig Jahren veröffentlicht und sich vorgenommen hatte, mit diesem neuen Werkzeug einen echten Autorencomic zu machen, hatte sein Projekt bei einem großen Verlag unterbringen können. Ein Werk, dessen Thema gerade darin bestand, einen kritischen Blick auf die Algorithmisierung der Welt zu werfen.
Nachdem er einen Vorschuss von 20.000 Euro erhalten hatte und sich das Projekt in der Endphase befand, erfuhr er, dass das Buch nicht gedruckt werden würde.
Es scheint, dass der Protest von Kollegen aus dem kreativen Bereich zu diesem Verzicht geführt hat.
Schockiert, aber nicht am Boden zerstört, beschloss der Autor, eine Crowdfunding-Aktion auf der Plattform Ulule zu starten, um das Buch zu veröffentlichen.

Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Buch gekommen, das wie eine Fortsetzung Ihres Buches „Cerveaux augmentés“ wirkt, das Sie zusammen mit Miguel Benasayag verfasst haben?

Ja, tatsächlich ist es eine logische Fortsetzung. Aber es ist ein Thema, das mich schon viel länger beschäftigt. Es könnte auf den Zeitpunkt datiert werden, an dem ich mir der Schädlichkeit sozialer Netzwerke bewusst wurde und beschloss, mich um 2019 herum von ihnen abzukoppeln. Das ist auch der Grund, warum ich den Titel „Cerveaux augmentés“ für die neue, von den Verlagen Delcourt und La Découverte ins Leben gerufene Reihe „bd/sciences humaines“ (Comics/Humanwissenschaften) vorgeschlagen habe.
Es handelt sich um einen grafischen Essay, in dem Miguel Benasayag und ich eine Diagnose der Virtualisierung der Menschheit in dieser übermäßig digitalisierten Zivilisation vornehmen, die allzu oft vergisst, die Macht der Technologie mit dem Respekt vor dem Lebenden zu verbinden. Es handelt sich um eine Art gezeichnetes Gespräch zwischen uns, das ich auf 180 Comicseiten inszeniert habe.

Was meine neue Graphic Novel INITIAL_A betrifft, so ist die kritische Dimension immer noch dieselbe, aber die erzählerische Problematik ist eine andere. Es handelt sich um eine poetische Science-Fiction-Erzählung. Eine Art philosophisches Märchen, das ich 2020 geschrieben und 2022 nach einem Treffen mit Miguel Benasayag nochmals überarbeitet habe. Miguel hat mir während unserer Zusammenarbeit so viele philosophische Denkanstöße gegeben, dass meine Soloarbeit unweigerlich davon profitiert hat.

INITIAL_A, behandelt die Idee, dass eine Zivilisation, die sich am Ende ihres Weges befindet und zu sehr algorithmisiert ist, eine neu zu erfindende Zivilisation sein kann, die durch Fiktion wieder aufgebaut werden kann. Ich habe mich in den 20 Jahren meines Comicschaffens nie mit Science-Fiction beschäftigt. Lediglich in NE RESTE QUE L‘AUBE (Futuropolis, 2021) habe ich versucht, eine Antizipationsgeschichte zu schreiben, in der es um einen unsterblichen Maler in seinem Loft-Atelier geht, der wie ein Dandy isoliert lebt und nur von seiner Haushälterin begleitet wird, die nichts anderes als eine KI ist.

Der Wunsch zu einem radikalen SF-Szenario war jedoch schon sehr lange da, sicherlich seit meiner Jugendzeit… Als ich 2020 55 Jahre alt wurde, wurde mir bewusst, wie dringend ich darüber schreiben musste. Über die Digitalisierung der Welt, die Algorithmisierung der Gehirne, die ständige und schädliche Ultravernetzung, die unseren Sturz in Richtung Zusammenbruch beschleunigt.

Ich lege meine Ängste ebenso wie meine Hoffnungen hinein und vermeide es, Gewissheiten auszudrücken… Keine Belehrungen erteilen, niemals.

Künstliche Intelligenz und ihr Einfluss auf die Welt der Zukunft ist das Thema des Albums. Sie behandeln es jedoch aus einem besonderen Blickwinkel…

Eines der Hauptthemen von INITIAL_A ist die Algorithmisierung der Welt und der Menschheit. In dieser Geschichte ist die Hybridisierung von Mensch und Maschine an ihrem Ende angelangt und wirft das Problem „Was ist Menschsein?“ auf. Wo verläuft die Grenze? Die Frage wird in der Erzählung gestellt, aber ich gebe keine Antwort. Ich bin weder Prophet noch Ideologe.
Sicher ist, dass ich für künftige Generationen auf eine – leider unvermeidliche –Hybridisierung hoffe, bei der das Leben und die Kultur die Technologie beinflussen können und nicht umgekehrt. Und nicht, wie es heute geschieht, auf binäre Weise, in einem einseitigen Prinzip der Unterwerfung ohne Gegenleistung.

Das ist sehr gewalttätig. Die digitale Zivilisation ist eine schleichende Diktatur. Gewiss ist es möglich, Diktaturen zu stürzen. Das hat uns die Geschichte gezeigt. Aber hier handelt es sich um ein globalisiertes, allmächtiges Monster, das schwer zu bekämpfen und unmöglich zu besiegen ist. Wir können es nur kolonisieren, bevor es uns vollständig kolonisiert.
Das ist meiner Meinung nach der einzige Ausweg. Und das wird durch eine vernünftige Nutzung der algorithmischen Maschinerie durch die Menschen geschehen. Und nicht umgekehrt. Verleugnung und Verbote scheinen mir nicht die besten Methoden zu sein.

In INITIAL_A spreche ich vor allem davon, wie Menschen die künstliche Intelligenz nutzen werden. Oder eher, was sie daraus gemacht haben, denn in dieser SF-Erzählung scheint es, als würden wir in eine vage unbestimmte Zukunft geworfen, auf einen seltsam vertrauten Planeten … wo uns die Stimme aus dem Off von einer Welt in der Vergangenheit erzählt. Ist diese Welt zerstört? Muss sie wieder aufgebaut werden? Ist sie anders zu erzählen?
Die Geschichte dreht sich also um eine mysteriöse Folge von dystopischen Rückblenden, die in ein Hier und Jetzt eingebettet sind, das wie eine Fabel an der Grenze zur Realität wirkt.

Hier und da liest man sehr alarmierende Dinge über die KI. Sam Altman, der Schöpfer von Open AI und ChatGPT, spricht davon, dass die Menschheit vom Aussterben bedroht sei. Ist das Ihr Gefühl?

Wir stehen vor einer großen anthropologischen Umwälzung. Es ist eine Debatte, die dringend eröffnet werden muss, ohne den Kopf in den Sand zu stecken. Von einem Aussterben zu sprechen, geht mir zu weit, aber es geht sicherlich um das Ende von etwas … von etwas Wichtigem. Aber meiner Meinung nach nicht das Ende der Menschheit.

Wir sprechen hier von bildgenerierender KI, aber es gibt auch Algorithmen, die in der Finanzbranche, beim Handel, in Beratungsfirmen, bei der Gesichtserkennung, in der zivilen Überwachung oder im Militär, bei Kampfrobotern usw. eingesetzt werden.
Nicht zu vergessen die Smartphones, die mit den Algorithmen insbesondere von Tik Tok verseucht sind und die Beziehung, die Teenager zu ihren Mitmenschen pflegen, schwer beschädigen. Die Digitalisierung ihrer Realität verändert ihr In-der-Welt-Sein.

Wenn man Ihr Album liest, hat man den Eindruck, dass das, was die Substanz der Menschheit ausmacht, das Erzählen ist. In diesem Fall scheint es Alice, der Heldin des Albums, die mit Allwissenheit spricht, jedoch zu entgehen. Was ist die Bedeutung dieser Parabel?

Ja, da haben Sie recht. Es ist ein bisschen wie eine biblische Parabel ohne den religiösen Aspekt. Die Ausgangsidee dieses Drehbuchs ist genau das: „Am Anfang war das Wort“. Die Menschheit wird seit Anbeginn der Zeit durch Fiktionen und Erzählungen aufgebaut, die der Realität einen Sinn verleihen. Die Dinge existieren, weil wir sie benennen.

In unserer Zivilisation ist alles eine Erzählung: Geld, Moral, Religion, Wissenschaft, Krieg … absolut alles. Die Menschheit existiert nur dank ihrer Erzählungen, das macht sie aus. Und tatsächlich muss Alice, die Hauptfigur in INITIAL_A, diese Erzählung, die sie verloren oder vergessen hat, wieder entdecken.
Die Stimme aus dem Off, dieses allwissende Wesen, das Sie in Ihrer Frage erwähnen, ist präsent und versucht, den Lauf der Erzählung wieder in Gang zu bringen, die wie das heilige Feuer erloschen zu sein scheint. Alice wird so zur unfreiwilligen Erzählerin, um es wieder anzuzünden… Für mich ist der Sinn dieses Dialogs zwischen Alice und „der Stimme, die spricht“ nichts anderes als ein Versuch der Selbstreflexion der Menschheit, die ihre Haut retten will.

Für Ihr Album haben Sie sich auf die Software Midjourney verlassen, die Bilder auf der Grundlage von Aufforderungen, den sogenannten Prompts, generiert. Wie sah der kreative Prozess aus?

Im Spätsommer 2022 hatte ich die Ankündigung entdeckt, dass die Midjourney-App über Discord online gestellt worden war. Die unerwartete Verbindung zwischen meiner eigenen Tätigkeit als Zeichner und dem Thema des grafischen Essays, den ich gerade mit Miguel Banasayag fertigstellte, kam völlig unerwartet.

Der Zeichner, der ich bin, loggt sich also in das Programm Midjourney ein, von dem jeder spricht, ohne es je ausprobiert zu haben. Diese leistungsstarke KI zur visuellen Generierung übersetzt Text in Bilder mit einer verblüffenden Relevanz. Das Tool ist mächtig … irgendwo zwischen Schrecken und Verwunderung. Die Grundlage jedes künstlerischen Prozesses.

Während ich an der Generation künstlicher Bilder arbeitete, suchte ich empirisch nach einer Methode, um die Algorithmen zu zähmen, um die visuelle Genauigkeit, die richtigen Beschreibungen, die Perspektiven, die Qualität einer bildlichen Form zu finden. Es war schwindelerregend… Innerhalb weniger Wochen hatte ich Tausende Bilder generiert, sortiert, ausgewählt und archiviert. Und alle waren sie einzigartig.

Mir wurde klar, dass meine Fragen in diesem Moment genau die gleichen waren wie in dem Drehbuch zu INITIAL_A, das ich zwei Jahre zuvor geschrieben hatte. Es ging mir darum, die Grenze zu erforschen … Jetzt musste ich nur noch die Seiten aufbauen. Eine nach der anderen, fünf Monate lang. In dieser Komposition der Panels suchte ich, wie ich diese Bilder untereinander in einen Dialog mit meinem Drehbuch bringen konnte. Ich ging wie üblich meinem Beruf als Comicautor nach, aber auf eine neue und unerwartete Art und Weise.

Aber wo ist die Grenze? Was ist in dieser kombinatorischen Hybridisierung menschlich und was nicht? Genau das ist das Thema des Drehbuchs… Der Ansatz ist paradox, sicherlich. Die Algorithmisierung der Welt mithilfe dieses Werkzeugs zur Bilderzeugung zu kritisieren, ist dreist, das nehme ich auf mich.

In der Art und Weise, wie ich mit der Text-Bild-Beziehung gearbeitet habe, ist etwas Unvorhergesehenes passiert, was sich natürlich auf die Erzählung ausgewirkt hat. Das Buch hätte nicht dieselbe Geschichte erzählt, wenn ich es wie üblich gezeichnet hätte. Es fühlte sich an wie eine Jazz-Improvisation, auch wenn sich der Hauptstrang der 2020 geschriebenen Erzählung nicht verändert hat. Ein 150-seitiges Buch auf diese Weise zu erstellen, ist eine ziemlich erstaunliche Erfahrung.

Midjourney wird vorgeworfen, die Bilder anderer zu stehlen, um seine eigenen zu schaffen. Wie nehmen Sie, der Sie seit über 20 Jahren ein etablierter Zeichner sind, diesen Vorwurf auf?

Ich verstehe die Ängste, die mit Fortschritten dieser Art verbunden sind. Riesige Schritte, die zu groß für unsere kurzen Beine sind. Man kann das natürlich mit der Einführung der Fotografie um 1840 vergleichen und mit dem Unmut, die dies in der Malerei auslöste, die davon überzeugt war, dass die Porträtkunst verschwinden würde.

In all diesen Ängsten, bestohlen und beraubt zu werden, steckt ein Teil Paranoia, den ich keineswegs teile. Ich habe keine Angst davor, von einer KI gelöscht oder von Algorithmen meines Stils beraubt zu werden. Ich halte das für absurd.
In den Bildern, die ich für dieses Buch generiert habe, habe ich niemandem etwas gestohlen. Oder wenn, dann von der gesamten menschlichen Produktion an Malerei, Zeichnungen und selbst den Urlaubsfotos auf Facebook von Herrn und Frau Jedermann.

Dieses Gefühl, systematisch von der Maschine bestohlen zu werden, scheint mir  übertrieben. Und natürlich verstehe ich die Angst von Künstlern. Aber den Missbrauch von Stilnähe hat es schon immer gegeben; außerdem ist Stilnähe keine Fälschung und schon gar kein Plagiat.

Auch Menschen, die ein künstlerisches Schaffen erlernen, müssen Kunst in sich aufnehmen, rezipieren und verdauen. Der Mensch tut das ein ganzes Leben lang. Die Maschine benötigt nur ein paar Wochen oder Monate des Deep Learning. Deep Learning ist Lernen, nicht Stehlen. Das zu verstehen,  tut weh, denn es läuft darauf hinaus, dass die Maschine genauso lernt wie das menschliche Gehirn.

Seit Anbeginn der Zeit nutzen Künstler andere Bilder, um ihre eigenen zu schaffen, indem sie alte Mythen neu interpretieren und die Codes der Meister vor ihnen übernehmen (z. B.  Ligne claire im Comic). Ist das bei Midjourney anders?

Es ist das gleiche Prinzip, aber es geht viel schneller. Und das ist das Erschreckende.

Der Prozess von „Ohne Bruegel kein Rembrandt, ohne Rembrandt kein Goya, ohne Goya kein Van Gogh, ohne Van Gogh kein Picasso, ohne Picasso kein Warhol, ohne Warhol kein Banksy …“ ist ein Prozess, der auf Midjourney in Sekundenschnelle abläuft, während die Menschheit Jahrhunderte gebraucht hat, um eine solche Entwicklung mitzugehen. Es ist schwindelerregend.

Aber wir werden es nicht verhindern können. Die abscheulichsten, unwürdigsten Kreationen werden mit dieser Art von Werkzeugen entstehen, und es wird immer die Schuld des Menschen sein, der die Maschine steuert. Niemals ist es die Schuld der Maschine allein. Das muss man unbedingt verstehen.
Wenn ich in der Online-Presse ein Bild sehe, das mit „©midjourney“ versehen ist, dann ist das falsch, das gibt es nicht. Die Maschine allein produziert nichts. Es ist ein bisschen so, als würde man ein Foto mit „©Kodak“ unterschreiben. Den schöpferischen Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen, ist der einzige Ausweg, um Herr über die Maschine zu bleiben und nicht umgekehrt.

Wir werden lernen müssen, zwischen dem zu unterscheiden, was Kreativität und Autorenschaft ist, und dem, was eine kommerzielle Gelegenheit oder einfach nur ein Deepfake ist, die ungesunde Freude an der Fälschung der Realität. Die Fälschung der Realität ist keine Kunst. Die Realität zu transzendieren hingegen schon. Das ist die Essenz des kreativen Akts. Wir werden endlich lernen müssen, das alles zu klären. Und das ist auch gut so, denn schon viel zu lange herrscht in unserer Postmoderne Verwirrung auf allen Ebenen.

Wir haben Autoren getroffen, die sich vehement gegen dieses Verfahren ausgesprochen haben. Sie selbst wurden wegen der Verwendung von KI „zensiert“. Ihr Verleger, der einen Vertrag mit Ihnen unterzeichnet und einen beträchtlichen Vorschuss gezahlt hatte, hat Ihr Werk zurückgezogen. Wie haben Sie diese Situation erlebt?

Ich lebe sehr schlecht mit dieser Situation. Es ist nahezu gewalttätig, wenn die eigene Kunstfamilie dir eine Veröffentlichung verbietet. Es ist ein Gefühl des Verlassenwerdens und der Ablehnung meines künstlerischen Konzepts  – ohne sich die Mühe gemacht zu haben, das Werk überhaupt zu lesen. Es ist ein Verbot, eine Annullierung, bei der es nur ums Prinzip geht. Es ist ein Prozess ohne Gerichtsverfahren. Eine pure Verurteilung. Ich sehe darin auch eine Verweigerung der Debatte. Willkürlich und totalitär. Um es kurz zu machen: Ich hatte große Angst. Zensur macht einem wirklich Angst, wenn man sie hautnah erlebt.

Manche glauben, dass diese Annullierung aus rechtlichen Gründen erfolgte, aber das ist absolut nicht der Fall. Die Anwälte der Verlagsgruppe hatten zuvor einen Monat lang die diesbezüglichen Gesetzestexte analysiert, um den Vertrag schließlich völlig legal zu unterzeichnen. Die Gründe dafür liegen woanders. Eine kleine Anzahl von Personen innerhalb des Verlagshauses konnte die Idee der Veröffentlichung dieses Buches nicht ertragen und überzeugte die Verlagsleitung, es zu stornieren.
Dies geschah ohne Dialog oder Absprache. Kurzum: Die Cancel Culture gefährdet einmal mehr die Freiheit des Denkens und der Vorstellungskraft. Dies ist umso schmerzhafter, als ich bei der Erstellung dieses Buches tatsächlich von dem Verleger, der das Projekt betreute, begleitet wurde und ich zutiefst an die Notwendigkeit des Verlagsfilters für die Existenz von Qualitätsbüchern glaube.

Sie haben sich für ein Crowdfunding entschieden, um das Buch zu veröffentlichen. Wie konnten Sie die Unterstützer überzeugen?

Durch die Ehrlichkeit meines Ansatzes und durch meine Vision kreativer Freiheit, ganz einfach. Die Menschen dazu einladen, ihre intellektuelle Komfortzone systematisch zu verlassen und die Welt in einer Reflexion über all das zu befragen, was wir  in einer beispiellosen exponentiellen und chaotischen Beschleunigung erleben.

INITIAL_A gebraucht KI in einem wahrhaft ästhetischen und philosophischen Prozess, der Inhalt und Form miteinander verbindet, um einen klaren Blick auf unsere Zukunft zu werfen. Ein Werk wie dieses zu canceln, ist keine Lösung.

Ich möchte übrigens klarstellen, dass ich kein Befürworter der KI bin, sondern lediglich ein neugieriger Mensch, ein Künstler, der sich keinem Werkzeug und keiner künstlerischen Erfahrung verschließt, solange sie bedeutungsvoll ist.

Ich erhalte viele Zuschriften von Autorenkollegen (und auch von großen und bedeutenden Comiczeichnern), die meinen Ansatz begrüßen und mir dafür danken, dass ich diese wichtige Debatte in aller Ruhe eröffne.
Ich möchte ihnen an dieser Stelle für ihre wertvolle Unterstützung danken und mich auch bei allen Mitwirkenden (Freunden, Buchhändlern, Lesern usw.) bedanken, die sich bereits für diese Publikation engagiert haben.

——————————————————————————————————————–

Schlussbemerkung:
Der Comic INITIAL_A ist nicht im Handel oder den üblichen Internetportalen erhältlich, sondern muss beim Autor bestellt werden, und zwar auf der Homepage seines Selbstverlags.

Das habe ich zum Beispiel getan und darf aus Erfahrung sagen, dass dies problemlos funktioniert. Eine Shopsoftware gestaltet einen reibungslosen Bestell- und Zahlungsprozess (z. B. PayPal) für 26 Euro zzgl. 10 Euro Auslandsporto nach Deutschland.
Die postalische Auslieferung allerdings hat über zwei Wochen gedauert. Ich vermute, Thierry Murat verpackt und verschickt die Werke eigenhändig, so wie er Zeit dafür findet …